Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- „Die Woken“ als vermeintliche Gruppe: Ich spiele dieses Spiel n…
> Wenn abfällig über „die Postkolonialen“ oder „die Woken“ geredet wi…
> fühlt sich unsere Kolumnistin mitgemeint. Obwohl sie kein Gruppenmitglied
> ist.
Bild: Wesensvereinzelte oder doch Gemeinschaft?
Ein Leben lang dachte ich, dass ich nirgends so richtig dazugehöre – das
war manchmal ein gemeines Gefühl, aber nicht nur. Mittlerweile denke ich,
vielleicht ist es auch einfach mein Wesen, vielleicht bin ich einfach eine
Person, die niemals zu sehr Teil von etwas sein kann.
Ich wollte ein Instrument lernen, aber nicht ins Orchester. In der Kirche
habe ich früher beim Vater Unser so getan, als würde ich still mitbeten,
dabei fand ich das gemeinsame Gemurmel schon ab vom Inhalt gruselig. Auf
jeder Demo, und mag ihr Anlass noch so wichtig sein, suche ich Plakate nach
Sätzen ab, die ich so nicht unterschreiben würde und wenn die Sprechchöre
anfangen, bleibe ich stumm. Bei der Vorstellung, in einem Hausprojekt
wohnen zu müssen, womöglich noch mit Plenum, verzwirbeln sich meine Organe.
Chatgruppen mit mehr als drei Personen schalte ich stumm. Und neulich habe
ich behauptet, ich müsste darüber schlafen, als ich gefragt wurde, ob ich
Mitglied in einem Verein werden will. Musste ich aber nicht.
Ich bin darauf nicht stolz, ich frage mich in letzter Zeit sogar häufiger,
was ich als so eine Wesensvereinzelte zu irgendeinem Wandel beitragen will.
Dann teile ich ein Video, das auf den Streik der Pflegekräfte in NRW
aufmerksam macht. Na ja. Umso bemerkenswerter finde ich, dass ich
anscheinend doch dazugehöre. An ziemlich vielen Stellen. Ich merke das,
weil mich ein Verteidigungsreflex überkommt, wenn in Texten meist abfällig
von „den Postkolonialen“ die Rede ist, oder von „der woken Bewegung“ un…
weiter. Ich habe nirgends einen Mitgliedschaftsantrag eingereicht. Aber
wenn – oft mit Absicht – polemisch verallgemeinert wird, wenn sie
Bewegungen erfinden, die es so gar nicht gibt, wenn alles in einen Topf
geworfen wird, dann fühle ich mich mitgeworfen, mitgemeint. Wirklich gehört
allerdings nicht.
Zum Beispiel: Ich habe im Grundstudium gelernt, wie koloniale Herrschaft
und Gewalt bis heute in globale (Macht-)Beziehungen reichen. Ich habe sehr
oft „Intersektionalität“ gesagt, habe Texte von [1][Said], Spivak und
[2][Bhaba] gelesen und, ja, auch berechtigte Kritik an ihnen. Und wie jede
vernünftige Studierende habe ich viel davon wieder vergessen. Aber es hat
geprägt, wie ich auf die Welt schaue, so wie die soziale und kulturelle
Herkunft meiner Eltern oder die Erfindung des Internets. Das ist vielleicht
meine Art, eine Postkoloniale zu sein.
Und: Ich finde, dass man auf dem Weg zu einer gerechten Gesellschaft
zuhören und dazulernen muss. Ganz besonders (von) denen, deren
Menschenrechte und -würde immer wieder Angriffen ausgesetzt sind. Das heißt
weder, dass ich alle um mich herum zurechtweise, wenn sie keine Gendergap
sprechen, noch dass mir Klassenfragen egal sind (vgl. Intersektionalität).
Es heißt aber, dass ich es unerträglich finde, wenn Leute publizistische
Verantwortung für vermeintliche Edgyness, Selbstvermarktung oder „Humor“ in
die Tonne treten, wenn sie Richtung, Framing und Timing durchaus nötiger
Kritik unbedacht lassen oder strategisch ignorieren, und damit rechte
Narrative stärken. Das ist vielleicht meine Art, [3][eine Woke zu sein].
Zugehörigkeiten sind selten ganz fertig. Ich bin mir sicher, dann doch
nicht. Ich kenne migrantisch/postmigrantisch, aber keine Community.
Manchmal klebe ich die Wörter trotzdem aneinander. Ich melde mich im
Fitnessstudio an, gehe zu wenig hin, melde mich wieder ab und irgendwann
wieder von vorn. Und eigentlich habe ich bei all dem gar keine Lust mehr
aufzuschreiben, wer ich bin, oder wegzuschreiben, wer nicht. Mein
Entwürfeordner ist leer. Ich habe Sätze verfasst und alle wieder gelöscht,
ich will nicht mitmachen, Begriffe ihrer Bedeutung zu berauben, ich will
nicht ständig widersprechen müssen und dabei vergessen, was ich eigentlich
sagen will. Ich spiele dieses Spiel nicht mehr. Die Kosten sind zu hoch.
5 Jul 2022
## LINKS
[1] /Ein-Englaender-aus-Kairo/!703316/
[2] /Kulturtheoretiker-ueber-Obama/!5184666
[3] /Woke-Bewegung/!5862205
## AUTOREN
Lin Hierse
## TAGS
Kolumne Poetical Correctness
Postkolonialismus
Schlagloch
Kolumne Bei aller Liebe
Sprache
Kolumne Poetical Correctness
## ARTIKEL ZUM THEMA
Angebliche Bevormundung durch Linke: Lob der Umerziehung
Linke Selbstveränderung und Kritik an überholten Lebensformen und Werten
ist nicht überheblich. Im Gegenteil: Sie ist ein nobles Anliegen.
Woke Bewegung: Die Abkehr
Einige, die bisher von Wokeness profitiert haben, wenden sich jetzt ab. Das
ist eklig-opportunistisch.
Vorwurf der Wokeness: Zwischen den Stühlen
Fynn Kliemann schimpft angriffslustig über die „woke Szene“. Damit ist er
nicht allein. Aber was meint er eigentlich?
Zweifeln im Alltag: Alles zu viel und nichts genug
Unsere Kolumnistin findet, dass es hier gefährlich ist. Nicht so sehr auf
der Mauer, mehr in Gedanken.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.