# taz.de -- Erdbeben in Türkei und Syrien: Zelte, kein Strom, kein Wasser | |
> Auch Erdbebenopfer, deren Häuser noch stehen, fürchten sich | |
> zurückzukehren – zu groß ist das Misstrauen gegen die staatlichen | |
> Gebäudeinspektoren. | |
Bild: Zwischen den Trümmern eines Gebäudes in Adana Familienfotos, Aktenordne… | |
ADANA/BEYOğLU taz | Mit acht weiteren Menschen sitzt Sezen um ein Holzfeuer | |
und knackt Sonnenblumenkerne zwischen den Zähnen. Die Schalen wirft sie in | |
die Flammen, die in einem abgeschnittenen Metallfass lodern. Hinter ihr | |
steht ein Zelt, eines von 260 in diesem provisorischen Lager in der | |
südosttürkischen Stadt Adana. | |
Ihr Leben, wie Sezen und ihr Mann es kannten, endet, als sie am 6. Februar | |
kurz nach 4 Uhr morgens vom Beben der Erde – [1][7,8 auf der Richterskala] | |
– geweckt werden. Die beiden warten, bis der neunstöckige Wohnblock, in dem | |
sie leben, aufhört zu wackeln, dann laufen sie nach draußen. Nach einem | |
langen Gespräch mit den ebenfalls aus ihren Wohnungen geeilten Nachbarn | |
kehren sie in ihr Zuhause zurück. Als das Gebäude gegen halb 2 Uhr | |
nachmittags erneut zu beben beginnt, rennen sie die Treppen hinunter ins | |
Freie – diesmal, ohne zu zögern. | |
Als sie unten ankommen, hören sie, wie ein 14-stöckiges Gebäude, weniger | |
als hundert Meter von ihnen entfernt, zusammenbricht. Es stürzt mit solcher | |
Wucht in sich zusammen, dass Teile der Mauer über die Straße fliegen und | |
die Wand eines gegenüberliegenden Parkplatzes einreißen. Zehn Menschen | |
sollen in dem Gebäude ums Leben gekommen sein. Wie Sezen und ihr Mann | |
hatten sie geglaubt, nach dem ersten Beben wieder sicher in ihre Wohnungen | |
zurückkehren zu können. | |
Die beiden leben seitdem in einem Zelt. [2][Inspektoren] haben zwar ihr | |
Gebäude überprüft und festgestellt, dass die Risse im Mauerwerk nur | |
oberflächlich sind. Es wurde als „leicht beschädigt“ eingestuft, es soll | |
also sicher sein. Die Bewohner dürften eigentlich wieder darin leben. Sezen | |
besucht ihr Zuhause, um Wäsche zu waschen und zu putzen. Lange bleiben will | |
sie aber nicht. „Ich habe Angst“, sagt sie. 20 Tage wollen sie so | |
ausharren, bis sie dem Gebäude wieder glauben vertrauen zu können. | |
## 25.000 Gebäude wurden bei dem Beben zerstört | |
Der türkische Umweltminister Murat Kurum hat an die Bürgerinnen und Bürger | |
appelliert, nach Hause zurückzukehren, wenn von den Inspektoren | |
festgestellt wurde, dass ihre Wohngebäude „wenig oder gar nicht beschädigt�… | |
sind | |
Die meisten Häuser, die in Adana eingestürzt sind, befinden sich im Norden | |
der Stadt. Direkt darunter verläuft die Verwerfungslinie. Wer nachts den | |
Turgut Özal Bulvarı entlangfährt, eine breite Straße, die sich durch den | |
Norden Adanas zieht, sieht: In den Hunderten von Wohnblöcken in diesem Teil | |
der Stadt sind nur wenige Lichter an, viele Gebäude bleiben völlig dunkel. | |
Die Bewohner trauen ihnen nicht. Und auch den Inspektoren trauen sie nicht. | |
Dass bei dem Beben etwa 25.000 Gebäude zerstört wurden, zeigt den | |
Bewohnern: Entweder haben die Inspektoren schon vor dem Beben ihre Arbeit | |
nicht gemacht, oder die Inspektionsstandards sind zu niedrig. | |
Das mangelnde Vertrauen in das Inspektionssystem bestätigt Gamze, eine von | |
Sezens Nachbarinnen und Nachbarn im Zeltlager. Wie Sezen möchte auch sie | |
ihren Nachnamen nicht veröffentlich sehen, die beiden fürchten | |
[3][Repressalien der türkischen Regierung.] Inspektoren hätten ihren | |
Wohnblock eine Woche nach den Beben überprüft und für sicher befunden. Sie | |
fügt hinzu: „Selbst wenn die Inspektoren gleich am Tag nach den Beben | |
gekommen wären, wären wir nicht in unsere Wohnung zurückgekehrt. Wir hatten | |
Angst vor einem dritten oder vierten Beben.“ | |
## Wer es sich leisten kann, geht weg | |
Wer die Straßen im türkischen Teil des Erdbebengebiets, das neben der | |
Osttürkei auch Teile Syriens umfasst, entlangfährt, sieht immer wieder | |
Lastwagen mit offenen Laderäumen, darin Matratzen, Waschmaschinen, | |
Kommoden, Koffer. „Sie fahren in ihre yazlıks“, sagt ein Mann aus Adana. | |
Gemeint sind die Sommerhäuser, die einige Türkinnen und Türken in den | |
Küstenstädten am Mittelmeer besitzen. | |
Nach Angaben der Regierung haben mehr als zwei Millionen Menschen das | |
Katastrophengebiet, in dem vor dem Beben 13,5 Millionen Menschen lebten, | |
verlassen. Viele können es sich aber nicht leisten wegzugehen, ins Ausland | |
oder andere Teile der Türkei – insbesondere die, die auf dem Land leben und | |
Vieh halten. | |
In Beyoğlu, einer Kleinstadt mit 13.000 Einwohnern in der Provinz | |
Kahramanmaraş, sind die Straßen rissig, die Ampeln funktionierten nicht. In | |
Beyoğlu gibt es keine hohen Wohnblöcke, es reiht sich Haus an Haus. Etwa | |
jedes dritte ist eingestürzt oder so stark beschädigt, dass es kaum sicher | |
sein kann, darin zu leben. Die Menschen campieren in ihren Gärten zusammen | |
mit ihren Hühnern und gelegentlich einer Kuh. Ein örtlicher Vorsteher zählt | |
die Probleme der Bewohner Beyoğlus auf: kein Strom, kein fließendes Wasser, | |
zu wenige Zelte und Hygieneartikel. | |
Eine Familie, die bisher im Freien geschlafen hat – zwei Mitglieder in der | |
Kabine eines Lastwagens, drei unter einem Dach aus Plastikplanen –, baut | |
ein Zelt auf. Zur Verfügung gestellt hat es eine benachbarte Gemeinde. Auf | |
einem Holzherd kochen sie. Wer auf die Toilette muss, macht sich auf zur | |
Moschee, die einen Wassertank besitzt. Ihre Handys lädt die Familie an | |
einer Tankstelle, die über einen Stromgenerator verfügt. | |
## „Wir finden jeden Tag mehr Leichen“ | |
Ali Karaçay, ein Bewohner der Stadt, erzählt: Beyoğlu fühle sich von der | |
staatlichen Katastrophenschutzbehörde Afad übersehen. Die habe zwar einige | |
Zelte zur Verfügung gestellt, aber nicht genug. Die Decken und | |
Wasserflaschen, die sich im Garten hinter ihm stapeln, stammen von | |
Stadtverwaltungen in anderen Teilen der Türkei, die Lastwagen mit | |
Hilfsgütern in das Katastrophengebiet schicken. | |
Die Lastwagen sind Teil des derzeitigen Straßenbilds von Beyoğlu. Unter | |
ihren Windschutzscheiben hängen Banner, die angeben, woher die Lieferungen | |
stammen: Mardin, Samsun, Tokat, Trabzon – Städte, die Hunderte Kilometer | |
von Beyoğlu entfernt liegen. | |
Die Erdbeben hätten hier mehr als hundert Menschen das Leben gekostet, | |
schätzt Karaçay. Ein Vorsteher der Stadt, Ejder Oğul, will keine Zahlen | |
nennen, sagt aber: „Wir finden jeden Tag mehr Leichen.“ Tote geborgen und | |
Überlebende gerettet hätten die Einwohner, nicht die Afad, sagt Karaçay. | |
Auch fast zwei Wochen nach dem Beben gibt es in Beyoğlu noch kein | |
fließendes Wasser. Sich und ihr Geschirr waschen die Menschen mit | |
abgefülltem Wasser aus Flaschen. Die Stromversorgung ist zwar in etwa 80 | |
Prozent der Stadt wiederhergestellt, doch die provisorischen Behausungen | |
müssen erst mal daran angebunden werden. Das Hauptproblem sei derzeit aber, | |
die Zelte zu beheizen, sagt Karaçay. Die Temperaturen fallen nachts auf bis | |
zu 3 Grad, den Menschen fehlt es an Öfen. | |
## Keine Lust auf Plattitüden | |
Etwa 175 Kilometer östlich von Beyoğlu liegt Adıyaman, eine Stadt mit etwa | |
270.000 Einwohnern. Sie erlangt am 14. Februar landesweite Bekanntheit, als | |
eine [4][Reporterin von Habertürk TV], einem regierungsnahen Sender, vor | |
einem eingestürzten Gebäude eine Livesendung beginnt. Eine Frau in | |
Sanitäterinnenuniform geht darin auf die Reporterin zu, zieht deren | |
Mikrofon zu sich und ruft in die Kamera: „Sie haben Adıyaman drei Tage lang | |
seinem Schicksal überlassen. Wir hörten Menschen unter den Trümmern um | |
Hilfe rufen. Wir hielten uns die Ohren zu, um sie nicht zu hören. Alle | |
kamen drei Tage zu spät. Die Menschen unter den Trümmern starben vor Kälte | |
und Hunger.“ | |
Sie fährt fort: „Der Präsident soll herkommen, wenn er es ertragen kann.“ | |
Die Reporterin versucht sie zu trösten: „Ich kann Sie verstehen.“ Doch die | |
Sanitäterin hat keine Lust auf Plattitüden: „Dieser Schmerz scheint nur | |
unser Schmerz zu sein. Sie haben uns im Stich gelassen.“ Und: „Unter diesen | |
Betonblöcken und Trümmern liegt unser Blut und das Blut der ganzen Türkei. | |
Wo ist das Krisenmanagement? Jeder hier ist gestorben. Türkei, wach auf!“ | |
Die Kommentare der Sanitäterin decken sich mit einer Erklärung der | |
zivilgesellschaftlichen Gruppe Feminist Solidarity for Disaster Relief: Die | |
ersten Rettungskräfte, schreibt diese, hätten Adıyaman am Mittwoch, den 8. | |
Februar, also am dritten Tag der Katastrophe erreicht – ein | |
Freiwilligenteam, keines der Katastrophenschutzbehörde Afad. Die | |
Zivilorganisation gibt an, dass die inoffizielle Zahl der Todesopfer in | |
Adıyaman inzwischen höher als 11.000 sei. | |
Das Onlinemedium Turkey recap zitiert eine Frau am Ort eines eingestürzten | |
Gebäudes in Adıyaman so: „Wir haben drei Tage lang Geräusche aus dem | |
Inneren gehört, aber jetzt sind sie verstummt.“ Viele Einwohner der Stadt | |
glauben, so berichtet Turkey recap, dassmehr Menschenleben hätten gerettet | |
werden können, wenn sie früher Hilfe und Aufmerksamkeit bekommen hätten. | |
Aus dem Englischen von Lisa Schneider | |
19 Feb 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.reuters.com/world/middle-east/why-was-turkey-syria-earthquake-s… | |
[2] /Nach-dem-Erdbeben-in-der-Tuerkei/!5912691 | |
[3] /Berichterstattung-ueber-Erdbeben/!5912594 | |
[4] https://www.evrensel.net/haber/482258/adiyamanda-hukumete-tepki-gosteren-sa… | |
## AUTOREN | |
Jasper Mortimer | |
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