# taz.de -- Ein Dorf will mehr Windräder: Hier muss sich schnell etwas drehen | |
> Eine Gemeinde im Taunus hat sich in einem Bürgerentscheid für den Bau von | |
> Windrädern ausgesprochen. Es ist der Versuch, dem durch Klimawandel und | |
> den Borkenkäfer kaputten Wald eine Zukunft abzutrotzen. | |
Bild: Sterbende Fichten im Taunus. Schuld ist Trockenheit der vergangenen Jahre | |
HÜNSTETTEN taz | In Abteilung 310 des Gemeindewalds nahe dem Ortsteil | |
Wallbach steht kaum noch ein Baum. Ein paar dürre Lärchen und Douglasien | |
ragen in den Himmel. „Ich lasse sie stehen, die sollen noch Samen | |
schmeißen“, sagt Revierförster Simon Rätz. In Outdoormontur stapft er durch | |
das, was einmal ein intakter Fichtenwald war. Durch einen Kahlschlag ist | |
eine karge Lichtung entstanden. Auf einer 160 mal 80 Meter großen Fläche – | |
nur noch Baumstümpfe, Totholz und ein paar kahle Sträucher. | |
Bei der Spurensuche nach dem Verursacher der Ödnis wird der Förster bald | |
fündig. „Das ist eine Rammelkammer, die [1][bohrt der männliche | |
Borkenkäfer]“, erklärt er und zeigt auf die Aussparung in einem Baumstumpf. | |
Der sterbende Baum hat die Rinde abgeworfen. „Nach der Befruchtung | |
versteckt das Käferweibchen bis zu 30 Eier im Holz, bis zu dreimal in einem | |
Sommer ist es dazu in der Lage, dann ist der Baum fertig.“ Die Käferlarven | |
haben ihn zerfressen und die Versorgungswege des Baums zerstört, erläutert | |
der Förster. | |
Auf diesem trostlosen Kahlschlag soll schon bald eines von sechs Windrädern | |
Strom produzieren. In den zehn Ortsteilen der Gemeinde Hünstetten hat bei | |
einem Bürgerentscheid im März eine überwältigende Mehrheit von gut 76 | |
Prozent der WählerInnen dafür gestimmt. Auch der Bürgermeister und die | |
meisten Gemeinderäte haben sich für diesen Beitrag zu Klimaschutz und | |
Energiewende ausgesprochen – zumal die Erträge aus der Stromproduktion dem | |
Gemeindeetat und damit der Allgemeinheit zugute kommen sollen. | |
Dass die als „Windkraftmonster“ diffamierten Anlagen hier eine breite | |
Mehrheit gefunden heben, hat auch mit der Unterstützung durch den Förster | |
zu tun. „Rettet unseren Wald!“, hatten die Windkraftgegner vor dem | |
Bürgerentscheid noch plakatiert. Doch [2][ist dieser Wald überhaupt noch zu | |
retten] – oder, zugespitzter: Welcher Wald ist hier eigentlich gemeint? | |
Allein im Revier von Simon Rätz sind 250 von einst 280 Hektar Fichtenwald | |
abgestorben, fast 90 Prozent des Bestands. Mit seinen Waldarbeitern hat der | |
Förster in zwei Jahren 50.000 Kubikmeter Schadholz räumen müssen. „Der | |
Frustfaktor steigt“, sagt er und zeigt am Rand des Kahlschlags auf eine | |
mächtige Buche, in deren Krone erste Äste vertrocknet sind. Auf der anderen | |
Seite des Forstwegs liegt eine umgestürzte Douglasie. Die wegen Trockenheit | |
gestressten Fichten hat der Borkenkäfer bereits restlos erledigt. Wegen des | |
Wassernotstands der letzten Jahre konnte er ungehindert wüten. | |
Nun hat der Käfer mit den Fichten auch seine Lebensgrundlage zerstört. Doch | |
das könnte erst der Anfang sein. Was der Klimawandel mit seinem | |
Gemeindewald macht? „Ich kann nicht einmal sicher sagen, dass der Wald die | |
nächsten fünf Jahre überlebt“, sagt Rätz und zuckt mit den Schultern. In | |
einem solchen zerstörten Waldstück Windräder aufzustellen, um langfristig | |
das Klima zu schützen, hält er persönlich für vertretbar. „So schnell, wie | |
der Wald stirbt, können wir mit dem Aufforsten sowieso nicht nachkommen“, | |
sagt er. | |
Zum Ortstermin mit der taz sind auch Christina Redeker und Rainer Gießing | |
in den Hünstetter Wald gekommen. Im Januar dieses Jahres hatten sie sich | |
mit anderen Umwelt- und KlimaschützerInnen in der Initiative Nachhaltiges | |
Hünstetten zusammengeschlossen, knapp drei Monate vor dem vom Gemeinderat | |
für den 12. März angesetzten Bürgerentscheid zur Windenergie. Von der | |
Abstimmung sollte ein klares Signal für erneuerbare Energien ausgehen. „Wir | |
hatten die Sorge, dass vielleicht eine Mehrheit für die Windenergie | |
zustande kommt, dass aber das nötige Quorum nicht erreicht wird“, sagt | |
Redeker. In Hessen zählt ein Bürgerentscheid nur dann, wenn mindestens 25 | |
Prozent der Wahlberechtigten mit Ja stimmen. Die Wahlbeteiligung bei | |
Direktwahlen von Bürgermeistern oder Landräten in Hessen liegt meist unter | |
40 Prozent. Ein Erfolg für die Initiative war also alles andere als | |
selbstverständlich. | |
Redeker ist Rentnerin und war lange in der Öffentlichkeitsarbeit von Banken | |
und Sparkassen aktiv. Sie weiß, wie PR funktioniert. Gießing wiederum ist | |
Vorsitzender der Grünen im Ortsteil Hünstetten und sitzt im Gemeinderat. | |
„Wir Grünen und die SPD hätten gerne bereits im Kommunalparlament | |
entschieden, dass die Windräder in unserem Wald auf den ausgewiesenen | |
Vorrangflächen aufgestellt werden“, sagt Gießing. Doch die größte | |
Ratsfraktion, die auch den Bürgermeister stellt, habe auf dem | |
Bürgerentscheid bestanden. Der Beschluss dazu wurde im August letzten | |
Jahres gefasst. Da war nicht absehbar, dass sich Hünstetten schließlich | |
mit einer überwältigenden Zustimmung für Windräder im Wald entscheiden | |
würden. | |
Ohne die Kampagne der Initiative wäre das Ergebnis sicher nicht möglich | |
gewesen. „Wir haben Straßenwahlkampf gemacht, bekannte BürgerInnen für | |
Testimonials gewonnen, Informationsabende veranstaltet“, berichtet Redeker. | |
Bis zur Auszählung der Stimmzettel habe sie gebangt, sagt sie. „Wir hatten | |
kein sicheres Gefühl dafür, wie die Sache ausgeht“, räumt sie ein. Umso | |
größer war die Freude über das Ergebnis. Vor allem die Wahlbeteiligung von | |
57 Prozent war sensationell. Auch der Grüne Gießing freut sich über das | |
Ergebnis: „Wir haben allerdings durch den Bürgerentscheid ein | |
dreiviertel Jahr verloren“, schränkt er ein. | |
Bürgermeister Jan Kraus und die GemeindevertreterInnen seiner „Hünstetter | |
Liste“ wollten die Entscheidung über Windräder im Ort im vergangenen Jahr | |
aber nicht alleine treffen – deshalb das Drängen auf einen Bürgerentscheid. | |
Vor zehn Jahren seien die Verantwortlichen einer Nachbargemeinde diesen Weg | |
gegangen, sagt Kraus. Der Streit über die Windkraftanlagen sei dort | |
eskaliert, der Bürgermeister persönlich bedroht worden, sagt er der taz. | |
„Wir wollten die Menschen bei einer so bedeutenden Frage mitnehmen“, so der | |
Bürgermeister. | |
Zum Gespräch im Sitzungssaal des Rathauses hat Kraus den | |
Klimaschutzbeauftragen der Gemeinde, David Rühmann, eingeladen. Seit gut | |
einem Jahr begleitet der studierte Geograf die Nachbarstadt Idstein und die | |
Gemeinde Hünstetten bei dem Bemühen, mehr für den Klimaschutz zu tun – etwa | |
bei der Planung von Neubaugebieten oder bei der Installation von | |
Photovoltaikanlagen. | |
Vor dem Bürgerentscheid hatte es drei große Informationsveranstaltungen zum | |
Thema Windenergie gegeben. Auf der Homepage der Gemeinde sind | |
Visualisierungen abrufbar: Da drehen sich bereits virtuell die sechs | |
geplanten Windräder auf den beiden dafür ausgewählten Bergkuppen im | |
Hünstetter Wald. „Es geht um einen gravierenden Eingriff in unsere | |
Kulturlandschaft“, sagt der Bürgermeister. Deshalb sollten die BürgerInnen | |
entscheiden dürfen. | |
Im Idsteiner Land ist man stolz auf die Kulturlandschaft, die es dort gibt: | |
Wiesen, Äcker, Weiden und Pappeln säumen Bachläufe. Hügel und Täler lösen | |
sich ab, und immer wieder geht der weite Blick idyllisch über die | |
Hochflächen des nördlichen Taunus. Am Horizont drehen sich allerdings | |
rundherum längst auch Windräder. Hünstetten ist im nördlichen Taunus nicht | |
Vorreiter – sondern eher Nachzügler bei der Windenergie. | |
Es gab trotz des erfolgreichen Bürgerentscheids allerdings auch lauten | |
Widerstand gegen die Windräder. Die AfD agitierte gemeinsam mit dem lokalen | |
Einzelkämpfer Urs Gottfried Datum gegen das Projekt. Datums Plakate | |
zeichneten eine bedrohliche Zukunft. In Videos berichtete Datum „in echtem | |
Zorn“ von einem jungen Rotmilan, der in der Nachbarschaft durch Windflügel | |
„zerfetzt“ worden sei. Mit ihrem Getriebe- und Schmieröl gefährdeten | |
Windkraftanlagen die Trinkwasserversorgung, so seine Botschaft: „Das Wasser | |
wird uns ausgehen“, heißt es da, und das Landschaftsbild werde durch die | |
„monströsen“ Windkraftanlagen unwiederbringlich verschandelt. Die taz hät… | |
gerne erfahren, wie Datum heute die klare Mehrheitsentscheidung der | |
Gemeinde kommentiert. Doch mehrmalige Anfragen blieben unbeantwortet. | |
Es dürften vor allem die wirtschaftlichen Erwägungen gewesen sein, die die | |
HünstetterInnen mobilisiert haben. 130.000 Euro Pacht jährlich pro Windrad, | |
bis zu 70.000 Euro über die Umlageregelung im Erneuerbare-Energien-Gesetz | |
sind möglich. Da die meisten Flächen im gemeindeeigenen Wald liegen, | |
profitieren die Kommune wie auch die BürgerInnen davon. Im laufenden | |
Interessenbekundungsverfahren sollen zudem nur Unternehmen zum Zug kommen, | |
die auch privaten Investoren Beteiligungsmöglichkeiten bieten. | |
1.168 Windräder mit einer Gesamtleistung von 3,8 Terawattstunden drehen | |
sich inzwischen im waldreichen Hessen, Stand 31. Dezember 2022. Die | |
Windenergie kommt auch im schwarz-grün regierten Hessen nur langsam voran. | |
„Gar nicht so schlecht“ sei die Bilanz, schreibt das Ministerium deshalb | |
bescheiden. Im vergangenen Jahr wurden in Hessen gerade mal 13 | |
Windenergieanlagen fertiggestellt, und in diesem Jahr waren es bislang | |
drei. | |
Schuld ist nach der Lesart des grün-geführten Landesministeriums vor allem | |
die Gesetzgebung im Bund. „Der ab 2017 zu verzeichnende Einbruch beruht im | |
Wesentlichen auf der missglückten EEG-Novelle des Bundes, die in diesem | |
Jahr erstmals griff“, schreibt das Ministerium auf seiner Homepage. | |
Inzwischen seien die nötigen Korrekturen erfolgt. Um die | |
Genehmigungsverfahren zu beschleunigen, seien bei den Regierungspräsidien | |
zusätzliche Fachkräfte eingestellt worden. Beim Verwaltungsgerichtshof in | |
Kassel sei zudem nun eigens ein Senat eingerichtet worden, der | |
Rechtsstreitigkeiten um Windkraftanlagen zügig abarbeite, so das | |
Ministerium. | |
Den Bürgerentscheid in Hünstetten nennt der hessische Energieminister Tarek | |
Al-Wazir (Grüne) „eine klare Bestätigung der hessischen Energiepolitik“. | |
Das Ergebnis beweise, „dass sich der Ausbau der erneuerbaren Energien auf | |
eine breite Mehrheit stützt – gerade auch dort, wo die Anlagen stehen | |
sollen“, so der auch für Wirtschaft zuständige Minister zur taz. Das Land | |
Hessen hat seine Hausaufgaben tatsächlich beinahe vollständig erledigt: | |
Nicht die vorgeschriebenen 2 Prozent, aber immerhin 1,9 Prozent der | |
Landesfläche sind inzwischen als Vorrangflächen für die Windenergie | |
ausgewiesen. Vor allem Standorte im Wald sorgen vor Ort für Streit. | |
Im Hünstetter Gemeindewald sind drei Vorranggebiete für Windenergie | |
definiert. Die Exkursion der taz durch den Forst führt auch mitten durch | |
einen intakten Laubwald, der jetzt im Frühling sein erstes Grün zeigt. Wie | |
in einer Säulenhalle stehen in loser Ordnung mächtige Buchen. „Auch dieser | |
Wald ist von Menschen gestaltet worden, unberührte Natur gibt es hier | |
nirgendwo. Alles ist Kulturlandschaft, in die der Mensch eingegriffen hat“, | |
sagt Förster Rätz. | |
Auch dieser Buchenwald wäre als ausgewiesenes Vorranggebiet ein möglicher | |
Standort für Windräder, doch der Förster hat zusammen mit den | |
Verantwortlichen der Gemeinde entschieden: Hier werden keine Windräder | |
aufgestellt. | |
Der Fichtenwald, ein paar Hundert Meter Luftlinie entfernt, ist dagegen | |
bereits „geräumt“. Die letzten beiden Jahre seien verheerend gewesen: | |
Eigentlich hätten Förster Rätz und seine Waldarbeiter im Jahr 2021 gerade | |
mal 3.000 Festmeter Holz schlagen sollen, so wie jedes Jahr. Es wurden | |
tatsächlich 40.000 Kubikmeter, das ist eine Steigerung auf das 13 Fache. | |
Davon waren allein 38.000 Kubikmeter Schadholz. Im Folgejahr hatten sie den | |
geplanten Einschlag wegen des Aderlasses im Vorjahr auf 1.800 Festmeter | |
reduziert. Mit 11.000 Kubikmeter wurden es dann doch sechs mal so viel – | |
wieder vor allem Schadholz. | |
Mit dem Aufforsten kommen Rätz und sein Team kaum hinterher. In diesen | |
Tagen wollen sie in einer Bürgerpflanzaktion mit Freiwilligen aus der | |
Gemeinde 27.000 junge Douglasien und 10.000 Eichen setzen, erzählt der | |
Förster: auf einer anderen kahlen Stelle, die nicht als Vorranggebiet für | |
Windräder ausgewiesen ist. Nur an Stellen mit guten Böden und einer | |
intakten Wasserversorgung gelingt noch die natürliche Verjüngung des Walds. | |
Da wächst gleichsam von alleine ein junger Mischwald unter dem Dach der | |
hohen Bäume. Müssen dort doch einmal abgestorbene Bäume gefällt werden, | |
reicht es, die Lücken mit Setzlingen zu bepflanzen. Ein solcher natürlicher | |
Mischwald ist resistenter gegen Trockenheit, Schädlinge und Hitze. | |
Trotzdem bleibt das System fragil. Je schlechter die Böden, je dünner die | |
Erdschicht über den Schieferfelsen, desto schwieriger ist die Aufforstung. | |
Nicht überall wird sie gelingen. Sechs Windräder auf den kahlen Flächen | |
dazwischen fallen da nicht wirklich ins Gewicht. | |
23 Apr 2023 | |
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