| # taz.de -- Biennale im südindischen Kerala: Tinte, Wasser und Erde | |
| > Die Kochi-Muziris Biennale in Südindien lenkt den Blick auf regionale | |
| > Kunst und hat viel zu erzählen. Die Organisation kämpfte mit | |
| > Schwierigkeiten. | |
| Bild: Eine Besucherin der Biennale ist vertieft in eine Wand voller Zeichnungen | |
| Sie bleiben irgendwie zwiespältig, die Großschauen für zeitgenössische | |
| Kunst auf dem Globus, wie die jetzt stattfindende [1][Sharjah Biennial in | |
| den Vereinigten Emiraten, finanziert von einem Herrscherhaus], oder die | |
| Kochi-Muziris Biennale im lokal kommunistisch regierten Bundesstaat Kerala, | |
| deren Stiftung von vielen Sponsoren unterstützt wird. | |
| Regionale Kunst soll dank dieser Schauen global sichtbar sein. Wer kennt | |
| sonst die nachdenklich stimmenden Tuschearbeiten über die Vertreibung | |
| Indigener des Bangalen [2][Joydeb Roaja?] Oder die hängenden bläulichen | |
| Buchstaben, mit denen die Künstlerin [3][Najmun Nahar Keya] kürzlich beim | |
| Dhaka Art Summit in Bangladesch eine feministische Sicht auf die Astrologin | |
| Khana eröffnete? Denn die zur Zeit des europäischen Hochmittelalters | |
| lebende Khana hatte männliche Neider. Sie schnitten ihr die Zunge heraus, | |
| um die kluge Frau zum Schweigen zu bringen, so die Legende. | |
| Das globale Kunstpublikum aber kann diese zeitgenössischen Werke nur mit | |
| einem ökologischem Fußabdruck sehen. Die Veranstalter des Dhaka Art Summit | |
| empfahlen, die eigene Kunstschau auf dem Heimweg nach Europa mit Stopp in | |
| Kochi und dann in Schardscha zu verbinden. | |
| Als aber dann Mitte Dezember Journalist:innen, Kurator:innen und | |
| Sammler:innen aus aller Welt ins verschlafene Fort Kochi flogen, war die | |
| indische Biennale entgegen ihrer Ankündigung erst teileröffnet. | |
| ## Unordnung zum Start | |
| Die Wandfarbe im Hauptgebäude der Kunstschau war noch feucht, hier war | |
| gerade zum Schrecken vieler ein Horrorfilm gedreht worden. Die Eröffnung | |
| der fünften Kochi-Muziris Biennale (KMB) mit dem Titel „In Our Veins Flow | |
| Ink and Fire“ musste spontan um zwei Wochen nach hinten verlegt werden. | |
| Zur Befürchtung von 50 der teilnehmenden Künstler:innen, die kurz darauf | |
| in einem offenen Brief die Zukunft der Biennale überhaupt in Frage gestellt | |
| sahen. Die künstlerische Leiterin in Kochi, Shubigi Rao, bereitete derweil | |
| im Aspinwall-Haus weiter ihre Ausstellung vor, das Privatanwesen war erst | |
| kurz zuvor zugänglich geworden, zu spät. | |
| „Hier gibt es Wut, Humor, Scham, Erschrecken, und es ist in Ordnung, diese | |
| Unordnung zu haben“, äußerte sich Shubigi Rao zu dem Chaos. Im Innenhof des | |
| ehemaligen britischen Baus stand aber bereits eine meterhohe begehbare | |
| Bambusskulptur aus Stäben, Fasern und Blättern des indischen Künstlers | |
| Asim Waqif. | |
| ## Versunkenes Dorf | |
| Von den 90 beteiligten Einzelpersonen und Kollektiven der Biennale kommt | |
| die Hälfte aus Asien, insbesondere aus Indien, andere aus Europa, den USA, | |
| arabischsprachigen Ländern und einigen Inseln wie Martinique in der | |
| Karibik. Dazu gehört Sahil Naik, der in einem ganzen Raum ein versunkenes | |
| Dorf aus Goa mit örtlichen Materialien nachgebaut hat. | |
| Der Boden ist aus rötlichem Sand, dunkle Ziegel deuten den Umriss eines | |
| Brunnens an. Es riecht mulmig. Neben den Mauerresten der Siedlung, die | |
| einem Stausee weichen musste, hat Naik die Gesänge der Einheimischen | |
| aufgenommen. Die Klangkulisse erzeugt Kopfkino. Für die einen das Erinnern | |
| an die verschwundene Heimat, für andere streifen die Gedanken in eine | |
| imaginierte Vergangenheit ab. | |
| Der Konzept- und Performancekünstler Amol K Patil aus Mumbai thematisiert | |
| die extremen Bedingungen, unter denen Sanitärarbeiter:innen in | |
| Westindien leben und arbeiten müssen. Krankheiten und Alkoholismus, Gestank | |
| und Demütigung bestimmen diese. | |
| Patil zeichnet Füße auf Papier oder bildet zerschundene Hände und Rücken | |
| aus Metall nach. Die Installation in Kochi knüpft an seinen Beitrag auf | |
| der documenta 15 an. Shubigi Rao ist wie die künstlerischen Leiter der | |
| [4][umstrittenen documenta, das Kollektiv ruangrupa], mit der in Singapur | |
| arbeitenden Kuratorin Ute Meta Bauer vernetzt. Bauer war auch zur Eröffnung | |
| anwesend. Manchmal können die Wege in der Kunst kurz sein, trotz großer | |
| Distanzen. | |
| „Um Geschichten, die ständig neu geschrieben werden“ geht es Pio Abad und | |
| Frances Wadsworth bei ihrer 3D-Rekonstruktion eines bekannten | |
| Schmuckstücks. Es ist einer Tiara der letzten russischen Zarin Alexandra | |
| Fjodorowna nachempfunden. Bis zur [5][Russischen Revolution] gehörte sie | |
| den Romanows, war dann verschwunden und tauchte bei der Familie des | |
| Diktatoren Ferdinand Edralin Marcos auf den Philippinen wieder auf. Das | |
| Künstlerduo zeichnet den Weg der originalen Tiara nach, durch Revolutionen, | |
| Auktionen, das koloniale Erbe der Philippinen. | |
| Auch der Krieg in der Ukraine taucht auf, in Südindien, wo das tägliche | |
| Überleben schwerer wiegt als ein Krieg im fernen Europa. [6][Zhanna | |
| Kadyrova zeigt ihre mittlerweile berühmt gewordenen Flusssteine in Form von | |
| Brot], eine friedliche Metapher; doch die Steine könnten auch eine Waffe | |
| werden. | |
| In Fort Kochi geht es letztlich um mehr als um Kunst. Die Biennale | |
| verändert das Stadtbild und den Blick auf Gegebenes. Lagerhäuser werden | |
| plötzlich zu Ausstellungsorten und Performances hauchen längst | |
| dahinrottenden Bauten ein eigenwilliges Leben ein. | |
| 1 Mar 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Art-Washing-aus-Schardscha/!5910828 | |
| [2] https://jhavericontemporary.com/exhibitions/joydeb-roaja | |
| [3] https://www.samdani.com.bd/najmun-nahar-keya-around-the-table | |
| [4] /Eroeffnung-der-documenta15-in-Kassel/!5859290 | |
| [5] /100-Jahre-Oktoberrevolution/!5456020 | |
| [6] /Ausstellung-Daily-Bread-in-Hannover/!5909259 | |
| ## AUTOREN | |
| Natalie Mayroth | |
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| zeitgenössische Kunst | |
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