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# taz.de -- Jüdisches Kammerorchester in München: Ausgerechnet Jazz
> Die Münchner Kammerspiele haben derzeit eine ausgewachsene
> Auslastungskrise. Außer, wenn das jüdische Kammerorchester auftritt.
Bild: Das Jüdischen Kammerorchester München
Bis auf den letzten Platz. Das ist ein Satz, den in den vergangenen Monaten
nicht viele schreiben konnten. Corona hat unsere Gewohnheiten, Kultur zu
erleben, verändert. Nachts fehlt auf Münchens Straßen der altersmäßige
Mittelbau, Studenten sind unterwegs und Menschen im Rentenalter.
Ü-30 bis U-65 aber arbeitet remote, lässt liefern und schaut dann noch
irgendwas daheim, nicht live, nicht als soziales Happening. Eher einen
Livestream aus der MET als das Lustspiel im lokalen Theater. Schon gut:
eher Netflix.
Besonders spüren das bundesweit die Bühnen, in München zum Beispiel die
Kammerspiele. Mit einem neuen Ensemble ist die neue Intendantin Barbara
Mundel mitten in der Coronapause an- und aufgetreten, radikal divers,
radikal innovativ, radikal rebellisch. Mundel umgibt sich mit Menschen, die
bunter, schneller, lauter denken als der Rest und oft genug auch weiter
nach vorne – etwa mit der Dramatikerin Sivan Ben Yishai, der Regisseurin
Pınar Karabulut, dem Autor Nuran David Calis –, und sie hat den [1][Mut,
dies in München zu tun.]
Nur das Publikum blieb aus. 56 Prozent Auslastung und einen Fehlbetrag von
1,2 Millionen Euro vermerkt der Jahresabschluss 2021/22 für das Theater,
schreibt die Lokalpresse (Quelle: Münchner Abendzeitung). Für 2023 würde
ein weiteres Minus von 915.000 Euro prognostiziert. Unvorstellbare Zahlen
sind das, eine knappe Million. Eine Krisensitzung mit der Stadt war die
Folge.
Und doch. Bis auf den letzten Platz ist der große Saal der Kammerspiele
gefüllt, als das jüdische Kammerorchester „Jewish Jazz“ aufführt und das
Ensemblemitglied Jelena Kuljić zum Höhepunkt eines grandiosen Konzerts mit
samtiger Stimme Gershwin-Lieder intoniert.
## Ein bunter Musikertrupp
Ausgerechnet Jazz, ausgerechnet ein Kammerorchester holt die Münchner aus
dem Ausnahmezustand in die Maximilianstraße. Dass auch die bayerische
Komödie [2][„A scheene Leich“ nach Gerhard Polt] und den Well-Brüdern bis
März ausverkauft ist, verwundert dagegen schon weniger.
Daniel Grossmann hat das Orchester in seinen Zwanzigern gegründet, es ist
ein bunter Trupp aus „fest-freien“ Musikern, wie er sagt. Keiner ist
festangestellt, das Ensemble formiert sich von Auftritt zu Auftritt – doch
die meisten kommen immer wieder. Die erste Geige begleitet das Orchester
seit 15 Jahren. Einmal monatlich spielen sie in den Kammerspielen.
Saxofonist Koryun Asatryan ist für den Jazz dazugekommen. Während der
Generalprobe irgendwo in Milbertshofen sitzt er lässig halb auf einem Tisch
und wartet. Auf der Bühne der Kammerspiele läuft er zur Hochform auf. Das
Orchester habe es genossen, mal Stücke zu spielen, die nicht klassisch
sind, erzählt Grossmann. Diese Musik, meint er, geht „sehr direkt ins
Herz“.
Ja, der ganze Abend geht ins Herz. Und das, obwohl das Programm nicht
leichtgängig ist: Zwischen die Jazz-Suite von Shostakovich, die Hot-Sonate
von Erwin Schulhoff und Songs von George Gershwin, darunter „Fascinating
Rhythm“ und „The Man I love“, hat Grossmann eine Orchster-Jazz-Suite von
Bohulav Martinū gepackt.
## Das Publikum ist hin und weg
Aber das Publikum ist nicht nur anwesend, es ist hin und weg. Das Ensemble
interpretiert die Stücke mit einem Leichtigkeit, die vielen momentan fehlt:
dem Klang zugewandt, dem Moment zugewandt, dem Leben zugewandt.
Wer sich ernsthaft fragt, wofür es sich lohnt, das Haus zu verlassen, bekam
eine Antwort: nicht für Perfektion, sondern für Begeisterung. Nicht für die
„Nummer sicher“, sondern für Leidenschaft. Ohne diese blauen Nächte, in
denen Menschen zusammenkommen und sich mitreißen lassen, würden wir
irgendwann in einer Welt aufwachen, in der eine Nachfolgeversion von
ChatGBT perfekte Dramaturgien und Harmonien entwirft, die KI intoniert –
ohne Charme allerdings, ohne Seele. Und dann garantiert: ohne Publikum im
Saal.
20 Feb 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Johanna Schmeller
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