# taz.de -- Erdbebenkatastrophe in der Türkei: Im Zustand der Ausnahme | |
> In den Erdbebenregionen im Süden der Türkei erschweren regierungstreue | |
> Helfer die Bergungsarbeiten. Kritik an Ankaras Krisenmanagement wird | |
> lauter. | |
Bild: Bild der Zerstörung: Pazarcık in der Region Kahramanmaraş nach den Erd… | |
ANTAKYA taz | Mehr als ein [1][Dutzend lokale Erdbebenhelfer] haben sich | |
zum Protest in der südanatolischen Gemeinde Pazarcık versammelt: „Zehn Tage | |
lang hat uns niemand geholfen und jetzt kommt ein staatlicher Treuhänder | |
und sagt: ‚Kümmert euch nicht mehr, wir übernehmen‘“, schimpft ein Helf… | |
in vorderster Reihe. Der Protest wurde gefilmt und in den sozialen Medien | |
veröffentlicht. | |
Die Bergungsarbeiten nach den Erdbeben vor zwei Wochen wurden – wie in | |
vielen anderen Orten auch – zuerst von Bewohnern koordiniert. In Pazarcık | |
hatte die prokurdische Partei HDP dabei eine Führungsrolle. Das ist seit | |
ein paar Tagen vorbei. Sogar eigens organisierte Hilfsgüter sollen vom | |
Verwalter aus Ankara beschlagnahmt worden sein. | |
Bisher spielten parteipolitische oder ethnische Faktoren bei den | |
Rettungsarbeiten kaum eine Rolle. So zerstritten manche Bevölkerungsgruppen | |
in der Türkei auch sind: Im Krisenfall halten die Menschen zusammen. Doch | |
längst wird auch [2][die Erdbebenhilfe politisiert.] | |
„Man blockiert uns!“, beschwerte sich die HDP-Abgeordnete Fatma Kurtulan | |
kürzlich in einem Medieninterview. Dabei habe ihre Partei in Pazarcık als | |
erste geholfen und heiße Suppe verteilt. Diese und andere | |
Solidaritätsaktionen gingen durch die sozialen Medien. Das habe dann die | |
Regierung auf den Plan gerufen, sagt Baransel Ağca. Er ist Journalist und | |
lebt aktuell in Deutschland, weil er in der Türkei wegen Terrorvorwürfen | |
vor Gericht steht. „Die Regierung dachte wohl, dass sie dagegen schwach | |
aussieht.“ Auch in den Provinzen Osmaniye und Hatay sei Ankara mit eigenen | |
Verwaltern gegen Helfende aus kommunistischen Gruppierungen vorgegangen. | |
## Ausnahmezustand verhängt | |
Möglich macht das der Ausnahmezustand für Katastrophengebiete, den der | |
türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan bereits an Tag drei nach dem | |
Beben ankündigte und den das Parlament kurz darauf offiziell beschloss. Er | |
soll drei Monate gelten und erleichtert es der Regierung zum Beispiel, mehr | |
Soldaten zu schicken und die Hilfe aus einer Hand zu koordinieren. | |
„Ziel ist es, die Folgen der Katastrophe in dieser Region zu bekämpfen“, | |
erklärt der Verfassungsrechtler Professor Osman Can. Laut dem Gesetz | |
dürften dazu notfalls auch Mittel von Privatpersonen beschlagnahmt und | |
verwendet werden. Can, der früher im Vorstand von Erdoğans | |
islamisch-konservativer AKP war, ist seit Jahren als Regierungskritiker | |
bekannt. Den Ausnahmezustand verteidigt er aber: „Wenn das Leben Tausender | |
Menschen von Minuten abhängt, müssen effektive und schnelle Mechanismen | |
aktiviert werden.“ | |
Allerdings sagt auch Can: Durch den Ausnahmezustand konnten fragwürdige | |
Maßnahmen wie die kurzzeitige Blockierung des Kurznachrichtendienstes | |
Twitter oder das Vorgehen gegen kritische Journalisten legitimiert werden. | |
Außerdem wurde der Unterricht an Universitäten landesweit für zunächst drei | |
Wochen eingestellt. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Präsident Erdoğan | |
gerade die Wut von Studierenden fürchtet, denn bisher hatte jeder | |
politische Umsturz in der Türkei seine Wurzeln in den Hochschulen. | |
Angesichts des Ausnahmezustands ist zuletzt auch die Pause des Parlaments | |
verlängert worden. Erst Ende des Monats sollen die Politiker wieder in | |
Ankara zusammenkommen. In der Opposition werden aber schon lange Rufe nach | |
Aufklärung und Verantwortung der Regierung für schlechtes Krisenmanagement | |
laut. | |
Viele Menschen im Land fürchten, dass die Regierung bemüht ist, ihr eigenes | |
Versagen vertuschen zu wollen. Die Vorwürfe gegen die Regierung in Ankara | |
wiegen schwer: Entgegen den jahrzehntelangen Warnungen von Geolog:innen | |
und Seismolog:innen soll erdbebensicheres Bauen unter der | |
Erdoğan-Regierung nicht so ernst genommen worden sein wie gesetzlich | |
vorgeschrieben. Das Baumaterial soll oft billig, platzsparend und am Ende | |
für Zehntausende tödlich gewesen sein. | |
Hinzu kommt: Vor einem Jahr entzog Präsident Erdoğan ausgerechnet der | |
Provinz Hatay den gesetzlichen Status als Risikogebiet. Gerade diese Gegend | |
haben die Beben vor zwei Wochen aber besonders getroffen. Die Hauptstadt | |
Hatays, Antakya, existiert quasi nicht mehr. | |
Nur dort und in der Provinz Kahramanmaraş sind aktuell noch | |
Rettungstrupps auf der Suche nach Verschütteten unterwegs. In den anderen | |
Gegenden wurden die Bergungsarbeiten eingestellt. Dafür sind aktuell | |
mittlerweile viele Anwälte aus dem ganzen Land vor Ort und suchen nach | |
Beweisen für illegale Bauarbeiten. Auch ihre Arbeit darf theoretisch von | |
der Regierung unter Berufung auf den Ausnahmezustand erschwert werden. | |
„Missbrauch ist möglich, weil es in diesem Ausnahmesystem keine | |
Kontrollmechanismen für Entscheidungen gibt“, erklärt Verfassungsrechtler | |
Can. Das Hauptproblem sieht er in der Korruption des Regierungssystems und | |
in der Personalisierung der Macht zugunsten des Staatspräsidenten. | |
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass in vielen Teilen des Erdbebengebiets | |
die meisten Menschen Erdoğan bei den letzten Präsidentschaftswahlen ihre | |
Stimme gegeben haben. Auch in Pazarcık war das so: Die HDP, die sich jetzt | |
vor Ort für die Interessen von Anwohner:innen und deren Autonomie | |
starkmacht, kam bei den Wahlen nur auf Platz drei. | |
Würde jetzt gewählt, sähe das sicher anders aus. Viele Menschen sind wütend | |
auf Ankara. Ein Grund dafür ist, dass Erdoğan, der sich selbst vor ein paar | |
Jahren per Verfassungsänderung zum Oberbefehlshaber der Armee machte, erst | |
sehr spät ausreichend Soldaten ins Krisengebiet geschickt hat. | |
Jetzt ist das Militär mit mehreren Einheiten in allen Provinzen vertreten. | |
Dort müssen sie zwar, wie in Pazarcık, einerseits die Arbeit der Verwalter | |
überwachen. Externe Sicherheitsanalysten schätzen aber hinter vorgehaltener | |
Hand, dass das Militär selbst mit dem Krisenmanagement der Regierung nicht | |
zufrieden sein dürfte. Für Erdoğan könnte die Präsenz der vielen Soldaten | |
damit zum Risiko werden. Der Ausnahmezustand verleiht ihm einerseits mehr | |
Befugnisse, als er ohnehin schon hatte. Andererseits schürt er aber auch | |
den Frust im Land. | |
21 Feb 2023 | |
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## AUTOREN | |
Marion Sendker | |
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