| # taz.de -- Kriegsalltag in der russischen Provinz: Vom Patriotismus ist nichts… | |
| > Newjansk am Ural hat bereits einige tote und verletzte Soldaten zu | |
| > beklagen. Immer weniger Menschen verstehen, wofür in der Ukraine gekämpft | |
| > wird. | |
| Bild: Spielzeugautos als letzter Gruß auf dem Friedhof von Newjansk: Auch hier… | |
| Newjansk Im eisigen Wind flattern die Fahnen „Wir lassen die Unsrigen nicht | |
| im Stich“ oder „Nach uns: die Stille“. Wir laufen mit Iwan (Name geänder… | |
| einem 40-jährigen Einwohner von Newjansk, über den verschneiten städtischen | |
| Friedhof zwischen frischen Gräbern entlang. Viele Papierblumen sieht man | |
| hier, die bunten Plastikkränze sind noch nicht verblasst. Auf fünf Gräbern | |
| am Haupteingang stehen fast identische Grabkreuze. | |
| Newjansk ist eine Stadt im Gebiet Swerdlowsk mit etwa 22.000 Einwohnern. | |
| Hier befindet sich eine der Hauptsehenswürdigkeiten des Urals, der Schiefe | |
| Turm von Newjansk, der vor etwa 200 Jahren, zur Zeit der Fabrikanten | |
| Demidow, gebaut wurde. | |
| Der Legende nach wurden im Keller des Turms falsche Münzen geprägt, und als | |
| jemand zur Kontrolle kam, wurde der Keller geflutet, um das Verbrechen zu | |
| vertuschen, und die Arbeiter ertranken. Oft kommen Touristen her, um den | |
| Turm anzusehen. Die Stadt ist nicht gerade reich, aber wer will, findet | |
| problemlos einen Job. Es gibt ein Gefängnis und mehrere große Betriebe, wie | |
| die Newjansker Maschinenbaufabrik, ein Stahlbetonwerk, ein Kraftwerk. Und | |
| der städtische Friedhof, auch eine Art Unternehmen, wächst und entwickelt | |
| sich ebenfalls in letzter Zeit. | |
| „Wladimir Balandin“, liest Iwan auf einem Grabstein und sieht sich das | |
| dazugehörige Foto des Toten an. Er kannte ihn nicht persönlich, aber hat in | |
| der Zeitung von seinem Tod gelesen. Wladimir hatte vier Kinder. | |
| Iwan erinnert sich auch an einen anderen Verstorbenen – Igor Mochow, der im | |
| Dorf Serbischino in der Region Newjansk begraben wurde. Igor hatte Talent, | |
| er vertonte Kindergeschichten. Viele Newjansker kannten und liebten seine | |
| Werke. | |
| Iwan meint, wenn man sich die Stadt Newjansk als einen Menschen vorstellt, | |
| dann wäre das wohl ein Mann Mitte 40, gutmütig und hilfsbereit, mit einem | |
| offenen Gesicht, wie viele Porträts auf diesen Grabkreuzen. | |
| „Ich wurde in Newjansk geboren“, erzählt Iwan. „Ich liebe meine Stadt, s… | |
| hat Zukunft, liegt in der Nähe von Jekaterinburg und Nischni Tagil, zwei | |
| der größten Städte im Gebiet Swerdlowsk. Hier gibt es viel | |
| Entwicklungsspielraum, und wenn das Geld tatsächlich für die Belange der | |
| Stadt ausgegeben würde und nicht in die Taschen der Beamten flösse, wäre | |
| Newjansk wirklich schön. Meine Freunde haben die Stadt verlassen, und ich | |
| werde sehr wahrscheinlich auch wegziehen. | |
| Es gibt hier nur wenige junge Leute, weil weiterführende Schulen fehlen. | |
| Die meisten ziehen nach der Schule für eine Berufsausbildung oder zum | |
| Studium in größere Städte, nur wenige kommen danach zurück. Ich erinnere | |
| mich noch an meine eigene Schulzeit: man steht auf dem Bahnsteig, wartet | |
| auf den Regionalzug Jekaterinburg–Nischni Tagil, um einen herum nur junge | |
| Leute. Am Wochenende scheint die Stadt aufgebläht und voller Menschen, | |
| belebt sich – aber unter der Woche wird sie schmal und schweigsam.“ | |
| ## Ein Mann macht sich Gedanken | |
| Mein Gesprächspartner ist davon überzeugt, dass für die Menschen aus | |
| Newjansk die „militärische Spezialoperation“, kurz MSO (Putins | |
| euphemistischer Begriff für den Angriffskrieg gegen die Ukraine; d. | |
| Redaktion), etwas Patriotisches war. Einige konnten sich gar nicht schnell | |
| genug freiwillig zur Armee melden. Er denkt, dass diese patriotische | |
| Aufbruchsstimmung mittlerweile vorbei ist. | |
| Nur einer von Iwans Freunden ist bislang freiwillig in die Ukraine gegangen | |
| und bis heute dort. Einige andere wurden mittlerweile einberufen. | |
| „Ich war aus gesundheitlichen Gründen nicht bei der Armee“, erzählt Iwan. | |
| „Aber ich könnte von der zweiten Welle (der Mobilmachung) betroffen sein. | |
| Sollten sie mich einberufen, werde ich nicht kneifen. Und auch meine | |
| Freunde sagen: Ich werde nicht abseits stehen, wenn sie uns einberufen. Das | |
| ist auch eine freundschaftliche Unterstützung für diejenigen, die schon | |
| dort sind. [1][Aber mir gefällt dieses ganze Chaos nicht], ich bin nicht | |
| für die Ukrainer und ich bin nicht für … Mir gefällt nicht, dass im Februar | |
| Kampfhandlungen begonnen haben. Und ehrlich gesagt, obwohl ich die | |
| Nachrichten verfolgt habe, habe ich nie genau verstanden, warum. | |
| Am Tag vor dem 24. Februar bin ich mit dem Zug gefahren und habe gesehen, | |
| [2][wie ein Güterzug nach dem anderen die Gleise entlangfuhr], alle mit | |
| Panzern beladen. Und ich habe noch gedacht: Warum so viele? Ein großes | |
| Militärmanöver? Es hat mich gestresst und eine unangenehme innere Kälte | |
| verursacht. Aber damals habe ich einfach nicht begriffen, was da passiert.“ | |
| Iwan erzählt von einer Verschwörungstheorie: Alles sei wegen | |
| „unterirdischer Ressourcen passiert, die vor nicht allzu langer Zeit in der | |
| Ukraine entdeckt worden“ seien. Mein Gesprächspartner ist davon überzeugt, | |
| dass Russlands Vorgehen im Nachbarland nicht akzeptabel sei. | |
| „Ich habe Freunde in der Ukraine, ich mache mir Sorgen um sie“, sagt er. | |
| „Ich erinnere mich daran, wie wir bei der Fußball-WM zusammen vor dem | |
| Fernseher saßen und alle zur ukrainischen Mannschaft gehalten haben. In den | |
| sozialen Medien sehe ich extrem russophobe Einstellungen auf ukrainischer | |
| Seite, aber man darf nicht alle über einen Kamm scheren.“ | |
| ## Echte tote Kerle | |
| Sein Freund ist in den Krieg gezogen, als man im Rahmen der Mobilmachung | |
| begann, Frauen als Krankenschwestern einzuziehen. „Er wollte nicht abseits | |
| stehen: Ich bin ein Mann und soll zu Hause sitzen, wenn man Mädchen | |
| einzieht?“, erinnert sich Iwan. „Er ist freiwillig als Arzt in die Ukraine | |
| gegangen. Ich verstehe, dass meine Freunde vielleicht nicht lebend | |
| zurückkommen, denn heute gibt es keine Bajonettangriffe mehr wie früher. | |
| Einerseits ist es wichtig, ein echter Kerl zu sein. Aber dort kann man sehr | |
| schnell zu einem echten toten Kerl werden.“ | |
| „195.000 Rubel (umgerechnet gut 2.600 Euro) – das bekommt ein einberufener | |
| Soldat. Das ist meiner Meinung nach eine lächerliche Summe. Inzwischen hat | |
| man auf 200.000 aufgerundet, aber die Logik, nach der diese Beträge | |
| festgelegt werden, erschließt sich mir nicht“, schlussfolgert er. „Warum | |
| kann man den Leuten jetzt nicht normale Gehälter zahlen, wenn es im | |
| Staatshaushalt solche hohen Beträge gibt? Das ist doch alles eine | |
| undurchsichtige Sache. Mein Freund ist aus der Ukraine zurückgekommen, aber | |
| bis heute hat er gar kein Geld bekommen.“ | |
| Trotz aller Zweifel ist Iwan überzeugt: Wenn der Staat das Kriegsrecht | |
| verhängt und es eine allgemeine Mobilmachung gibt, werden die Leute | |
| freiwillig in die Wehrämter gehen. | |
| ## Ein Chefredakteur wird angeklagt | |
| „Es war so ein Gefühl von Kälte auf der Haut“, erinnert sich Jewgeni | |
| Konowalow an den 24. Februar. Er ist Chefredakteur der Newjansker Ausgabe | |
| der Mestnye Wedomosti (Lokalanzeiger). „Sofort war da ein | |
| Gedankenkarussell: Empörung, Nichtwahrhabenwollen und große Scham. Dabei | |
| schämte ich mich weniger für die anderen, sondern vor allem für mich | |
| selbst. Weil ich in den vergangenen zwanzig Jahren keinen einzigen Text | |
| geschrieben hatte, der den Menschen den Wunsch nimmt, in den Krieg zu | |
| ziehen. | |
| Ich verstehe bis heute nicht, wie das möglich war. [3][Viele haben doch | |
| Familie dort, nahe Angehörige.] Ich weiß, dass ich auch entfernte Verwandte | |
| in der Ukraine habe, zu denen wir vor über zwanzig Jahren, nach dem Tod | |
| meiner Großmutter, den Kontakt verloren haben. Sie sind noch dort, ich | |
| erinnere mich noch, wie sie früher zu Besuch kamen. Ich erinnere mich auch | |
| noch, wie sie uns Anfang der neunziger Jahre Schulhefte geschickt haben, | |
| als es bei uns einfach gar nichts gab. Und wie die ganze Klasse damals über | |
| die witzigen Aufschriften in ukrainischer Sprache gelacht hat. | |
| Im April wurde der Chefredakteur der Mestnye Wedomosti gleich dreimal wegen | |
| Ordnungswidrigkeiten angezeigt: für zwei Artikel, die in ein und demselben | |
| sozialen Netzwerk veröffentlicht worden waren. Einer war überschrieben mit: | |
| „Ich möchte nicht, dass unsere Kinder Kanonenfutter werden“ – das war no… | |
| im Februar. Konowalow zitierte den Angehörigen eines Soldaten, der in die | |
| Ukraine geschickt worden war. Zwei andere Anzeigen gab es wegen eines | |
| Artikels im März über die offizielle Stellungnahme des | |
| Verteidigungsministeriums, dass der Westen Biowaffen mithilfe von Zugvögeln | |
| als sogenannte Biowaffenagenten verbreite. | |
| „Die Polizei hat zunächst nur eine Anzeige gegen mich erstattet“, erinnert | |
| sich Konowalow. „Sie haben eine linguistische Expertise der Artikel | |
| vorgelegt. Die hatte eine Mitarbeiterin des Inlandsgeheimdiensts (FSB) mit | |
| philologischer Ausbildung angefertigt. Das sollte alles vor Gericht | |
| vorgebracht werden. Am nächsten Tag rief die Frau vom Revier an und fragte, | |
| ob sie noch einmal vorbeikommen könne. Eine einzige Anzeige schien den | |
| „Linguisten“ nicht zu genügen. | |
| Konowalow sagt, dass die beiden Richter am Stadtgericht, die ihn verurteilt | |
| haben, „einer Debatte nicht abgeneigt waren und sogar Sympathien für ihn | |
| hegten“. | |
| Was sie jedoch nicht daran hinderte, den Antrag auf eine unabhängige | |
| Prüfung abzulehnen. Für jede Anklage wurde Konowalow zu einer Geldstrafe | |
| von 30.000 Rubeln (umgerechnet etwa 400 Euro) verurteilt. Jetzt versucht | |
| er, die Urteile vor dem Landgericht anzufechten. | |
| Jewgeni Konowalow sagt, dass es nach dem 24. Februar keine Protestaktionen | |
| in der Stadt gegeben habe, keinen öffentlich geäußerten Dissens, von | |
| einzelnen Posts in sozialen Medien abgesehen. | |
| „Am Anfang war es mir sehr wichtig, ein Stimmungsbarometer in meinem nahen | |
| Umfeld zu erstellen, um mich zu vergewissern, dass alle, mit denen ich | |
| durchs Leben gegangen war, auf die ich mich verlassen habe, ebenfalls gegen | |
| diesen Wahnsinn waren“, erzählt er. „Aber das war leider nicht der Fall. | |
| Auch einige Freunde haben mich überrascht, indem sie Dinge im Geiste von | |
| ‚Wir können das noch mal machen!‘ (gemeint: siegen wie im Zweiten | |
| Weltkrieg; d. Redaktion) posteten. | |
| ## Fragen nach dem Sinn des Krieges | |
| Einige standen unter Schock, aber warteten auf eine vernünftige Erklärung | |
| des Staats. Sie meinten, man sage uns wahrscheinlich einfach nicht alles, | |
| denn es müsse für diesen Krieg doch irgendeinen echten Grund geben. Ein | |
| Teil von ihnen wartet vermutlich heute noch. Also, seit einem dreiviertel | |
| Jahr haben sie noch nichts gehört, was sie als Grund hätte überzeugen | |
| können. Aber die überwiegende Mehrheit der mir nahestehenden Menschen war, | |
| unabhängig vom Alter übrigens, von Anfang an gegen diesen Krieg.“ | |
| In den ersten Kriegstagen fand in Newjansk eine Propagandademo zur | |
| Unterstützung der „Spezialoperation“ statt. Die Einwohner der Stadt wurden | |
| dazu mit Plakaten aufgerufen, mit einem Text aus dem Lied „Der heilige | |
| Krieg“ (bekanntes sowjetisches Lied aus dem Zweiten Weltkrieg; d. Red.). | |
| Einer der Hauptaktivisten war der Leiter des Kindersportvereins. | |
| „Es stellte sich heraus, dass sein ‚heiliger‘ Hass zwei Ursachen hatte: d… | |
| Erinnerungen an seinen Armeedienst, bei dem es Schwierigkeiten mit | |
| ukrainischen Vorgesetzten gab. Und die Tatsache, dass seine Schützlinge aus | |
| dem Verein, die in der Armee waren, an die vorderste Front geschickt worden | |
| waren“, erinnert sich Jewgeni an sein Gespräch mit dem Sportvereinsleiter. | |
| „Dann haben auch andere Teilnehmer dieser Demo zugegeben, dass sie gar | |
| nicht konkret die Spezialoperation unterstützen, sondern die Jungs, die da | |
| hineingezogen wurden.“ | |
| Seitdem hat es keine Veranstaltungen dieser Art mehr gegeben, von den | |
| großen Sammelaktionen für humanitäre Hilfe für die Einberufenen abgesehen. | |
| Auch diese erfolgten übrigens mehr diesen Jungs zuliebe, um deren Chancen, | |
| lebend zurückzukommen, zu erhöhen. | |
| Jewgenis Beobachtungen zufolge hat sich die Stimmung in der Stadt seit | |
| Februar verändert. Noch vor der Ankündigung der Teilmobilmachung nahm die | |
| Zahl der Symbole der „Spezialoperation“ auf den Autos deutlich ab. Sein | |
| Nachbar, der Ende Februar „sein ganzes Auto dekoriert“ und einige Videos | |
| zur Unterstützung der Spezialoperation aufgenommen hatte, entfernte Ende | |
| September alle Aufkleber und löschte sogar die Filme von seinem | |
| YouTube-Kanal. | |
| „Was hat sich hier für die Stadt geändert?“, fährt mein Gesprächspartner | |
| fort. „Aus den Gesprächen mit der städtischen Verwaltung weiß ich, dass | |
| alle großen Projekte, die noch vor dem 24. Februar begonnen wurden, zum | |
| Beispiel die Uferbefestigung oder die Schwimmbadsanierung, weitergeführt | |
| werden, aber seit dem Frühling deutlich teurer geworden sind. Durch den | |
| Preisanstieg bei Baumaterialien wurden zusätzliche Mittel benötigt, unter | |
| anderem aus dem städtischen Haushalt. Ich sehe, wie sich unsere Stadtoberen | |
| freuen, dass sie im Rahmen dieser Projekte noch hochwertige europäische | |
| Maschinen kaufen konnten … Mehrmals habe ich darüber geschrieben, welche | |
| Sorgen sich die Direktoren unserer Industriebetriebe machen, die mit | |
| ausländischen Maschinen ausgestattet oder auf internationale Absatzmärkte | |
| ausgerichtet sind.“ | |
| Die Zeitung Mestnye Wedomosti, deren Chefredakteur Konowalow in Newjansk | |
| ist, wurde 1999 als privates Medium gegründet, ohne staatliche oder | |
| kommunale Beteiligung. Die Zeitung finanziert sich ausschließlich durch | |
| eigene Einnahmen. Sie bewirbt sich aber um die Veröffentlichung von | |
| Mitteilungen der Stadtverwaltung, die gegen Geld in den Medien platziert | |
| werden. Nach Angaben des Chefredakteurs „verzichtet die Redaktion nicht auf | |
| eine möglichst objektive Herangehensweise beim Verfassen anderer, auch | |
| problematischer Publikationen“. Die Zeitung schreibt auch über diejenigen, | |
| die in der Ukraine gestorben sind, und wählt dabei sorgfältig ihre Worte. | |
| ## Infos bleiben unter Verschluss | |
| Niemand spricht öffentlich darüber, wie viele Menschen in der Region | |
| mobilisiert wurden. Weder über die geplante noch die faktische | |
| Rekrutierung. Jewgeni erzählt, dass am 29. September, als die meisten | |
| Einberufenen die Stadt verließen, fünf Busse, davon vier extra große, vom | |
| städtischen Kulturpalast aus losfuhren. Aber außer den Männern aus Newjansk | |
| fuhren auch noch Leute aus zwei Nachbarbezirken mit, aus Kirowograd und | |
| Werchni Tagil. Etwa ein Drittel dieser Anzahl an Leuten kam noch Ende | |
| Oktober dazu, als die Mobilmachung weiterging, obwohl man mit deutlich mehr | |
| gerechnet hatte. Aber nach der ersten Welle der Mobilisierung und den | |
| ersten Beerdigungen zogen die Menschen wohl ihre eigenen Schlüsse … | |
| Ein Bild des Durchschnittseinberufenen – wer er ist, wie er lebt – kann man | |
| heute aus Informationen über die ersten Gefallenen ableiten. Ihre Namen | |
| sind in der Stadt bekannt. Es sind in der Regel Männer um die 40, | |
| verheiratet, mit mehren Kindern, wertgeschätzt an ihren Arbeitsstellen. | |
| „Wenn man jetzt mit ihren Angehörigen spricht, versteht man: Die wenigsten | |
| von ihnen konnten sich vorstellen, dass alles so tragisch verläuft, dass | |
| sie schon nach wenigen (!) Tagen an die vorderste Front geschickt würden“, | |
| fährt Jewgeni fort. „Die Frauen sagen, angeblich hätten die Männer | |
| irgendwelche technischen Arbeiten im Hinterland machen sollen (zumal viele | |
| von ihnen darin echte Experten sind), die öffentliche Ordnung | |
| aufrechterhalten – ‚ihre Pflicht erfüllen, weitab von der Front‘.“ | |
| ## Keine Ausnahme für Kinderreiche | |
| Unter den Mobilisierten im Stadtbereich Newjansk waren sogar kinderreiche | |
| Väter. Für die Rückkehr ihres Mannes, des 39-jährigen Wassili Utjomow, | |
| führt Olga Utjomowa aus dem Dorf Zementnij einen ungleichen Kampf mit den | |
| Ämtern. Das Paar hat vier Kinder: 18, 17, 15 und 9 Jahre alt. | |
| „Es ist eine ziemlich schreckliche Situation. Nach dem Gesetz gelten wir | |
| als kinderreich, weil drei unserer Kinder noch minderjährig sind“, sagt | |
| Olga Utjomowa. „Und wenn Kinder nach dem allgemeinen Schulabschluss eine | |
| Berufsschule besuchen, ist man sogar kinderreich, bis das Kind 23 ist. Aber | |
| bei der Staatsanwaltschaft hat man mir gesagt, dass in Zeiten einer | |
| Mobilmachung unsere Familie nicht mehr als kinderreich gilt, sobald das | |
| älteste unserer drei minderjährigen Kinder das 16. Lebensjahr vollendet | |
| hat.“ | |
| Olga erzählt, dass Wassili am 29. September einberufen wurde. Er habe nicht | |
| versucht abzuhauen, weil er „pflichtbewusst“ sei und überzeugt davon, dass | |
| man ihn zur rückwärtigen Frontverteidigung oder als Fahrer einsetzen würde. | |
| Aber nach weniger als zwei Wochen, am 10. Oktober, war er schon in der | |
| Ukraine. In den Unterlagen, die sie von der Militärverwaltung bekam, stand, | |
| ihr Mann sei erst seit dem 14. Oktober in einem Kampfverband. | |
| Jetzt werde er, der nie in der Armee gedient und keine militärische | |
| Ausbildung abgeschlossen habe, dort als stellvertretender Zugführer im Rang | |
| eines Unteroffiziers aufgeführt, obwohl man ihn als gewöhnlichen Fahrer | |
| einberufen habe. | |
| „Neulich kam zum ersten Mal das Gehalt meines Mannes, mehr als 200.000 | |
| Rubel“, sagt Olga, „aber trotzdem schreibe ich weiter Eingaben mit der | |
| Forderung, Wassili als kinderreichen Vater nach Hause zu entlassen. Ich | |
| selbst kann aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeiten, und alleine mit | |
| den Kindern ist es sehr schwierig. Was sollen wir mit diesem ‚Kriegsgeld‘, | |
| wenn mein Mann auch hier gut verdient und dafür nicht sein Leben riskiert?“ | |
| Über ihre Einstellung zur MSO, der „Spezialoperation“, möchte Olga lieber | |
| nicht sprechen, wie so viele andere Angehörige von Einberufenen auch nicht. | |
| ## Schwindender Patriotismus | |
| „Unser erster Soldat (aus dem Nachbarkreis Kirowograd) starb während der | |
| ersten Tage der MSO“, erzählt Jewgeni Konowalow. „Ende August kamen zwei | |
| Jungs aus Newjansk zurück. Das war damals eine echte Tragödie für die Stadt | |
| – gleich zwei 200er-Lasten (Codewort für die Rückführung von im Krieg | |
| gefallenen Soldaten; d. Red). Da ahnte noch niemand, was anderthalb Monate | |
| später passieren würde. Von den Freiwilligen starb einer – ein Junge vom | |
| Land. Wie viele von ihnen insgesamt kämpfen, ist schwer zu sagen. Es kommt | |
| vor, dass man mit einem Bekannten redet, man sich an jemanden erinnert und | |
| sagt, dass man ihn lange nicht gesehen habe, und der Bekannte dann sagt: | |
| „Der ist schon seit ein paar Monaten in der Ukraine.“ | |
| Weitere zwanzig Menschen gelten als vermisst. Die Mütter und Ehefrauen der | |
| Einberufenen haben eine gemeinsame Social-Media-Gruppe gegründet, um sich | |
| gegenseitig zu unterstützen. | |
| Wenn einer der vermissten Männer sich doch telefonisch meldet, geben sie | |
| die Informationen an die anderen weiter. Wenn möglich versuchen sie, über | |
| den Anrufer detaillierter etwas über weitere Vermisste zu erfahren. Man | |
| hatte gehofft, die Vermissten beim Rückzug der Truppen vom rechten | |
| Dnipro-Ufer nach der Aufgabe von Cherson zu finden. Aber nach einer | |
| Umgruppierung war die Liste nur um einige Namen kürzer. | |
| Jewgeni meint, dass nur noch wenige Newjansker an die „Heiligkeit“ dieser | |
| „Operation“ glaubten. Die Angehörigen der Eingezogenen sprechen jedenfalls | |
| weder von „Nazis“ noch in anderer Weise abfällig über Ukrainer. | |
| „In letzter Zeit bin ich nur einmal wütend auf Ukrainer gewesen“, gesteht | |
| Jewgeni. „In der Stadt gab es eine Altpapiersammlung und mit einem Teil des | |
| Geldes wollte man die Einberufenen unterstützen. Einer der Angehörigen | |
| eines Gefallenen, ein alter Mann, brachte ein paar hundert Kilo Papier mit | |
| der Bitte: „Kauft eine Granate dafür und schreibt darauf: ‚Für meinen | |
| Neffen!‘“ | |
| Die Region Newjansk hat zehn Gefallene bestattet – das kann man an den | |
| Gräbern auf dem Friedhof abzählen. Dort wird schon der Platz für die | |
| nächsten Beerdigungen vorbereitet. Verwundete gibt es in der Region mehrere | |
| Dutzend. Konowalow sagt, dass man einigen von ihnen gesagt habe: „Kuriert | |
| euch, ruht euch aus, bald schicken wir euch wieder zurück.“ | |
| Aus dem Russischen [4][Gaby Coldewey] | |
| 20 Jan 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Teilmobilisierung-in-Russland/!5884723 | |
| [2] /Russisches-Manoever-in-Belarus/!5831265 | |
| [3] /Russisches-Manoever-in-Belarus/!5831265 | |
| [4] /Gaby-Coldewey/!a23976/ | |
| ## AUTOREN | |
| Isolda Drobina | |
| ## TAGS | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Russland | |
| Krieg | |
| Ukraine | |
| GNS | |
| Novaya Gazeta Europe in der taz | |
| Patriotismus | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Kolumne Krieg und Frieden | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| +++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++: Nowaja Gaseta Europe unerwünscht | |
| Russland erklärt die Onlinezeitung „Nowaja Gaseta Europe“ zur unerwünscht… | |
| Organisation. Aktuell ist unklar, wo Wagner-Chef Prigoschin sich aufhält. | |
| Mobilmachung in Russland: Letzte Hoffnung Anwalt | |
| Viele Menschen in Russland sind von der Mobilmachung betroffen. Erstmals | |
| informieren sie sich über ihre Rechte, doch oft kann niemand helfen. | |
| Russische Mütter in Kriegszeiten: Mamotschka kann nicht helfen | |
| Russlands Gesellschaft macht aus Frauen passive Erfüllerinnen des | |
| Staatswillens. Jetzt, wo ihre Söhne im Krieg sterben, proben manche Mütter | |
| den Aufstand – aber ohne politische Forderungen. | |
| Moskau und der Krieg in der Ukraine: Furchtbare neue Welt | |
| Russlands Sommer der Verdrängung ist einem Herbst der Sorgen gewichen. Der | |
| Krieg ist in jedes Wohnzimmer eingezogen. Die meisten Menschen nehmen es | |
| hin. |