# taz.de -- Russische Gesellschaft im Krieg: Ein Jahr Angst vor der Zukunft | |
> Was hat der Angriff gegen die Ukraine mit der russischen Gesellschaft | |
> gemacht? Wie prägen Kriegsnarrative den Alltag? Einige persönliche | |
> Gedanken. | |
Bild: „Verteidigung des Vaterlandes“: rückwärtsgewandte Veranstaltung am … | |
Hass, Angst und Hoffnung. Das sind die drei Wörter, die mein persönliches | |
2022 verkörpern, das am 24. Februar begann. Ich möchte hier über jedes von | |
ihnen erzählen. | |
Mein Land hat eine aggressive Militärkampagne gegen das Nachbarland | |
begonnen. Nun ist es nicht so, dass so etwas noch nie vorher passiert wäre. | |
Uns, damals noch sowjetischen Kindern, hat man beigebracht, dass es immer | |
der Angreifer ist, der Unrecht hat. Und sogar beim Krieg in Afghanistan | |
wurde behauptet, es handele sich um Hilfe, die wir der Führung eines | |
befreundeten Staates auf ihre Bitte hin gewährten. Es gab überhaupt keinen | |
Anlass für diese Aggressionen gegen die Ukraine. Außer der Anschuldigung | |
eines möglicherweise bevorstehenden Angriffs. Aber genau das ist es, was | |
man der Gesellschaft weismachen wollte. Und genau daraus entstand der Hass. | |
## Hass, der jeden Krieg begleitet | |
Der Hass ist der unveränderliche Begleiter eines jeden Krieges in jedem | |
beliebigen Staat. Aber soweit ich mich erinnere, war der größte Teil des | |
Hasses nicht gegen die Feinde gerichtet (wer immer das auch sein soll), | |
[1][sondern gegen die eigenen Landsleute]. Diejenigen, die den Behörden | |
unangenehme Fragen stellen und versuchen, die wahren Gründe für die | |
Kampfhandlungen herauszufinden. | |
Nun, ich persönlich kann weder an eine Dekommunisierung noch an eine | |
Entnazifizierung glauben. Und im letzten halben Jahr sind sogar die | |
aggressivsten Propagandisten von diesen Formulierungen abgerückt. Aber wenn | |
die Nachbarn solche Fragen stellen, oder Bekannte oder Menschen, die man | |
zufällig trifft, dann schlägt ihnen Hass entgegen. Niemand kann die Frage | |
beantworten, warum gegen die „Nazis in der Ukraine“ echte Nazi-Bataillone | |
kämpfen, insbesondere die „Rusitsch“, paramilitärische neonazistische | |
Sabotageangriffs-Aufklärungsgruppe. | |
Warum irritiert niemanden die [2][Verherrlichung von gesetzlich verbotenen | |
privaten Militäreinheiten?] Und warum können diejenigen, die offen um die | |
ukrainischen Kinder trauern, die während des Beschusses ums Leben kamen, | |
einfach für mehrere Tage festgenommen werden? | |
## Angst vor der Zukunft | |
Solche Fragen bringen Hass hervor. So wenig es Antworten darauf gibt, so | |
schnell arten solche Gespräche in Streit oder sogar Schlägereien aus. Aber | |
auch dies hat keinen Einfluss auf die Definition des Begriffes „Recht“, | |
weil die ANGST sich zu deutlich zeigt. Genauer gesagt: die Angst vor der | |
Zukunft, vor dem Fortschritt. | |
Das ganze Jahr lang haben offizielle Medien über die „Wiederherstellung der | |
historischen Gerechtigkeit“ berichtet, über die „Rückbesinnung auf die | |
Wurzeln“, den „Kampf für die traditionellen Werte“ und den „Krieg für… | |
große Russland, das wir verloren haben“. Aber nie hat jemand bisher | |
erzählt, was mein Land jetzt vorhat. Es gibt kein Bild von der Zukunft, | |
keine Pläne für wenigstens die zehn nächsten Jahre, absolut keine Idee | |
davon, wie sich Russland entwickeln wird, nichts über die Wissenschaft und | |
größere Leistungen. | |
## Hoffnung und Fortschritt | |
Jetzt sind wir, ist unser Land in einem solchen Zustand, dass wir den | |
Nachbarn und der Welt absolut nichts mehr bieten können, außer vielleicht | |
Atomraketen. Aber Atomraketen sind keine Ideologie, und das gegenwärtige | |
Russland hat zu ihnen kaum noch eine Beziehung, da sie alle noch in der | |
Sowjetunion entwickelt wurden. In den dreißig Jahren danach ist nichts | |
prinzipiell Neues entstanden, weder im technischen noch im kulturellen | |
Bereich. | |
Aber die Versuche, jetzt im Eilverfahren diese Löcher mit einer Pionier- | |
oder vorimperialistischen Ideologie zu stopfen, werden vermutlich schon im | |
Entwicklungsstadium scheitern. Denn das herrschende Regime fürchtet nichts | |
so sehr wie den Fortschritt. Es ist darauf nicht vorbereitet und möchte ihn | |
auch nicht. Aber [3][lange nicht alle Menschen in Russland sind der | |
gleichen Meinung]. Und genau darin liegt auch HOFFNUNG. | |
Aus dem Russischen [4][Gaby Coldewey] | |
Dieser Text ist Teil der [5][taz Panter Beilage] zur taz-Sonderausgabe „Ein | |
Jahr Krieg in der Ukraine“ | |
25 Feb 2023 | |
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## AUTOREN | |
Boris Epchiev | |
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