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# taz.de -- Trauma nach dem Erdbeben: „Am schlimmsten abends und nachts“
> In der Türkei weicht die Angst nicht mehr von den Menschen. Erdoğan
> verspricht derweil neue Häuser, dabei mangelt es sogar an Lebensmitteln.
Bild: Die Nachbeben verstärken die Traumatisierung der Menschen in der Türkei
Antakya taz | „Das Schlimmste ist die Angst“, sagt ein junges Mädchen aus
der Stadt Antakya im Südosten der Türkei. Sie spricht zögerlich, will ihren
Namen nicht verraten. Mit ihren zwei Schwestern steht sie am vorvergangenem
Wochenende vor einem Zelt des Katastrophenschutzes, das am Rande eines
kleinen Parks aufgebaut wurde. Es ist später Abend. Mit dem Einbrechen der
Nacht kommt auch die eisige Kälte zurück, die tagsüber für ein paar Stunden
der Wintersonne weicht.
Die Angst sei im Grunde immer da, erzählt das Mädchen. „Am schlimmsten ist
es aber abends und in der Nacht.“ Sie mache seit Tagen kaum ein Auge zu,
[1][so sehr fürchte sie sich], dass es wieder passiere, sagt das junge
Mädchen. Ihre Schwestern nicken. Auch sie trauen sich kaum zu schlafen.
Mehr als zwei Wochen ist es nun her, dass sie und Millionen andere Menschen
in der Südosttürkei durch ein schweres Erdbeben aus dem Schlaf gerissen
wurden. Antakya in der Provinz Hatay ist von der Katastrophe besonders
stark getroffen. Kaum ein Haus steht noch – und wenn, dann mit Rissen in
der Fassade – oder gar keiner Fassade mehr.
Neben der Zerstörung ganzer Ortschaften, den über 40.000 Toten und der
ständigen Gefahr für die Überlebenden, aus mangelnden Hygienemöglichkeiten
an Hepatitis oder Cholera zu erkranken, ist die Angst eine der schlimmsten
Folgen der Erdbeben. Sie ist zum täglichen Begleiter geworden und wird
genährt durch die Tausenden Nachbeben, selbst wenn die nur leicht
ausfallen.
## „Wir sind panisch geworden“
Das Mädchen und ihre Familie sind letzte Woche umgezogen. Sie kamen in
derselben Provinz in einem Dorf unter, das weniger zerstört ist als ihre
Heimatstadt Antakya. Die Angst zieht mit. Einmal schickt das Mädchen eine
Textnachricht: „Heute Nacht gab es ein Erdbeben – mit der Stärke 5,1.“ I…
und der Familie gehe es gut. Diese Erschütterung war zwar deutlich weniger
stark als die ersten Beben, die ihr Haus zu einem Trümmerhaufen machten.
Aber es reicht, um das Trauma zu vertiefen. „Wir sind panisch geworden“,
schreibt sie. Als dann am Montagabend in Hatay auf einmal wieder die Erde
bebt, ist das Mädchen nicht mehr erreichbar. Stunden später wird klar: Sie
lebt, aber sie spricht nicht mehr.
Seit Tagen warnen Psychologen im der Türkei vor den psychischen Folgen der
Naturkatastrophe. Manche sind als Freiwillige ins Krisengebiet gefahren.
Dort, wo Angst zum Alltag geworden ist, wird ihre Hilfe dringend benötigt.
Angesichts der Millionen Betroffenen ist sie dennoch nur ein Tropfen auf
den heißen Stein. Aus der Erfahrung von früheren Erdbeben und der Arbeit
mit Überlebenden ist bekannt: Die Aufarbeitung kann Jahrzehnte dauern.
Die Regierung scheint eine andere Art der Bewältigungsstrategie gewählt zu
haben. Staatspräsident [2][Recep Tayyip Erdoğan] reiste am Montag in die
zwei Provinzen, in denen noch nach Überlebenden gesucht wurde. Eine ist
Kahramanmaras, die andere ist Hatay. In der 296. Stunde nach den Beben, 13
Tage später, wurden dort noch zwei Menschen lebendig aus den Trümmern
geborgen. In die Freude darüber mischt sich bei vielen Bewohnern
Bitterkeit: Die Hilfe kam erst ein paar Tage nach dem Unglück. Viele fragen
sich: Wenn jetzt noch Menschen gerettet werden können, wie viel mehr hätten
überlebt, wenn Hilfe früher gekommen wäre?
Auf die Kritik der Menschen, die wie ein Damoklesschwert über der Regierung
schwebt, geht Erdoğan nicht ein. Er schaut nach vorn. In Antakya versprach
er: „Wir werden Hatay, das Mustafa Kemal Atatürk ‚meine persönliche
Angelegenheit‘ nannte, mit all seinen Farben wiederbeleben.“ Das ist
Zukunftsmusik, die außer ihm wohl kaum jemand im Krisengebiet hört.
Auffällig ist der Bezug zum beliebten Republikgründer Atatürk. Sein Name
wirkt in Erdoğans Satz wie eine Werbeeinlage, den Stolz der Menschen auf
ihre Heimat wiederzuerwecken.
## „Wir brauchen ganz dringend Zelte“
Erdoğan rief die Bewohner außerdem auf, die Gegend nicht zu verlassen.
[3][In einem Jahr würden hier wieder neue Häuser stehen, versprach er.] Nur
wenige Stunden nach der Ansprache bebte die Erde wieder. Erdoğan war zu dem
Zeitpunkt längst weg.
Stattdessen traten am Abend und in der Nacht örtliche Bürgermeister vor die
Kameras: „Wir brauchen ganz dringend Zelte“, rief einer verzweifelt. Zwar
hat der Katastrophenschutz auch in vielen Orten der Provinz Hatay bereits
kleine Lager aufgebaut. „Das hier ist aber eine ländliche Gegend“, erklär…
er. „Die Menschen wollen ein Zelt haben und es selbst außerhalb der Städte
aufbauen und bei ihrem Vieh sein.“ Außerdem bräuchte die Bevölkerung nun
erst mal dringend Lebensmittel. Von Zukunftsvisionen und neuen Häusern
spricht er nicht. Daran mag vor Ort wohl noch niemand überhaupt denken.
21 Feb 2023
## LINKS
[1] /Erdbeben-in-der-Tuerkei-und-in-Syrien/!5913879
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## AUTOREN
Marion Sendker
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