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# taz.de -- Ampelkoalition zögert bei Long Covid: Kurzsichtig bei Langzeitfolg…
> Laut Schätzung leidet jeder zehnte einst Corona-Infizierte an Long Covid.
> Der Forschungsbedarf ist groß. Doch die Regierung agiert allenfalls
> halbherzig.
Bild: Protest mit Feldbetten und Fotos von Betroffenen, die unter Long Covid le…
Berlin taz | Lange Zeit kannte Anna Brock das Gesundheitssystem vor allem
aus der Perspektive einer Medizinerin. Doch in der Coronapandemie, nachdem
sie sich selbst mit dem Virus infiziert hatte, ändert sich das schlagartig:
Plötzlich wird aus der Ärztin Brock eine Patientin, die dringend Hilfe
sucht – und diese nur schwerlich findet.
Doch der Reihe nach: Anfang 2021 steckt sich Brock bei einer Visite in
einem Altenheim mit Covid an, 14 Tage lang ist die Internistin aus
Filderstadt bei Stuttgart schwer krank. In Woche drei fühlt sie sich
erholt, in der vierten Woche sind die Beschwerden wieder da, heftiger als
zuvor: Brock ist erschöpft, leidet an Muskelschwäche, hat kognitive
Aussetzer. „Ich wusste nicht mehr, dass man ein Messer braucht, um ein Brot
zu schmieren“, sagt die 43-Jährige heute.
Als es ihr im Sommer endlich wieder gut geht, kommen die Beschwerden nach
einer Corona-Impfung zurück. Es folgt ein monatelanges Auf und – vor allem
– Ab. Später ist Brock krankgeschrieben und wird es zehn Monate lang
bleiben. Die sonst so sportliche Frau schafft es kaum die Treppe hoch und
zeitweise nicht einmal aus dem Bett.
Sie erlebt, was viele andere Long-Covid-Patienten (laut Fachzeitschrift
Nature Reviews Microbiology folgt Long-Covid auf mindestens 10 Prozent der
Covid-Infektionen) auch beschreiben: „Ich bin von Arzt zu Arzt gegangen
und wurde nicht ernst genommen, nirgendwo mit spezielleren
Diagnoseverfahren untersucht.“ Dennoch will sie niemandem einen Vorwurf
machen: „Ich war ja auch nicht besser“, sagt Brock, „den Kollegen fehlte
einfach das Wissen, die waren komplett hilflos.“
Tatsächlich gibt es für postvirale Erkrankungen weder bewährte
Diagnoseverfahren noch Standardterapien. Zudem ist unklar, was Long Covid
oder ähnliche PostVac-Symptome nach einer Impfung auslöst – und vor allem:
was dagegen hilft. Andererseits gibt es längst Hinweise auf
Krankheitsmechanismen und beinahe etablierte Off-Label-Therapien. Doch
weil klinische Studien fehlen, kaum ein Arzt das Risiko eingeht, stehen sie
den wenigsten zur Verfügung. Nicht selten bleiben Schwerkranke hilflos
zurück.
## 13.000 Euro aus eigener Tasche
So wie Ärztin Brock zunächst. Am Ende ihrer Ärzte-Odyssee findet sie
schließlich einen Ansatz. Als sie ihr Blut untersucht, entdeckt sie
Autoantikörper, Antikörper also, die sich gegen eigenes Gewebe richten. Sie
wagt einen experimentellen Therapieversuch: eine Immunadsorption, die die
Autoantikörper aus ihrem Blut wäscht. Nach und nach geht es ihr besser,
auch wenn es ein teuer erkaufter Erfolg ist: 13.000 Euro zahlt sie dafür,
aus der eigenen Tasche.
Die wenigsten Betroffenen können sich das leisten. Dass die Studien zu Long
Covid nur langsam vorankommen, ist aus deren Sicht ein politisches
Versäumnis. In den USA hatte eine Regierungsbehörde bereits Anfang [1][2021
gut 1 Milliarde US-Dollar für die Long-Covid-Forschung angekündigt] –
Deutschland damals noch nichts.
Seither wird mehr gekleckert als geklotzt. Täglich appellieren Menschen in
den sozialen Medien an Forschungsministerin Bettina Stark-Watzinger, mehr
Geld bereitzustellen. Weil die FDP-Politikerin für Grundlagen- und
Therapieforschung zuständig ist, fordert die Betroffenenorganisation von
ihr „eine massive Forschungsagenda“. Vor allem für biomedizinische
Forschung habe der Bund bisher nur „einen sehr geringen Betrag“
bereitgestellt.
14 Millionen Euro sind es. Die ersten 4 Millionen Euro hatte das
Bundesforschungsministerium (BMBF) im September 2021 als Teil einer
[2][6,5 Millionen-Euro-Förderung für Long-Covid-Projekte] freigegeben.
Weitere 10 Millionen Euro folgten im vorigen Jahr – doch erst auf Beschluss
des Bundestages, dem einiger öffentlicher Druck voranging.
Umso größer sind nun die Hoffnungen, die auf dieser Förderung ruhen. Sie
reicht für sechs klinische Studien, verantwortet an der Berliner Charité.
Dazu werden Mittel erprobt, die sich für andere Krankheiten bereits bewährt
haben, zum Beispiel ein Medikament gegen Durchblutungsstörungen oder
Entzündungshemmer wie Cortison. Im Idealfall gibt es im Jahr 2024
Notfallzulassungen für Mittel gegen Long Covid.
Bis dahin muss die Charité herausfinden, welche Arznei für welche der teils
sehr verschiedenen Untergruppen von Long Covid geeignet ist – und welche
bei der postviralen Multisystemerkrankung ME/CFS. Auch ein Teil der am
schwersten an Long Covid Erkrankten erhält diese Diagnose, doch ME/CFS hat
schon lange vor der Pandemie zehntausende Menschen in Deutschland zu
Pflegefällen gemacht – bis jetzt gibt es keine heilende Therapie und
praktisch keine Forschung.
## „Brauchen Therapiestudien an jeder Front“
Auch die Wirksamkeit der Immunadsorption soll an der Charité untermauert
werden – jenes Verfahren, das Anna Brock half, wieder auf die Beine zu
kommen. Sie sei grundsätzlich keine Freundin von Off-Label-Therapien, sagt
die Internistin. Dennoch hält sie es für sinnvoll, zumindest einige
etablierte Ansätze mit gut verträglichen und bei anderen Erkrankungen
zugelassenen Medikamenten zu legitimieren, solange die Forschung nicht
vorankommt. Vor allem dies müsse sich jedoch schnell ändern, meint sie:
„Wir brauchen Therapiestudien an jeder Front.“
Deren Notwendigkeit hat auch die Bundesregierung offensichtlich erkannt.
Was aber nicht heißen muss, dass man im Kabinett zwangsläufig an einem
Strang zieht, wie ein kleiner Disput kürzlich bei Twitter zeigt:
Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) war mit dem Chef des Start-ups
Berlin Cures zusammengetroffen, das den vielversprechenden Wirkstoff BC007
entwickelt hat.
Nach erfolgreichen Heilversuchen an der Uniklinik Erlangen strebt er die
Zulassung als Long-Covid-Medikament an und kämpft um das nötige Geld für
klinische Studien. „Werde auf [das] BMBF noch einmal zugehen zur
Finanzierung einer Studie mit BC007“, twitterte Lauterbach nach dem Termin.
Die Antwort kam ebenfalls per Tweet: Man habe längst eine Pilotstudie mit
BC007 bewilligt, die nur noch nicht begonnen habe, weil „Berlin Cures den
Wirkstoff nicht liefern konnte“, schrieb Forschungsstaatssekretär Jens
Brandenburg (FDP). Und fügte süffisant an: „Das kann man bei uns auch vor
solchen Terminen erfahren.“
Tatsächlich enthielt das Förderpaket aus dem September 2021 auch 1,2
Millionen Euro für eine „Pilotstudie“ der Uniklinik Erlangen mit BC007.
Nur: [3][Wie sie geplant ist], würde sie nicht ausreichen, um das Produkt
anschließend auf den Markt zu bringen – größere Zulassungsstudien müssten
folgen. Ging es Lauterbach also um weiteres Geld für eine richtige
Zulassungsstudie in Regie des Unternehmens? Sein Sprecher lässt das auf
taz-Anfrage offen. Im BMBF heißt es, es liege weder ein Förderantrag von
Berlin Cures vor noch eine Anfrage aus dem Gesundheitsministerium.
So wirkt das Agieren des Bundes wenig koordiniert und eher zaghaft. Zwar
fließt viel Geld in die Auswertung von Daten über akute Covidverläufe,
zudem will das BMBF jetzt neue Technologien für Diagnose und Unterstützung
von Long-Covid-Betroffenen mit 6 Millionen Euro und die Ursachenforschung
bei ME/CFS mit 2,2 Millionen Euro fördern. Ausgerechnet die Mittel für die
teuren klinischen Studien aber bleiben knapp. Dabei sind sie die
Voraussetzung für Arzneimittelzulassungen.
Sepp Müller, Unionsfraktionsvize im Bundestag, lobt gegenüber der taz
einige gute Ansätze, fordert aber „ein schnelleres Handeln seitens der
Bundesregierung“. Gemeinsame Initiativen von Gesundheits- und
Forschungsministerium, die sowohl Long Covid als auch ME/CFS in den Fokus
nähmen, seien „aktuell nicht erkennbar“. Der CDU-Mann fordert ein
parteiübergreifendes Vorgehen.
Bedarf besteht auch in der akuten Versorgung von Long-Covid-Patienten. Die
meisten Spezialambulanzen sind überlaufen, viele arbeiten nicht
interdisziplinär und nehmen Menschen nicht an, die an den Folgen einer
Impfung leiden oder schon vor der Pandemie an ME/CFS erkrankten. Von der
Zusage des Koalitionsvertrages, ein Netzwerk von Kompetenzzentren für
ME/CFS-Betroffene zu schaffen, war Gesundheitsminister Lauterbach zuletzt
abgerückt.
Auch in die Versorgung fließen öffentliche Mittel nur langsam, zäh und oft
regional. So bewilligte der Gemeinsame Bundesausschuss der Uniklinik Jena
im November 5,8 Millionen Euro für drei Jahre, um 700 Long-Covid-Betroffene
wohnortnah zu betreuen, mit Videosprechstunden und einer mobilen Ambulanz.
Dass das nicht viel ist, hat auch Lauterbach erkannt. Ende Januar machte er
[4][im Interview mit der Rheinischen Post] überraschend eine Ansage und
stellte 100 Millionen Euro in Aussicht, um „das optimale Versorgungskonzept
für Menschen mit Long Covid“ zu suchen. Wann und wohin das Geld fließt, ist
unklar. Auf taz-Nachfrage wollte das Ministerium keine Details nennen.
Anna Brock ist seit Oktober wieder als Ärztin tätig, zumindest in Teilzeit.
Sie arbeitet in einer Privatpraxis im Rheinland – und hat sich unter
anderem auf Post-Covid spezialisiert.
8 Mar 2023
## LINKS
[1] https://www.nih.gov/about-nih/who-we-are/nih-director/statements/nih-launch…
[2] ttps://www.bmbf.de/bmbf/shareddocs/kurzmeldungen/de/2021/09/long-covid-fors…
[3] https://www.bmbf.de/SharedDocs/Downloads/de/2021/long-covid-faktenblatt.pdf…
[4] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/presse/interviews/interview/rhe…
## AUTOREN
Martin Rücker
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