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# taz.de -- Die Wahrheit: WG in schmucker Gruft
> Berlin ist die Hauptstadt der Wohnungslosigkeit. Doch endlich geht sie
> das Riesenproblem an: Schöner Wohnen im Totenreich.
Bild: Ruhe in Frieden, wohne gemütlich unterirdisch
Die angeregt schnatternde Trauergruppe wendet sich unter der Führung des
Pfarrers von der Grabstätte ab. Auf der Suche nach einem zünftigen
Leichenschmaus wird in trotziger Feierlaune das nächstbeste Café angepeilt.
Für Astrid Kowalski eine gute Nachricht, kann sie doch nach 30-minütiger
Wartezeit endlich wieder zurück in ihre Wohngruft. In Absprache mit
Bauaufsichtsamt und Friedhofsverwaltung darf die 56-Jährige uns ihr
schmuckes Heim als Beispiel für eine mustergültige Wohneinheit auf dem
Berliner Zentralfriedhof Friedrichsfelde zeigen.
„Hier entlang, bitte!“ Die Ex-Wohnungssuchende ist vorausgeeilt und hält
uns die verwitterte Eisentür in ihr modriges Domizil auf. In der geräumigen
Krypta fällt uns zuerst der auf einem Steinsockel ruhende und mit bunten
Blumenkränzen drapierte Mahagoni-Sarg von Frau Kowalskis neuem Mitbewohner
auf. Der Rest ist eher spartanisch eingerichtet. Eine Matratze, ein paar
Regale mit Büchern, zwei Aluminium-Stühle und einen klappbaren
Garten-Holztisch darf Frau Kowalski ihr Eigen nennen. Auf einen Kühlschrank
kann sie angesichts der ohnehin schattigen Souterrain-Lage erst mal
verzichten.
Für die gut 30 Quadratmeter große Grabkammer zahlt die gebürtige
Marzahnerin eine unschlagbar günstige Kaltmiete von 1.900 Euro monatlich.
Und das in der von Wohnungsnot schwer gebeutelten Hauptstadt, die sich auf
der Suche nach neuen Wohnkonzepten ein Beispiel an der ägyptischen
Hauptstadt Kairo nimmt, wo Wohnen auf dem Friedhof schon lange das neue
Must-have ist.
## Tiefenentspannter Gesamteindruck
Dass sich Frau Kowalskis Zimmergenosse an den Kosten beteiligt und
obendrein einen so tiefenentspannten Gesamteindruck macht, könnte sich für
die gelernte Heilerziehungspflegerin noch als Segen entpuppen. „Nach einem
anstrengenden Arbeitstag möchte ich zu Hause einfach nur meinen Frieden
haben. Da ergänzen Wilhelm Graf Freiherr von Machwitz und ich uns natürlich
perfekt“, ruft sie begeistert.
Bedenken, Seite an Seite mit einem kürzlich Verstorbenen in einer WG zu
wohnen, hat die Frohnatur bisher nicht. „Es ist ja nicht so, als würde der
Graf mitten in der Nacht von innen den Sargdeckel zur Seite schieben und
herauskriechen“, lacht sie. „Oder etwa doch?“
Vor der Gruft erwartet uns Stadtentwickler Gernot Wilke in der
sonnendurchfluteten Parklandschaft, um uns zu einem kurzen Rundgang über
den urbanen Gottesacker mitzunehmen. Der findige Baudezernent hat das unter
der Grasnarbe schlummernde Potenzial der insgesamt 224 Berliner Friedhöfe
früh erkannt. Die Ausweisung der Begräbnisstätte in Friedrichsfelde als
„Allgemeines Siedlungsgebiet“ wurde von Wilke angesichts des Mangels an
Wohnungen im Eilverfahren durchgeboxt. Mit großem Erfolg.
„Neunzig Prozent der Plätze in Einzel- und Gemeinschaftsgrabstätten waren
bereits nach zwei Wochen vergeben“, erzählt Wilke, während wir durch die
paradiesische Anlage schlendern. Dabei winkt er einem Anwohner, der im
Gemüsegarten vor seiner denkmalgeschützten Katakombe leise summend
Tomatensträucher wässert. „Für die übrigen zehn Prozent gibt es so viele
Anfragen, dass wahrscheinlich das Los darüber entscheidet, wer in die Gruft
geht“, freut sich der Beamte über die wachsende Beliebtheit der trendigen
Wohnform. Allerdings nicht uneingeschränkt.
## Superschnelles Internet
„Für die derzeit 672 Einlieger des Friedhofs gibt es gerade mal zwei
funktionierende Toiletten. Die wenigen Waschgelegenheiten befinden sich in
der Regel nur dort, wo die Gießkannen für die Grabpflege befüllt werden
können“, weiß der 54-jährige um die Baustellen der noch jungen
Mischwohnanlage. Doch Hilfe naht. „Spätestens ab Frühsommer 2032 sollen
alle Ruhekammern an die örtliche Strom- und Wasserversorgung angeschlossen
werden und deren Mieter in den Genuss von Erdwärmepumpen und superschnellem
Internet kommen“, legt sich der sympathische Amtsträger fest.
Das vorübergehende Problem des wildes Defäkierens und die aus den Gräbern
strömenden Gerüche nach Schweiß und Käsefüßen würde er als Beisitzer nur…
gern zum Tagesordnungspunkt der heutigen Mieterversammlung machen.
Debattiert werden soll in der nahen Friedhofskapelle aber hauptsächlich
über die Gefahr eines drohenden Übernahmeversuchs durch neureiche Protzer.
CDU-Politiker Jens Spahn und sein Ehemann wollen einen nicht unwesentlichen
Teil des Friedhofs plattwalzen lassen und für sich an selber Stelle ein
luxuriöses Mausoleum nach Art des Tadsch Mahal errichten. Der Rest soll in
todschicke Eigentumsgruften für Parteifreunde umgewandelt werden.
Ein Vorhaben, das bei Bauamtsleiter Wilke am Ende unserer morbiden Rundtour
bloß müdes Kopfschütteln hervorruft. „Wissen Sie was?“, sagt er, während
wir aus Frau Kowalskis Gruft einen horrorfilmwürdigen Schreckensschrei
hören können, „nur über meine Leiche!“
28 Feb 2023
## AUTOREN
Patric Hemgesberg
## TAGS
Wohnungsnot
Berlin
Friedhöfe
Katholische Kirche
Die Wahrheit
Schwerpunkt AfD
Gold
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