# taz.de -- Toxische Männlichkeit und Migration: Orientalische Luftschlösser | |
> Das Problem mit toxischer Männlichkeit wird gern auf Migranten abgewälzt. | |
> Dabei ist es ein umfassendes, das nur mit Feminismus zu lösen ist. | |
Bild: Jeder dritte Mann in Deutschland hat ein sexistisches Weltbild | |
Nach der Silvesternacht die Empörung. Deutschland gerät mal wieder aus den | |
Fugen, und die Verantwortlichen sind schnell ausgemacht. Die Debatten über | |
junge Männer aus der vermeintlichen Parallelgesellschaft, die aus der | |
Bildungsferne ins Leben blicken, sind schon immer mühselig gewesen. Auch | |
jetzt wieder. Wenn Friedrich Merz von „[1][kleinen Paschas]“ redet, die | |
sich in den Schulen nicht im Griff hätten, Jens Spahn von „kulturell | |
vermittelter toxischer Männlichkeit“ spricht, dann ist eine Intervention | |
notwendig: für eine antirassistische und feministische Neuausrichtung von | |
Männlichkeitsperformance. | |
Denn die Debatten verlieren sich in der unermüdlichen Wiederholung | |
bekannter Vorwürfe, weißer Ignoranz und bewusstem Desinteresse von | |
Politiker*innen an Lebensrealitäten marginalisierter Menschen in | |
Deutschland. Das Credo der Mehrheitsgesellschaft: Manche Männlichkeiten | |
sind einfach nicht dazu gemacht, sich zu verändern. | |
Nicht in der Lage, sich aus ihrer vermeintlich festgefahrenen, | |
antifeministischen Kultur und Religion zu befreien, die ihnen ultimative | |
toxische Männlichkeit vorlebt. Die Debatten nach den [2][Silvesternächten | |
in Berlin] oder Köln sind mittlerweile verankerte Politik. Racial | |
Profiling, Rufe nach Law and Order und auch die rassistischen Morde von | |
Hanau zeigen das nur zu deutlich. | |
So groß das Problem ist, so einfach scheint die Lösung: Toxische | |
Männlichkeit wird in alter deutscher Tradition auf Migrant*innen | |
abgewälzt. Wer so denkt, hat nichts kapiert. Toxische Männlichkeit kann | |
nicht durch Recht und Ordnung „gelöst“ werden, es braucht zunächst ein | |
Eingeständnis: Das Patriarchat betrifft auch Männer, und durch sie viele | |
andere Menschen in ihrem Umfeld, die Gewalt erfahren. Mich macht es müde | |
und wütend, dass das noch immer nicht überall angekommen ist. | |
## Toxische Männlichkeit als gesamtgesellschaftliches Problem | |
Wer Männlichkeit verändern will, muss das als gesamtgesellschaftliches | |
Problem begreifen. [3][Männlichkeitsvorstellungen] ändern sich ständig | |
– oft auch zum Guten: Immer mehr Männer sprechen öffentlich über die | |
Auswirkungen von Männlichkeit auf ihre Gesundheit und ihr Umfeld, wie der | |
Fußballer Timo Baumgartl nach seiner Hodenkrebserkrankung. Selbst | |
Bundeskanzler Scholz spricht von sich als Feminist. Vielen Männern scheinen | |
auch durch #aufschrei und #MeToo zumindest ein wenig die Augen geöffnet | |
worden zu sein. | |
Vieles bewegt sich aber auch in eine Richtung, die eigentlich der | |
Vergangenheit angehören sollte. Im März 2022, kurz nach Beginn des | |
russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, sprach Tobias Haberl in einem | |
Spiegel-Artikel davon, dass „Pesto nicht vor Pistolen“ schütze. In den | |
Medien wurden plötzlich Stimmen lauter, man müsse die Wehrpflicht wieder | |
aufleben lassen, denn die Verweichlichung würde nicht nur den Männern | |
schaden, im Zweifel auch Deutschland und Europa. | |
Das klingt nach Björn Höckes „Männlichkeit wiederentdecken“, nur in | |
bürgerlich. Misogyne Figuren wie der Influencer Andrew Tate und der | |
Psychologe Jordan Peterson erhalten online viel Zuspruch. Davon profitiert | |
die AfD, die Hort vieler „Männerrechtler“ ist. Und selbst Rapper wie | |
Kollegah gaben „Alpha-Mentoring“-Coachings für verunsicherte Männer. | |
## Jeder dritte Mann hier hat ein sexistisches Weltbild | |
Die [4][Ergebnisse der Leipziger Autoritarismus-Studien 2022] | |
unterstreichen diese Entwicklung. Jeder dritte Mann in Deutschland hat ein | |
geschlossenes, antifeministisches und sexistisches Weltbild. Kaum Aufregung | |
darüber, im Gegenteil: Einfache Antworten für komplexe Sachverhalte zu | |
finden, ist bequem, denn das heißt: An Männlichkeit muss sich nichts | |
ändern, nur die Männlichkeit nichtweißer Männer ist ein Problem. | |
Deutschland spricht in kolonialrassistischer Kontinuität oft und gern von | |
Menschen wie mir und dem „Orient“ – als sei er ein Familienmitglied, mit | |
dem ich jeden Tag telefoniere, um zu beraten, wie ich heute Deutschland auf | |
den Sack gehen könnte. Der Orientalismus ist ein Luftschloss, auf das eine | |
weiße Mehrheitsgesellschaft gerne blickt, wenn sie erklären will, warum | |
ich, durch Religion und Kultur gefangen, hinter deren Mauern zu stecken | |
scheine. Männlichkeiten sind auch immer Ergebnis sozialer Bedingungen, aber | |
das scheint wenig zu interessieren. Unsere Männlichkeiten sind lediglich | |
Probleme, die es zu beseitigen gilt. | |
Als ich zu Männlichkeiten zu schreiben begann, lag für mich der unmögliche | |
Versuch darin, mich als cis-hetero-türkisch-muslimischer Mann zu begreifen, | |
der trotz und wegen Deutschland zu einer Männlichkeit gedrängt und geformt | |
wurde, die viel Spaß daran hatte, sie zu performen, sie bisweilen zu lieben | |
und Sicherheit darin zu finden. Damit meine ich nicht nur Fußball spielen | |
oder zum 16. Geburtstag Shisha rauchen, sondern die Selbstverständlichkeit | |
zu entwickeln, permanent Grenzen zu überschreiten. | |
## Kampf gegen Rassismus ist auch ein feministischer Kampf | |
Wir brauchen keine neue Männlichkeit, bitte nicht, aber zumindest eine, die | |
in den Spiegel schaut und merkt: Wir stehen vor einem Problem und müssen | |
uns als Gesellschaft verändern. Das heißt aber auch zu realisieren, dass | |
mit Rassismus noch nie feministische Utopien gelungen sind. | |
Alle Männer, und besonders „migrantische“, müssen verstehen, dass | |
intersektionaler Feminismus auch für sie ein Ausweg sein kann. Weniger | |
Druck verspüren, ständig hart sein zu müssen, weniger gewalttätig zu sein, | |
mehr Zärtlichkeit in sich und mit anderen finden. Gleichzeitig gehört der | |
Kampf gegen Rassismus eben auch dazu und auch, Teil feministischer Kämpfe | |
zu werden. | |
Unsere Männlichkeiten werden politisiert, das heißt, wir müssen erst recht | |
politisch werden – für eine feministische Zeitenwende, für die Gesellschaft | |
und uns selbst. Gegen Luftschlösser, für eine postmigrantische, | |
feministische Zukunft, die Männlichkeit in die Pflicht nimmt. Denn wir alle | |
haben ein Problem mit dieser Gesellschaft, verändern können wir sie aber | |
nur gemeinsam. | |
7 Mar 2023 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Fikri Anıl Altıntaş | |
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