# taz.de -- Angebliche Bevormundung durch Linke: Lob der Umerziehung | |
> Linke Selbstveränderung und Kritik an überholten Lebensformen und Werten | |
> ist nicht überheblich. Im Gegenteil: Sie ist ein nobles Anliegen. | |
Bild: Auch der Stahlarbeiter will nicht, dass man seine Tochter so behandelt, w… | |
Linken wird heute gern vorgeworfen, sie wollten die Menschen „umerziehen“. | |
Der Vorwurf kommt von hartleibigen Konservativen, im Chor mit | |
Rechtsextremen. Es ist ein Vorwurf, der auf subtile Weise ins Mark trifft, | |
weil die Linken darauf ja nicht „Genau, das wollen wir“ antworten können. | |
Schließlich hat der Begriff der „Umerziehung“ einen autoritären Beiklang, | |
es schwingt die totalitäre Konzeption einer „Menschenzüchtung“ mit, oder | |
zumindest deren freundlichere Schwester, der Paternalismus: Wir sind gut, | |
aufgeklärt und liberal, und ihr seid es nicht, weshalb wir euch ein | |
bisschen verbessern müssen, natürlich zu eurem eigenen Vorteil. Der Vorwurf | |
sitzt, weil viele Linke insgeheim das Gefühl haben, dass die Rechten | |
vielleicht irgendwie recht haben könnten. | |
Tatsächlich ist das nicht völlig falsch, zumindest auf den ersten Blick. | |
Denn die Linken haben sowohl eine große Tradition als auch das Selbstbild, | |
auf der Seite der einfachen Leute zu stehen, die es schwer im Leben haben, | |
nicht mit goldenen Löffeln im Mund geboren oder in verzärtelten | |
Mittelschichtsfamilien aufgewachsen sind, die den Restbeständen einer | |
traditionellen, plebejischen Kultur entstammen, und die, sagen wir es mit | |
einem Modewort, nicht immer vollständig woke sind. Und jetzt kommen die | |
Linken daher und sagen ihnen: Es ist nicht okay, wie ihr seid. | |
Zumindest haben manche Leute das Gefühl, dass die Linken das von ihnen | |
denken. Stimmt ja auch: Wer den Rassismus, die Engstirnigkeit, die Dominanz | |
[1][traditioneller Vorstellungen von Männlichkeit] und Weiblichkeit in | |
Teilen plebejischer Milieus kennt, der weiß, dass es auch die Quelle von | |
viel Leid ist, des Leids jener, die Diskriminierung, Mobbing oder | |
Tätlichkeiten ausgesetzt sind. All das führt dazu, dass die Linken | |
einerseits auf der Seite der einfachen Leute stehen, andererseits ihnen | |
aber zu verstehen geben, dass sie ihr Verhalten missbilligen. Und dann | |
kommen die Rechten und sagen diesen Gruppen: „Es ist okay, wie ihr seid.“ | |
Es ist nicht verwunderlich, dass einige diese Botschaft lieber hören als | |
Kritik an Lebensstilen und Werthaltungen. | |
Aber das ist erst der Beginn der Kompliziertheiten. Oft kommt als Ergänzung | |
der Vorwurf, dass die Linken früher noch in der konkreten | |
[2][Lebensrealität des einfachen Volkes] verwurzelt waren, ihnen heute aber | |
„von oben“ mit dem Zeigefinger kommen. Nun wollten Sozialisten, | |
Sozialdemokraten und alle anderen Linken schon früher die arbeitenden | |
Klassen einerseits ermächtigen, aber andererseits immer auch verändern. | |
Weltverbesserung und Selbstverbesserung waren stets untrennbar miteinander | |
verbunden. Der Ursprung der Arbeiterbewegung lag oft in | |
Arbeiterbildungsvereinen. Die Idee dahinter war, dass man den ungebildeten, | |
analphabetischen Arbeitern Wissen vermittelt, denn, so hieß die Parole, | |
„Wissen ist Macht“. Mit dem Wissen, Lesen und Schreiben wurden auch Werte | |
vermittelt, die an die Vernunftvorstellungen der Aufklärung angelehnt | |
waren. Die Anführer der Sozialisten legten beispielsweise den männlichen | |
Arbeitern nahe, ihren Wochenlohn nicht prompt am Samstagabend zu versaufen, | |
sie ermahnten sie, ihre Frauen anständig zu behandeln, sie propagierten | |
neue Partnerschaftsmodelle, sie hatten sogar die Frechheit, die Männer | |
aufzufordern, sich gelegentlich um die Kinder zu kümmern, damit die Frauen | |
auch in Parteiversammlungen gehen könnten. Ärger noch: Man erklärte ihnen | |
die Vorteile von Sanitärinstallationen, die Sozialisten druckten in ihren | |
Zeitungen Anleitungen, wie man sich die Zähne putzt, und dass man die | |
Wohnungen nicht nur fegen solle, sondern auch feucht mit dem Mopp wischen. | |
Mit einem Wort: Man hat die Menschen verändern wollen, und niemand wäre | |
damals auf die Idee gekommen, dass daran etwas schlecht sein könnte. | |
Es ist auch gar nichts Schlechtes daran, sich umzumontieren, was ja nichts | |
anderes heißt, als sich zu verändern. Ich bin ein anderer als vor dreißig | |
Jahren – Gott sei Dank. Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, war ich | |
zwar auch als zarter Teenager schon ziemlich woke, aber dass bestimmte | |
Verhaltensweisen, auf die ich keine großen Gedanken verschwendete, andere | |
verletzen könnten, habe ich wahrscheinlich erst nach und nach dazugelernt. | |
Mein Freund, der Falter-Chefredakteur Florian Klenk, hat unlängst in einem | |
schönen Text beschrieben, wie ihn Freundinnen und Kolleginnen allmählich | |
zum Feministen umwandelten, und dass das nicht ohne innere Konflikte für | |
ihn abging, weil er sich gelegentlich auch angegriffen gefühlt habe. | |
Selbstredend wird man nicht immerzu völlig nach seinen Werten leben, wir | |
Menschen sind nicht fehlerfrei, ich nenne das selbstironisch meine | |
„Woke-Life-Balance“. | |
Auch der oft als Klischee bemühte „typische Stahlarbeiter“ ist heute im | |
Allgemeinen feministischer als seine Vorgängergenerationen, allein schon | |
deshalb, weil er nicht will, dass man seine Tochter so behandelt, wie man | |
sie noch vor fünfzig Jahren behandelte. Da die Welt „im Fluss“ ist, sind es | |
natürlich auch die Menschen. | |
Skurril ist der Vorwurf der Rechten, weil ihnen gar nicht auffällt, dass | |
auch sie selbst die Menschen ummontieren wollen. Mit ihrer Propaganda gegen | |
Geflüchtete etwa wollen sie den Leuten den Impuls austreiben, Menschen in | |
Not zu helfen. Das Erziehungsprogramm der Rechten ist eine Einübung in | |
Verrohung. Immer schon. [3][Neoliberale] wollen das „unternehmerische | |
Selbst“, Konservative den angepassten Bürger, Nazis den gnadenlosen | |
Volksgenossen. Rechte wollen die Menschen zu Egoismus und zum Gegeneinander | |
anstacheln, Linke wollen die Geister für Solidarität und Kooperation | |
wecken. Das ist nicht kritikwürdig, im Gegenteil, es ist eine noble Sache. | |
Kritikwürdig ist nur, wenn das auf arrogante, respektlose oder gar | |
aggressive Art geschieht, da Menschen sich schwertun, selbst die | |
vernünftigsten Ideen anzunehmen, wenn sie sich angegriffen fühlen. | |
14 Mar 2023 | |
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## AUTOREN | |
Robert Misik | |
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