# taz.de -- Krieg in der Ukraine: Luxemburgs Legende | |
> Wo die Debatte über den Krieg zum politischen Spektakel eskaliert, gerät | |
> der gemeinsame Nenner rasch aus dem Fokus. Andersdenkende werden zu | |
> Feinden. | |
Bild: Denkmal für die ermordete Rosa Luxemburg am Landwehrkanal in Berlin | |
Mal persönlich gesprochen: Was die Positionen von Sahra Wagenknecht, Alice | |
Schwarzer und ihren Anhänger*innen anbelangt, so geht meine Reaktion | |
übers Anderer-Meinung-Sein deutlich hinaus. | |
Es bildet sich da, meiner bescheidenen Meinung nach, keine | |
Diskursgemeinschaft, die nach Möglichkeiten zum Frieden sucht, sondern eine | |
hybride, bewusstlose und ein klein wenig clowneske Gemeinschaft, die fatal | |
an „Querdenker“ und „Coronaleugner“-Szenen erinnert, das Rechte und das | |
Linke quergestrickt, die Verschwörungsphantasmen und die [1][schwarzbraunen | |
Immerdabeis], die berechtigte Opposition zur hegemonialen | |
Mainstreamerzählung und der sektenhafte Bruch mit dem Common Sense, die | |
Forderung nach Gehör und die Taubheit gegenüber Einwänden, die Mischung aus | |
Aggression und Opferstatus, die Verbindung humanistischer Anliegen mit | |
geradezu zynischem nationalem Interesse – diese Melange entzieht sich | |
meiner Vorstellung von kritischem Denken. | |
Allerdings weiß ich auch nicht so recht, wovor ich mehr erschrecken soll, | |
vor der offenbar in Kauf genommenen Attraktion, die solche Mixtur für – wie | |
sagt man? – den „rechten Rand“ darstellt, oder über die allfällige | |
[2][moralische Entrüstung], die selbst in der noch nicht vollkommen | |
heruntergekommenen Presse an Hysterie grenzt. Es geht da, scheint’s, | |
weniger um das Bemühen, zu klarerem Denken zurückzufinden, als um die | |
Konstruktion von Feindbildern und um Anlässe zur Empörung. | |
Wenn die so indizierten – wie sagt man? – „medienaffinen Personen“ frei… | |
genau das am besten gebrauchen können, nämlich von der richtigen falschen | |
Seite als „Feindbild“ behandelt zu werden, dann ist von der politischen | |
Debatte tatsächlich nur der Spektakelwert geblieben. Und den lassen sich | |
auch unsere – wie sagt man? – „Qualitätsmedien“ nicht entgehen. | |
## Schwere Mission | |
Die Verspektakelung entwickelt sich exponentiell; am Ende gibt es zwischen | |
den beiden rhetorisch aufgeblasenen Moralpredigten, die jeweils die andere | |
Seite der Unmoral bezichtigen, keine Luft mehr zum Atmen, keinen Platz mehr | |
für einen freien Gedanken. Und schnell ist dabei vergessen, dass es um zwei | |
widersprüchliche und gleichwohl miteinander verbundene Dinge geht. Darum, | |
ein Land und seine Gesellschaft gegen eine Aggression zu verteidigen, aber | |
auch darum, das Leiden der Menschen in der Ukraine zu beenden. | |
(Und, nebenbei bemerkt, es gibt auch ein russisches Leiden.) Dieser | |
Widerspruch ist nicht in einem politischen Spektakel aufzulösen, sondern | |
nur durch kluges und moralisches Denken und Handeln. Wie aber sollte das | |
gelingen, wenn wir uns das freie Denken abtrainieren lassen? Rosa Luxemburg | |
hat uns eine ebenso schöne wie schwere Aufgabe hinterlassen: „Freiheit ist | |
immer die Freiheit der Andersdenkenden.“ | |
Kleinbürgerliche Illusionen | |
In der Welt versucht [3][Sven Felix Kellerhoff], „Leitender Redakteur | |
Geschichte“, Rosa Luxemburg dieses Wort abspenstig zu machen, denn eine | |
kommunistische Frau darf sich doch nicht an unserer Vorstellung von | |
Freiheit vergreifen, nicht wahr? „Schon am 20. November 1918, der Kaiser | |
war gerade erst seit elf Tagen gestürzt, positionierte sie sich im | |
Leitartikel der Roten Fahne unmissverständlich. Die Nationalversammlung sei | |
'ein überlebtes Erbstück bürgerlicher Revolutionen, eine Hülse ohne Inhalt, | |
ein Requisit aus den Zeiten kleinbürgerlicher Illusionen vom ‚einigen | |
Volk‘, von der ‚Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit‘ des bürgerlich… | |
Staates.“ Unerhört! Bloß doof, dass sie mit ihrer Einschätzung der | |
kleinbürgerlichen Illusionen auf so schreckliche Weise recht behalten | |
sollte … | |
Welt-Leser*innen wissen so genau, was es mit der Freiheit von | |
Andersdenkenden auf sich hat, dass sie in ihren Kommentaren gern noch was | |
draufgeben, wie etwa dies hier: „R.L. und K.L. wollten unter dem Vorwand | |
einer bürgerlichen Revolution den Bolschewismus als Staats-/Regierungsform. | |
Mit Demokratie hatten sie wirklich nichts im Sinn. Das rechtfertigt | |
natürlich nicht ihre Ermordung. Doch dem politischen Treiben, ihrer | |
Agitation u.w. musste ein Ende bereitet werden.“ | |
Mal abgesehen davon, dass Rosa Luxemburg alles andere als „Bolschewistin“ | |
war – aber hier müsste man beginnen, eben genauer, fairer und „freier“ zu | |
lesen und zu debattieren –, kann man durchaus erschrecken über solch | |
rechtskonservatives Grundrauschen: Nicht gleich ermorden, die | |
Andersdenkenden, aber ihrem Treiben muss doch ein Ende bereitet werden. | |
Rosa Luxemburgs Idee der Freiheit ist schon in „normalen“ Zeiten eine ganz | |
schöne Zumutung. In Zeiten von Krise und Krieg – also mittlerweile fast | |
immer – steht sie zur Disposition; jetzt kann es nur noch um „unsere“ | |
Freiheit gehen, die von den anderen bedroht wird. Und jetzt wird die Grenze | |
zwischen Andersdenkenden und Feinden obsolet. | |
## Ringen um die richtige Erzählung | |
[4][Joseph Nye, der Prophet der „Soft Power“], behauptete, dass die Kriege | |
der Zukunft nicht durch die bessere Bewaffnung, sondern durch die bessere | |
„Erzählung“ gewonnen werden. In der Ukraine kann man sehen, wie beides | |
zusammenhängt. So wird sich jeder Gedanke und jede Meinung, die Teil einer | |
„Erzählung“ werden kann, auch direkt oder indirekt in eine Waffe in diesem | |
Krieg verwandeln. | |
Und in eine Falle: Die einen werden unter dem Stichwort „Frieden“ zum | |
(unfreiwilligen?) Komplizen des Aggressors, die anderen lassen sich unter | |
dem Stichwort „Solidarität“ in einen bellizistisch-nationalistischen Rausch | |
versetzen, aus dem sie so leicht nicht mehr herauskommen. | |
Wo hört das Andersdenken auf und wo beginnt die Feindschaft? Was ist das | |
demokratische Ringen um die „richtige Erzählung“ und was die | |
antidemokratische Schlacht von Propaganda und Gegenpropaganda? Welche | |
Grenzen setzen Vernunft und Moral der Freiheit? Ebendies sind Grundfragen | |
der Demokratie, um die es ja in diesem Krieg auch geht, um die Verteidigung | |
einer Erzählung der Freiheit. Die Bewahrung dieser Erzählung ist eine | |
politische Waffe gegen die Aggression. | |
29 Mar 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Rechte-suchen-Naehe-zu-Wagenknecht/!5914356 | |
[2] /Aufruf-von-Wagenknecht-und-Schwarzer/!5912492 | |
[3] https://www.welt.de/geschichte/article187670614/Rosa-Luxemburg-Was-Freiheit… | |
[4] https://www.youtube.com/watch?v=_58v19OtIIg | |
## AUTOREN | |
Georg Seeßlen | |
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