# taz.de -- Wenn Journalist:innen streiken: Bundesweit die Nachrichten kappen | |
> Journalismus ist unterbezahlt und wird nicht genügend wertgeschätzt. Was | |
> wäre, wenn wir deswegen streiken? Ein Gedankenspiel. | |
Bild: München, 18. September 2019: Streik beim Bayerischen Rundfunk | |
Mal angenommen, Putin zieht seine Truppen aus der Ukraine ab, aber niemand | |
in Deutschland kriegt Wind davon. Warum? Weil der Journalismus streikt – | |
bundesweit. | |
Medien berichten ständig über Streiks. In der einen Woche ist es [1][das | |
Gesundheitspersonal,] in der anderen [2][das deutsche Verkehrswesen]. Aber | |
der Journalismus streikt nicht mit, zumindest nicht medienübergreifend und | |
nicht bundesweit. | |
Warum eigentlich nicht? Schließlich fehlt es Journalist:innen an Geld. | |
Und zwar so richtig. Es fehlt so viel, dass manche junge Journalist:innen, | |
die über Kita-Streiks berichten, sich die bestehenden Löhne der | |
Kita-Mitarbeitenden anschauen und seufzen, weil sie von einem solchen | |
Gehalt nur träumen können. | |
Jährlich sinken die Zeitungs- und Zeitschriftenauflagen. [3][Große | |
Medienhäuser entlassen massenweise Angestellte oder stellen langjährige | |
Magazine ein]. Selbst bei den wenigen Medien, die dicke Gewinne machen, | |
kommt bei den Journalist:innen wenig davon an. Freie teilen auf Twitter | |
Fotos ihrer Honorare, um andere zu warnen: Wollt ihr wirklich eure Zeit in | |
diese Zeilen investieren, für die paar Münzen, die sie euch anbieten? | |
## Wer berichtet, wenn nicht wir? | |
Immer wieder wird durchaus auch gestreikt, bei Gruner+Jahr, beim RBB, beim | |
Tagesspiegel und bei vielen anderen. Erst im November riefen Gewerkschaften | |
beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk zum Streik auf. Prompt redete der | |
Chefkorrespondent des Deutschlandradios seinen Kolleg:innen ins | |
schlechte Gewissen: Hier der Krieg, da die Klimakonferenz, wer soll darüber | |
berichten, wenn nicht wir? | |
Ja, wer? Drei Tage ohne Printzeitung, „Tagesschau“, Podcasts am frühen | |
Morgen, ohne Radio, digitale Artikel, journalistische Instagram-Kacheln – | |
viele Menschen besorgen sich ihre Informationen dann aus | |
englischsprachigen, österreichischen oder Schweizer Medien. Die Eröffnung | |
eines neuen Theaters in der Stadt oder ein heranziehendes monströses | |
Gewitter in Norddeutschland bleiben aber im Verborgenen – wie das | |
Fußballspiel ausgeht übrigens auch. Journalist:innen wissen das zwar | |
alles. Aber sie beißen ihre Zähne zusammen und behalten alle Informationen | |
ein paar Tage lang für sich. | |
Was sind die Folgen, wenn das Korrektiv Berichterstattung in der Politik | |
nicht mehr greift? Verabschiedet die Ampelkoalition Gesetze, ohne Rücksicht | |
auf die Meinung der Bevölkerung zu nehmen, jetzt, wo sie ihre Entscheidung | |
nicht mehr vor einer Pressekonferenz rechtfertigen muss? Das tun sie ja | |
schon, ohne dass der Journalismus streikt. | |
Aber der Ausfall von Informationsverfügbarkeit schlägt Wunden in der | |
Gesellschaft. Gerüchte und gezielte Falschinformationen kursieren und lösen | |
Angst aus. Warum fährt die Bahn nicht? Ist es Streik? Stromknappheit? Ein | |
Unfall? Oder gar ein terroristischer Angriff? | |
## Der Wert von Journalismus | |
Nach drei Tagen Leere warten Menschen, die nicht pseudojournalistischen | |
Seiten aufgesessen sind, gierig vor dem Fernseher auf Nachrichten, plündern | |
Zeitungsständer und treiben die Klickzahlen auf Nachrichtenseiten in | |
Rekordhöhen. Und hoffentlich sind sie ein bisschen froh darüber, dass es | |
ihn doch noch gibt, diesen Journalismus, der den Tag mit Informationen | |
füllt. | |
Aber Journalismus lebt nicht nur von Klicks. Irgendjemand muss ein Abo | |
abschließen, damit sich Journalist:innen ihr Frühstück leisten können. | |
In einer Gesellschaft, in der Nachrichten per Smartphone auf Knopfdruck | |
gratis abrufbar sind, ist der Anreiz aber gering, Arbeit noch zu entlohnen. | |
Gleichzeitig regen sich Menschen auf, sobald ein Artikel hinter einer | |
Paywall steht. Wie frech, Geld für einen Text zu verlangen, in den jemand | |
Arbeit reingesteckt hat. | |
Wir gewöhnen uns sehr schnell daran, dass etwas funktioniert. Der ÖPNV zum | |
Beispiel oder eine Kita. Wenn es mal nicht klappt, stehen viele völlig | |
hilflos da – warum also sollte es beim Journalismus anders sein? Ein | |
bundesweiter Streik, ein Protest, könnte etwas mehr Wertschätzung von der | |
Bevölkerung einbringen und die Notwendigkeit der Lohnerhöhung auf die | |
Tagesordnung der Arbeitgeber setzen. Aber weil Gewerkschaften unmöglich zu | |
einem bundesweiten Medienstreik aufrufen würden, Journalismus zu großen | |
Teilen auch von freien Journalist:innen lebt und Journalist:innen | |
mancher Medien aktuell gar nicht streiken dürfen, bleibt er Wunschdenken. | |
Mit diesem Widerspruch im Kopf sitzen junge Medienmacher:innen nach | |
der Arbeit zusammen und rätseln mit ihrem Feierabendbier in der Hand: Was | |
muss geschehen, damit ihre Wochenzeitung auf den Klos studentischer | |
Wohngemeinschaften ausliegt? Braucht es mehr Außenwerbung? Vielleicht doch | |
eine Paywall für Online? Die Bierflaschen sind übrigens aus dem Supermarkt | |
und nicht vom Späti. Die sind dann nicht gekühlt, aber kosten immerhin 50 | |
Cent weniger. | |
27 Mar 2023 | |
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## AUTOREN | |
Shoko Bethke | |
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