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# taz.de -- Nach dem Berliner Klima-Volksentscheid: „Schaden für die Glaubw�…
> Für Bernd Hirschl vom Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW)
> war das extrem ambitionierte 2030er-Klimaziel von Anfang an keine gute
> Idee.
Bild: Berlins Dächer brauchen mehr Solaranlagen
taz: Herr Hirschl, beim Volksentscheid haben bei Weitem nicht genügend
Menschen mit Ja gestimmt, dafür erstaunlich viele mit Nein – was denken
Sie, warum?
Bernd Hirschl: Nach meiner Einschätzung hat sich die Initiative
verkalkuliert. Auch viele Menschen, die für das schnellstmögliche Erreichen
der Klimaneutralität sind, konnten dem Zielwert 2030 und dem, was daraus
folgt, einfach nicht zustimmen. Zu behaupten, dass dieses Ziel erreichbar
wäre, war nicht nur aus wissenschaftlicher Sicht unseriös. Es hat der
Glaubwürdigkeit der Initiative geschadet.
Was wäre seriöser gewesen?
Nicht nur seriöser, sondern auch politisch viel klüger wäre es gewesen,
Klimaneutralität für 2035 zu fordern – dann hätte es nicht diese Spaltung
der Community gegeben und wir hätten jetzt höchstwahrscheinlich ein neues
Gesetz.
Fünf Jahre machen den Unterschied?
Dass 2035 locker möglich ist, hätte die von uns durchgeführte Studie auch
nicht unbedingt ergeben, aber es geht hier sozusagen um ein politisches
Gefühl – um die Frage: Was ist politisch vertretbar? Wir brauchen größere
Ambitionen, und ganz offensichtlich verführt ein Zielpunkt wie 2045 die
Politik nicht dazu, dringlich genug zu agieren. Wenn man auf der Strecke
feststellt, dass es noch schneller geht oder doch länger dauert, kann man
darauf reagieren.
Was wäre beim Erfolg des Volksentscheids passiert?
Es hätte zwei Optionen gegeben: Wäre das Gesetz tatsächlich scharfgestellt
worden – vor allem mit Blick auf das kurzfristige Zwischenziel von 70
Prozent bis 2025 – hätte es mit großer Wahrscheinlichkeit Preisexplosionen
gegeben. Gewissermaßen eine künstliche Berliner Inflation zusätzlich zur
bundesweiten. Menschen und Material, vermutlich auch Kapital hätten die
Anbieter gar nicht so schnell beschaffen können, um die sprunghaft
ansteigende Nachfrage zu bedienen. Insofern wäre die zweite Option bereits
sehr frühzeitig wahrscheinlich gewesen: dass das Gesetz zeitnah wieder
verändert worden wäre, bestenfalls im „Geist der erhöhten Geschwindigkeit�…
des Volksentscheids.
Um es mal konkret zu machen: Wenn ich die BesitzerInnen konventioneller
Heizungen zum sofortigen Austausch bewege – zum Beispiel mit viel
Fördergeld –, erzeuge ich Inflation?
Ja, wenn Sie die Nachfrage extrem kurzfristig nach oben treiben und das
Angebot nicht so schnell entwickelt kriegen, ist Inflation normales
Marktgeschehen. Wenn ich einen Dreimannbetrieb habe und auf einmal tausend
Anfragen nach dem Einbau einer Wärmepumpe bekomme, kann ich meine Preise
ins Astronomische treiben. Bei Solaranlagen wäre das genauso. Natürlich
kann ich auch in Brandenburg suchen, aber dass Betriebe aus Bayern unsere
Probleme lösen, ist dann doch unrealistisch.
Zumal Berlin dann Fachkräfte an anderer Stelle abziehen würde.
Das kommt noch hinzu. In Berlins Boomphasen wurde dieses Problem immer
wieder mit Arbeitsmigranten gelöst. So könnte man es sich auch künftig
vorstellen, aber das kann es ja nicht sein. Wir sind doch keine Insel, die
als einzige klimaneutral werden will. Tatsache ist, dass bei den
Fachkräften eine Verrentungswelle auf uns zukommt und es viel zu wenige
Azubis gibt. Diese Lücke wird in den nächsten Jahren immer größer. Übrigens
ist das noch ein Kostentreiber, denn diese Jobs werden nur durch
Lohnerhöhungen attraktiver. Wie das überhaupt geht, ist eine komplexe
Frage, es muss auf jeden Fall bundesweit angegangen werden. Vielleicht kann
Berlin Aus- und Weiterbildung finanzieren. Klar ist nur: Das Problem ist
schon lange bekannt, die Politik hat es aber in den letzten 10, 15 Jahren
weggelächelt.
Sie haben im Vorfeld des Entscheids oft über drohende Zielkonflikte
gesprochen. Können Sie so einen mal an einem Beispiel erläutern?
Nehmen Sie den Energiebereich, da haben wir einen technologischen
Zielkonflikt: Erdwärmepumpen sind bei Weitem die effizienteste Form, Wärme
aus der Umgebung zu ziehen, weil der Boden konstante Temperaturen hat,
während die Luft im Winter Minusgrade haben kann. Wir müssten also dafür
sorgen, dass so viele Erdwärmepumpen wie möglich installiert werden – aber
da haben wir ein massives Genehmigungsproblem: Bei jeder Erdbohrung kann
das Grundwasser gefährdet werden, aus dem Berlin sein gesamtes Trinkwasser
fördert. Bislang gab es da im Zweifel keine Genehmigung, künftig müssen wir
genauer hinschauen und technische Lösungen ausprobieren, etwa mit
Pilotanlagen. Das geht nicht von heute auf morgen. Die Initiative ging
immer von einer Art Wimpernschlageffekt aus: Augen zu, Augen auf, und alles
ist da.
Indem man sich nicht genug Zeit nimmt, befördert man ineffiziente Lösungen?
Genau. Übrigens haben Bodenwärmepumpen auch noch den Vorteil, dass ich dort
Energie im Sommer wieder einspeichern kann, das ist ein regenerierendes
System.
Sie haben 2021 im Auftrag der Senatsverwaltung für Klimaschutz die Studie
„Berlin paris-konform machen“ erstellt. Deren Fazit: Klimaneutralität
kriegt Berlin nicht vor den 40er Jahren hin. Jetzt eine hypothetische
Frage: Hätte Rot-Grün-Rot, auch auf Grundlage Ihrer Studie, alles Machbare
für schnellstmögliche Klimaneutralität getan?
Nicht alle beteiligten Parteien haben rückblickend genug für den
Klimaschutz getan. Es ist ja das fortwährende Problem der letzten
Jahrzehnte, dass das Mainstreaming in alle Senats- und Bezirksverwaltungen
nicht funktioniert, dass Klimaneutralität eben nicht höchste politische
Priorität genießt. Eine Klimaschutzsenatorin und – nur leicht überspitzt �…
ein für Klimaschutz verantwortlicher Mensch pro Senatsverwaltung und
Bezirk: das reicht einfach nicht. So kriegen Sie die großen Zielkonflikte
und Hemmnisse strukturell nicht gelöst, da braucht es eine ganz andere
Aufstellung und Governance.
Das heißt … was?
Einen echten Klimasenat, echte Klimachecks, starke Klimaschutzabteilungen
in allen Ressorts und den Bezirken, bessere Abstimmungen zwischen Land und
Bezirken, einen konkreten Fahrplan zur Abarbeitung der größten
Zielkonflikte und konkrete Zielwerte in relevanten Bereichen wären
wesentliche politische Leitplanken. Geld ist da allenfalls das notwendige
Schmiermittel.
Die künftige schwarz-rote Koalition verspricht ein Sondervermögen von 5,
vielleicht 10 Milliarden Euro. Wie weit kommt man damit?
Das hängt auch von den bundespolitischen Rahmenbedingungen ab. Die
verbessern sich aktuell teilweise, aber in einigen Bereichen geht der
Gesetzgeber zu ordnungsrechtlichen Anforderungen über. Aus Klimaschutzsicht
ist das absolut nachvollziehbar, aus Sicht der Sozialverträglichkeit aber
herausfordernd – und es kann für Berlin teuer werden. Zum anderen sollten
auf keinen Fall bereits beschlossene Maßnahmen oder Programme da
hineingebucht werden. Wir sollten mit dem Geld auf jeden Fall einen großen
Schub bei der Gebäudesanierung und bei der Energieerzeugung bekommen,
aber auch die Mobilitätswende voranbringen und das Verwaltungspersonal
aufstocken. Daneben muss das Signal an die Berliner und Brandenburger
Wirtschaft kommen: Leute, wir meinen es ernst, kauft schon mal ein,
beschafft euch Personal und Lagerkapazitäten, bildet euch weiter – jetzt.
Im besten Fall konzipiert man Teile des Fonds so, dass über Einsparungen
auch Rückflüsse generiert werden, also als revolvierenden Fonds. Das Schöne
beim Klimaschutz ist ja: Er kann sich rechnen und in der Region für
Wertschöpfung, Beschäftigung und Steuereinnahmen sorgen.
Ist Berlin überhaupt die richtige Stadt für vorbildhaften Klimaschutz? Die
Stadt, wo nichts rechtzeitig fertig wird?
Auf jeden Fall! Berlin ist ein Publikumsmagnet und hat Strahlkraft. Dass
hier manche Verwaltungsabläufe etwas länger dauern, ist ja mehr ein
deutsches Insider-Thema. Eine Anmerkung dazu: Die Initiative hat immer
gesagt, es gebe viele andere Städte, die sich auf 2030 festgelegt haben.
Das stimmt so nicht. Die Städte, die an der EU-Mission „100 klimaneutrale
Städte“ teilnehmen, tun das für Fördergelder, das ist auch völlig in
Ordnung. Aber ich kenne die Konzepte: Keine dieser Städte wird das Ziel
2030 erreichen. Dabei haben viele deutlich bessere Voraussetzungen als
Berlin.
Inwiefern?
In Mannheim und München etwa gibt es aufgrund der Geologie und des Systems
der Trinkwasserversorgung sehr viel bessere Bedingungen für
Geothermienutzung.
Birgt das Aus für den Volksentscheid auch eine Chance?
Die Chance liegt darin, nun wieder mit vereinten Kräften für
schnellstmögliche Klimaneutralität einzutreten – und sich auf die konkreten
Probleme und Lösungen dafür zu konzentrieren, statt auf Jahreszahldebatten.
31 Mar 2023
## AUTOREN
Claudius Prößer
## TAGS
Klimaneutralität
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Technologie
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Religion
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