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# taz.de -- Amok-Attentäter von Hamburg: Ein misogyner Blender
> Der mutmaßliche Todesschütze lebte in einer beruflichen Scheinwelt – und
> in einem Gedankengebäude, in dem Frauen sich unterordnen sollten.
Bild: Premiumlage am Hamburger Ballindamm: hier hatte F.s Scheinfirma ihre Sche…
Hamburg taz | Wer war der Mann, der in Hamburg am vergangenen Donnerstag
bei einer Zusammenkunft von Zeugen Jehovas [1][sieben Menschen erschossen
haben soll] und anschließend auch sich selbst? Die digitalen Spuren von
Philipp F. geben darüber einigen Aufschluss. F. präsentierte sich als
erfolgreichen Geschäftsmann. Er hatte eine professionell gestaltete und
komplett auf Englisch getextete Website, die ihn als Inhaber einer
Beratungsfirma darstellte. Laut seinem Lebenslauf auf dem Businessnetzwerk
Linkedin war er „Gründer und CEO“ der Firma, die seinen Namen trug – und
offenbar nur aus ihm selbst bestand.
Die Firma bezeichnete er als „spezialisiertes internationales Beratungs-
und Denkfabrik-Unternehmen“, auf seiner Website nannte er einen Honorarsatz
von 250.000 Euro – pro Tag. Kundenreferenzen benennt die inzwischen
gesperrte Website nicht. Die wenigen genannten Projekte korrespondieren in
auffälliger Weise mit früheren Arbeitgebern, die F. in seinem Lebenslauf
nennt. Als letzten Arbeitgeber gibt F. den Energieversorger Vattenfall an.
Dort will F. für den „Gas Desk für Kontinentaleuropa“ zuständig gewesen
sein, doch sein Engagement endete 2022 nach drei Monaten wieder. Vattenfall
teilte am Freitag mit, man prüfe noch, ob F. dort beschäftigt gewesen sei.
Es verdichtet sich das Bild von F. als einem Gernegroß, der sein
berufliches Scheitern zu kaschieren versuchte. Seine in
hanseatisch-marineblau gehaltene Website gibt eine Firmenadresse im Herzen
der Hamburger City an, am Ballindamm, direkt an der Binnenalster. Hier
haben die Firmen polierte Messingschilder. Manche von ihnen bewegen
Milliarden.
Und Philipp F.? Kein Schild, nicht mal ein Briefkasten. Nur ein gehobener
Coworking-Space, in dem F. zwar Kunde war, aber kein eigenes Büro gemietet
hatte und auch die temporär verfügbaren Arbeitsplätze nicht genutzt hat,
wie das Hamburger Abendblatt berichtet.
Die Vita von F. ist unruhig. Nur einmal seit seiner Banklehre führt der bei
seinem Tod 35-Jährige eine mehrjährige Beschäftigung auf, beim Hamburger
Energieversorger Varo. Sonst dauern seine Arbeitsverhältnisse meist nur
einige Monate. 2021/22 klafft eine Lücke von fast anderthalb Jahren. Laut
F. ein „Sabbatical“, in dem er sich „persönlichen Projekten“ widmete.
## Lobende Worte für Putin
Dabei handelte sich wohl vor allem um sein Buch: Eine englischsprachige
Schrift, deren Titel sich übersetzen lässt mit „Die Wahrheit über Gott,
Jesus Christus und Satan: Ein neuer, reflektierter Ausblick von epochalen
Dimensionen“. F. hat das 300-Seiten-Buch im Selbstverlag publiziert und für
62 Euro bei Amazon angeboten. Das E-Book war bis zum Freitag für 9,99 Euro
zu haben.
Nach seiner Amoktat liest es sich wie sein Manifest, wie sein Vermächtnis.
Es habe nach einem „Vorfall“, den er nicht näher beschreibt, eine
dreijährige persönliche Reise in die Hölle durchgemacht, prophetische
Träume gehabt, schreibt F. im Vorwort. Es scheine sogar, als sei Gott ihm
persönlich erschienen, um „die Wahrheit ans Licht zu bringen“. F. will
nicht weniger als den „Sinn der Schöpfung“ und die wichtigsten Themen der
Heiligen Schriften erklären und in Kontext mit den „epochalen Ereignissen
der Menschheitsgeschichte“ bringen. F. will damit die Uneinigkeit im
Christentum und im Islam überwinden – offenbar nicht zwischen beiden
Religionen – und Frieden zwischen „individuellen Gruppen“ schaffen.
Frieden in Europa, so Philipp F., sei nur möglich, wenn West- und Osteuropa
vereint würden. Das sei ursprünglich ein Projekt von Jesus Christus, das
tausendjährige Reich Christi, das dieser zunächst durch Adolf Hitler
verfolgt habe. Nun nehme Jesus gleichsam einen neuen Anlauf mit dem
Versuch, die Ukraine in den Westen zu integrieren. Lobende Worte findet F.
für Wladimir Putin: Er sei einer der wenigen Staatsmänner, die öffentlich
Gottes Werte verteidigten: Familie, ein starkes Militär, und den
konservativen Lebensentwurf. Der Angriff Russlands auf die Ukraine sei eine
Art Strafe Gottes dafür, dass sich ukrainische Frauen in Israel
prostituiert hätten.
## Besessen von der Frage nach der Rolle der Frau
Es ist ein wirrer Mix aus historischen Plattitüden, simplistischer
Bibelexegese und naiver Frömmelei auf kümmerlichem sprachlichem Niveau.
Hätten die Kontrolleure [2][der Hamburger Waffenbehörde] nach dem anonymen
Hinweis auf eine mögliche psychische Erkrankung auch nur einen Blick auf
das bei Amazon offen einsehbare Vorwort geworfen – sie hätten ernste
Zweifel am Geisteszustand des Autors bekommen müssen.
Regelrecht besessen muss Philipp F. von der Frage nach der Rolle der Frau
in Religion und Gesellschaft gewesen sein. Seitenweise lässt er sich
darüber aus, wie Gott an Frauen ihre Schönheit schätze, bevor er unter der
Kapitelüberschrift „Wichtige Bekanntmachung“ zu Frauen im Hier und Jetzt
kommt: Das Verhalten von Frauen habe sich in der Vergangenheit „drastisch
zum Schlechten verändert“ und könne heute überwiegend als „blasphemisch�…
bezeichnet werden. Für Gott und Jesus sei der Mann immer noch die „Krone
der menschlichen Schöpfung“, verantwortlich für das Einkommen – und „im…
das Familienoberhaupt und der Entscheider. Frauen hätten eine „dekorative“
Rolle, seien dazu da, ihre Männer zu unterstützen und könnten ihren Mann um
Rat bitten, um sich eine Meinung zu bilden. Frauen sollten ihren Ehemännern
„klar untergeordnet“ sein.
Philipp F. ist ganz offenbar mit den heute üblichen Geschlechterrollen
nicht zurandegekommen. Er hat sich einen misogynen vermeintlichen
Naturzustand des Geschlechterverhältnisses herbeiimaginiert und ihn
pseudoreligiös gerechtfertigt. Es ist kaum vorstellbar, dass er mit diesen
Vorstellungen in der Lage gewesen ist, dauerhafte Beziehungen mit Frauen
einzugehen. Einiges spricht dafür, dass er ein „Incel“ gewesen sein könnt…
ein unfreiwillig zölibatär lebender Mann, wie viele Amokläufer. Auch, dass
er in den Danksagungen zu seinem Buch, nach den Engeln aber noch vor seiner
Familie, den „ladies“ dankt, die ihn sehr gut kennen würden. Es liest sich,
als wollte er der Welt sagen: Doch, ich habe doch was mit Frauen gehabt!
Eine muss für ihn besonders wichtig gewesen sein: Gewidmet hat er seine
Schrift „einer faszinierenden, schönen, besonderen Lady“.
12 Mar 2023
## LINKS
[1] /Toedliche-Schuesse-auf-Zeugen-Jehovas/!5921091
[2] /Schuesse-auf-Zeugen-Jehovas-in-Hamburg/!5921158
## AUTOREN
Jan Kahlcke
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