Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Treffen mit der Neuköllner Rap-Crew AOB: Shisha, Zimt und Baklava
> Der Song „Sonnenallee“ von AOB ist eine Hymne auf ihre Hood. Beim
> Hähnchenessen im Kiez geht es um Musik, das Leben in Neukölln und die
> Bullen.
Bild: AOB stehen auf Baklava! In einem Laden an der Sonnenallee: Almani, Haki, …
Berlin taz | Es sind gestandene Männer, die da an der Glasvitrine die
Auslage betrachten. Zuckersirup lässt Bleche mit Baklava aus Teig,
Pistazien und Haselnüssen hell schimmern. „Diese kleinen hier sehen krass
aus“, sagt Haki und deutet auf ein Tablett in der Ecke. Der Mann hinter der
Vitrine reicht für jeden Probierhäppchen herüber, und alle Augen leuchten.
„Das ist Neukölln“, sagt Haki später zu dieser Geste des Verkäufers.
Die Rap-Crew Army of Brothers, AOB, hat einen Song geschrieben, der für
viele Leute das Lebensgefühl in Berlin insgesamt, aber vor allem auch im
Süden der Stadt, zusammenfasst. „Wir wollten eine Hymne auf Neukölln
schreiben“, sagt Chapo.
Wie seine Kollegen Haki, Almani und Bangs ist er in dem Berliner Stadtteil
geboren und der festen Überzeugung, dass es vielleicht schönere Ecken in
der Hauptstadt gibt, aber kaum ein vielfältigeres und herzlicheres
Pflaster. Dass die ganze Republik immer wieder über Neukölln debattiert,
wie zuletzt nach Silvester, ist für sie eine Farce. „Ich würde niemals hier
wegziehen“, sagt Almani.
Die besagte Hymne auf Neukölln trägt den Namen „Sonnenallee“. Für den
Berliner Rapper Said ist die Sonnenallee der „Boulevard von Neukölln“. Er
rappt den eingängigen Refrain des Songs: „Liegt Weed in der Luft / und
Shishageruch / riecht das Fleisch nach Zimt /Weißt du wo wir sind / Auf der
Sonnenallee.“
Mit passendem [1][Clip] erschien das Stück im April 2017 bei Aggro TV; das
Online-Videoformat, mit dem das Label Aggro Berlin nach seiner Schließung
2009 weiterhin bundesweit für Aufsehen sorgte. Im hektisch aufgenommenen
Video sitzen AOB erst vor einem Imbiss an der Sonnenallee und essen
gegrilltes Hähnchen, später steht fast die halbe Straße vor der Kamera,
rappt über das Leben im Kiez.
## Broke und Straße
Fast sechs Jahre später sitzen die Musiker aus dem Video beisammen und
essen das berühmte in Knoblauchsoße marinierte Grillhähnchen an der
Sonnenallee. Fünf Alben haben sie inzwischen veröffentlicht, darunter sind
auch Soloprojekte von einzelnen Crew-Mitgliedern, trotzdem halten sie
eisern zusammen.
„Wir sind wie eine Familie“, sagt Almani. Er hat keinen Hähnchen-Teller
bestellt, weil er nebenbei als Boxtrainer arbeitet und noch Sport machen
will – was ihn allerdings nicht davon abhält, die Pommes seines
Bandkollegen Haki wegzufuttern. Was ihre Musik gegenüber der deutschen
Rap-Landschaft auszeichne? „Wir sind broke und Straße“, sagt Chapo mit
verschmitztem Lächeln.
Die Rapper sind alle um die 30 Jahre alt, zum Leben reicht ihnen ihre Kunst
nicht. „Wenn wir nur einer wären, würde das vielleicht klappen.“ Aber sie
sind eben insgesamt fünf Musiker bei AOB, und so finanzieren sie ihre
Leidenschaft quer.
Chapo hat Elektriker gelernt und arbeitet als Servicetechniker im
Brandschutz. Bangs, der am vergangenen Freitag ein neues Soloalbum
veröffentlicht hat, ist gelernter Heilerziehungspfleger und arbeitet in
einem Jugendklub. Haki, der neben Almani am meisten redet, repariert
Laptops und ist als Bühnenbauer tätig. Almani ist zweimal die Woche als
Security tätig und vermietet Boxautomaten. „Wir können nicht davon leben,
aber wir können es uns leisten, Musik zu machen“, sagt er.
## Zwischen Sozialromantik und rassistischen Stereotypen
Viele Geschichten aus Neukölln erlangten bundesweit Bekanntheit: Ein von
finanzieller Armut geprägter Stadtteil, der wegen seiner ehemaligen
Randlage an der Grenze zu Ostberlin seit den späten 1970er Jahren vor allem
von Arbeitsmigrant*innen und ihren Familien bewohnt wurde.
Vor diesem Hintergrund wurde zuletzt [2][über die Silvesternacht
diskutiert], nachdem am südlichen Ende der Sonnenallee Rettungskräfte mit
Feuerwerkskörpern beschmissen wurden. Vor dem selben Hintergrund wurde auch
bereits 2006 über die in einer Parallelstraße zur Sonnenallee gelegene
Rütli-Schule diskutiert, nachdem dort Lehrer*innen einen Brandbrief
verfasst hatten, weil sie wegen chaotischer Zustände den Schulbetrieb nicht
bewerkstelligen konnten.
Dabei ist die Berichterstattung aus Neukölln seit vier Jahrzehnten oftmals
entweder von Sozialromantik oder rassistischen Stereotypen geprägt. Für AOB
ist dabei klar, dass die Aufregung über den Bezirk oft maßlos überzogen
ist. Zu den Ereignissen in der Silvesternacht sagt Chapo: „Dass die Tat
falsch ist, ist klar. Die Bullen sind mir bisschen egal, aber Feuerwehr und
Krankenwagen anzugreifen, ist tabu.“
„Das gilt doch sogar im Krieg“, ergänzt Almani. Bangs meint: „Ich würde…
etwas anders sehen: Auch Polizei, egal welche Uniform, da steht doch ein
Mensch dahinter. Der hat doch auch vielleicht Kinder oder so, das geht
alles gar nicht.“
## Gegen Rassismus und „scheiß Razzien“
Die jungen Männer diskutieren auch kontrovers miteinander, sie kennen sich
teils seit ihrer frühen Jugend auf der Oberschule und sagen, sie seien wie
Brüder. Almani holt zu einer generellen Rassismuskritik aus: „Hier werden
sehr viele Menschen über einen Kamm geschoren. Dem Rassismus in den
Behörden muss mal intensiver nachgegangen werden. Die Strafverfolgung wird
immer bei uns gemacht“, sagt er. „Die sollen ihre scheiß Razzien sein
lassen in den Shishabars!“
„Und solche Worte von einem Deutschen“, sagt Chapo und lacht. Almani heißt
übersetzt der Deutsche, und das scheint für niemanden hier ein Problem zu
sein – genauso wie es kein Problem ist, dass sich die anderen
Crew-Mitgliedern nicht durchweg so sehen. Sie kommen ohnehin alle von hier;
Wörter wie „Habibi“ und „Canım“ verwenden die Rapper von AOB in einem
Atemzug mit „Kunst“ und zunehmend „fehlenden Freiräumen“ im Kiez.
Als die Hähnchen verputzt sind, laufen die Jungs einmal die Sonnenallee
herunter. Es geht vorbei an Altberliner Eckkneipen, Lebensmittelgeschäften
mit Gemüse unter Neonlicht und der besagten Konditorei Al-Joud, die von der
gesamten Mannschaft aufgesucht wird.
Auch vorbei geht es an einem Laden, der neu wirkt und Bondage- und
Sadomaso-Accessoires sowie Unterwäsche in Bio-Qualität anbietet.
Yuppie-Bedürfnisse vom Feinsten. Bangs sieht das gelassen. „So lange hier
jeder macht, was er will, ist doch geil“, sagt er. „Wenn durch so was die
Mieten nicht steigen, ist alles kein Problem.“
10 Feb 2023
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=9B0IFTmJVVk
[2] /Integrationsdebatte-und-Rassismus/!5910722
## AUTOREN
Cem-Odos Güler
## TAGS
Schwerpunkt Rassismus
Schwerpunkt Wahlen in Berlin
Rap
GNS
Sonnenallee
Silvester
A100
Sonnenallee
Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt Gentrifizierung in Berlin
wochentaz
## ARTIKEL ZUM THEMA
Jens Bisky über die Wahlen in Berlin: Die Neunziger sind vorbei
Berlin-Bashing ist langweilig, aber Giffeys Wohlfühlrhetorik hilft der
Stadt auch nicht weiter. Ein Gastbeitrag von einem Biografen Berlins.
Sonnenallee in Berlin-Neukölln: Große Kunst in Architekturperle
Auswärtige kennen es, Einheimische eher weniger: Neben dem Neuköllner
Schifffahrtskanal liegt das höchst kunstambitionierte Kongresshotel Estrel.
Nach Silvester-Randale in Berlin: Neuköllner Kids
Seit der Gewalt gegen Einsatzkräfte Silvester in Berlin haben
Schuldzuweisungen Konjunktur. Aber wie schaut es tatsächlich im Bezirk
Neukölln aus?
Hausprojekt in Neukölln: Gemeinwohl wieder möglich
Seit dem gescheiterten Vorkauf leben die Mieter der Hermannstraße 48 in
Unsicherheit. Nun aber verhandelt eine Wohnungsbaugesellschaft über den
Kauf.
Berichte aus der Nachbarschaft: Näher dran als die Zeitung
Blogs wie neukoellner.net besetzten Nischen im Web und galten mal als
Rettung des Lokaljournalismus. Nun drohen sie zu verschwinden.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.