# taz.de -- LERNEN: „Der 45-Minuten-Takt ist hirnrissig“ | |
> Als Gehirnforscher hat sich Prof. Gerhard Roth mit den neurologischen | |
> Mechanismen nachhaltigen Lernens befasst. An der Gesamtschule Ost | |
> begleitet er ein Schulreform-Projekt. Im taz-Interview erklärt er, was | |
> Schulen anders machen sollten. | |
Bild: Wie lernt das Ding? Gehirnforscher Prof, Gerhard Roth mit dem Objekt der … | |
taz: Herr Roth, was ist für Sie ein schönes Erfolgserlebnis bei Ihrer | |
Beratung der Gesamtschule Ost? | |
Gerhard Roth: Mir wurde berichtet, dass Kinder an den von mir angeregten | |
Projekt-Tagen fragen: Müssen wir jetzt schon Pause machen? | |
Was müsste die Schule anders machen? | |
Die Abfolge im 45-Minuten-Takt ist hirnrissig. Das geht auf eine Verordnung | |
eines preußischen Beamten von 1886 zurück. Da werden wahllos die Fächer | |
hintereinandergeschachtelt, Deutsch, Englisch, Mathematik. | |
Wie kann man den Unterricht sinnvoller gliedern? | |
Der Unterricht sollte fächerübergreifend stattfinden – zum Thema Winter, | |
oder Pyramiden, oder Weihnachten, egal was. Entscheidend ist, dass die | |
Präsentation des Themas die Schüler und Schülerinnen emotional anspricht. | |
Was sind Projekt-Tage? | |
Bei den Projekt-Tagen, die wir begleiten, treten die Lehrer im Team auf. | |
Sie planen gemeinsam den Tag. Sie beobachten sich, helfen sich. Und: Es | |
gibt einen Methoden-Mix. Es spricht nichts gegen lehrerzentrierten | |
Frontalunterricht, eine halbe Stunde zur Einführung, aber es muss | |
Abwechslung geben, Einzelarbeit, Pausen, Sport, Theater. Die Lehrer prüfen | |
am Anfang den Wissensstand ab. Schon das kann in 45 Minuten gar nicht | |
gemacht werden. Die Lehrer müssen wissen, wo sie die Schüler abholen | |
können. Wenn sie sich darauf konzentrieren, mit den vier oder fünf | |
weiterzumachen, die es kapiert haben, werden die anderen abgehängt. Die | |
Art, wie der Lernstoff präsentiert wird, muss eine Verbindung herstellen | |
mit der Lebenswelt der Kinder. Und er muss anschließen an das vorhandene | |
Wissen. Wenn die Kinder nichts kapieren, muss der Lehrer sich fragen, was | |
er falsch gemacht hat. | |
Ist die traditionelle Schule schlecht? | |
Schule hat zwei große Ziele. Das eine, den jungen Menschen zu einer reifen | |
Persönlichkeit zu erziehen. Niemand weiß, wie man das macht und was das | |
genau ist. Das andere ist die langfristige Verankerung von Wissen. Da ist | |
die Bilanz von Schule erschütternd. Üblich ist es, ad hoc zu arbeiten – für | |
die nächste Prüfung. Danach kann man es vergessen. Die deutsche Schule ist | |
nicht schlecht. Ich kenn die Schulen in Italien gut – das ist grauenhaft, | |
verglichen mit den deutschen Schulen. Aber dennoch sage ich: Bei uns wird | |
mit einem irrsinnigen Aufwand an Geld, Personal und Zeit relativ wenig | |
bewirkt. Die Reibungsverluste sind groß. Und die eigentliche | |
Herausforderung ist ja die Tatsache, dass ein erheblicher Teil unserer | |
Schüler in den kommenden Jahren Kinder mit Migrationshintergrund sind. | |
Was sind die Bedingungen für ein nachhaltiges Lernen? | |
Sie müssen das Gelernte systematisch wiederholen. Aber nicht in der Weise, | |
dass der Lehrer eine Zusammenfassung vorträgt, sondern in Form des aktiven | |
Erinnerns. Entscheidend ist, dass die Schülerinnen und Schüler am Ende | |
eines Schultages in ihrem Gedächtnis kramen und zusammentragen, was da | |
hängen geblieben ist. Diese Aktivierung im Zwischenspeicher ist die beste | |
Voraussetzung dafür, dass das Gelernte ins Langzeitgedächtnis übertragen | |
werden kann, in einer ruhigen Nacht. Da arbeitet das Gehirn vor sich hin. | |
Nach vier bis sechs Wochen und nach vier bis sechs Monaten muss man sich | |
für das aktive Erinnern noch einmal Zeit nehmen. Wir haben den | |
Leistungsstand verglichen mit dem Unterricht von Lehrern, die das aktive | |
Erinnern nicht praktizieren. Der Unterschied war ganz frappierend. | |
Weniger Stoff würde mehr bringen? | |
Ja. Weniger Stoff, professionell und intensiv vermittelt, hat deutlich | |
größere Chancen, behalten zu werden. Das menschliche Arbeitsgedächtnis hat | |
eine begrenzte Fassungskraft, die ist natürlich auch individuell | |
verschieden. Wenn der Lehrer das nicht berücksichtig, kommt es zu einem | |
Stau wie auf der Autobahn. Sie können Gas geben, um dem Stau zu entkommen – | |
aber das verstärkt den Stau. Wenn man Stau und Stress erzeugt als Lehrer, | |
das ist gehirnphysiologisch völlig klar, blockiert man das Lernen. Dieses | |
„Ich muss mit dem Stoff durchkommen“ ist ein großes Übel. Das weiß jeder | |
Lernforscher. | |
Aber Deutschland ist ein Land mit großer Schulreform-Geschichte. | |
Die wenigen Evaluationen solcher Reformbemühungen, die es gibt, haben | |
ergeben, dass die meisten nichts taugen. Gucken sie mal das Beispiel | |
Rechtschreibreform an. In Hamburg darf jeder Grundschüler schreiben wie er | |
will. Aber jeder Neurobiologe weiß: Wenn ein Kind seine Schrift motorisch | |
einmal gelernt hat, dann gräbt sich das ein im Gehirn, das kriegen Sie nie | |
wieder raus. Das ist gut gemeint – aber das geht so nicht. Niemand hat die | |
Experten gefragt. Die Bremer Schulreform-Bemühungen finden statt ohne jede | |
empirische Evaluation. Zum Beispiel die Inklusion. Bremen wollte unbedingt | |
der Erste sein, kann aber das Geld dafür nicht zur Verfügung stellen. Alle | |
Schulen, mit denen ich rede, sagen mir: Wir sind darauf nicht vorbereitet. | |
Viele Ihrer praktischen Vorschläge sind nicht neu. | |
Neu ist, dass ein Gehirnforscher sagen kann: Dieser Reformvorschlag ist | |
plausibel und entspricht dem, was wir über das Gehirn wissen, jener nicht. | |
„Bildung braucht Persönlichkeit“ sagen Sie – wichtig ist, dass die Lehrer | |
Persönlichkeiten sind. Warum? | |
Der Lehrer muss sich mit der Persönlichkeit der jungen Menschen befassen, | |
das wirkt Wunder. Der Lehrer muss feinfühlig, kompetent und | |
vertrauenswürdig sein. Und genau da ist er allein gelassen. Das | |
interessiert in der Ausbildung niemanden, in der Ausbildung der Lehrer wird | |
dafür nichts getan. Das Entscheidende ist aber das Vorbild der Lehrerinnen | |
und Lehrer. Das macht die Hälfte des Lernerfolges aus. Das Vorbild der | |
Lehrerinnen und Lehrer wird wichtiger in dem Maße, wie das Vorbild der | |
Eltern schwindet oder nicht wirksam vorhanden ist. Da gibt es sonst nur | |
noch die Peer-Gruppe. Hilflose Lehrer versuchen sich dann einzuschleimen, | |
vergeben nur gute Noten – ganz falsch. Das Vorbild muss gerecht und | |
verlässlich sein. | |
Was bedingt die anderen 50 Prozent des Lernerfolgs? | |
Die verteilen sich auf drei Faktoren: Intelligenz, Motivation und Fleiß. | |
Nicht nur die Motivation und der Fleiß, auch Intelligenz hängt wesentlich | |
von den ganz frühen familiären Bedingungen ab, Bildungsnähe und | |
Bildungsferne. In Deutschland regt man sich gerne darüber auf, dass die | |
Koppelung von Bildungsferne und schlechtem Schulerfolg so groß ist. Aber | |
was bringt es, darüber zu klagen? Man weiß doch, woran man arbeiten muss. | |
Wenn die Eltern nicht gut über die Schule reden, wenn die saufen und nur | |
Fernsehen gucken, wenn sie sich für ihr Kind nicht interessieren, wenn in | |
der Wohnung keine Atmosphäre ist, in der man sich konzentrieren kann, wenn | |
da keine Bücher stehen – dann ist das Bildungsferne. Woher soll der Fleiß | |
kommen? Woher die Motivation? Da muss der Staat etwas tun. Zehn Prozent der | |
deutschen Familien gelten als bildungsfern. Die Bildung beginnt nicht erst | |
beim Schuleintritt, sondern bei Null. | |
Es gibt ein Nord-Süd-Gefälle in der Schulbildung in Deutschland. Woher | |
kommt das? | |
Im Süden unserer Republik ist die Autorität des Lehrers höher. Das, was | |
Lehrer tun, wird von der Bevölkerung mehr respektiert und wertgeschätzt. Im | |
Norden diskutiert man so was wie „demokratische Schule“, selbst reguliertes | |
Lehren – da kommen Schüler auf das Schulgrundstück und diskutieren, ob sie | |
heute etwas lernen wollen oder nicht. Das hört sich toll ab, funktioniert | |
aber nicht. Auch die Hochbegabten brauchen die Anleitung. Egal was der | |
Lehrer macht – er muss vorstrukturieren und am Ende überprüfen. | |
Ihre Heimatstadt Bremen ist Pisa-Schlusslicht. Unterstützt die Bremer | |
Bildungsbehörde Ihre Reform-Vorschläge? | |
Die wollen nicht. Und ich weiß nicht, woran es liegt. Natürlich geht das | |
auch nicht als Anweisung von oben. | |
24 Jan 2015 | |
## AUTOREN | |
Klaus Wolschner | |
## TAGS | |
Bremen | |
Chancengleichheit | |
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