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# taz.de -- Jens Bisky über die Wahlen in Berlin: Die Neunziger sind vorbei
> Berlin-Bashing ist langweilig, aber Giffeys Wohlfühlrhetorik hilft der
> Stadt auch nicht weiter. Ein Gastbeitrag von einem Biografen Berlins.
Bild: Blick auf den Fernsehturm aus einer Plattenbau-Wohnung am Platz der Verei…
Ausgerechnet den einen verstaubten [1][Karl-Scheffler-Satz] hat Franziska
Giffey Monate nach der Pannenwahl in ihrer Regierungserklärung bemüht. Die
Floskel, dass Berlin dazu verdammt sei, immer zu werden, niemals zu sein,
klang schon 1910 nichtssagend und feierlich raunend zugleich. Im Januar
2022 übersetzte die Regierende Bürgermeisterin sie in ihre Sprache: In
Berlin werde „gestern wie heute Zukunft gemacht“. Rhetorisch und inhaltlich
anspruchsloser lässt sich kaum ausdrücken, dass man Aufbruch will, aber
bloß nicht zu sehr.
[2][Eine aktuelle Forsa-Umfrage für die Berliner Zeitung] hat ergeben, dass
drei Viertel der Befragten mit der Arbeit der Landesregierung unzufrieden
sind, dass lediglich 66 Prozent gern in der Stadt leben, unter den nach
1990 Zugezogenen ist die Zahl noch geringer. Die skandalös gescheiterte
Wahl vom September 2021 und der nicht weniger skandalöse, politisch
ausweichende Umgang damit haben das Vertrauen, Berlin-Politik könne die
Probleme der Stadt erfolgreich bearbeiten, bei vielen grundsätzlich
erschüttert. „Ich weiß wirklich nicht, wen ich wählen soll“ – diesen S…
hört man derzeit oft.
Gegen die Ratlosigkeit hilft auch das langweilig gewordene Berlin-Bashing
nicht, die hämische Kritik, die zwischen Pech, kleinen Ärgernissen,
wichtigem Streit und großen Problemen kaum unterscheidet. Sie dient der
Selbstbestätigung. Die Wirklichkeit der Stadtgesellschaft verfehlt sie
ebenso wie die zum Klischee geronnenen Zuschreibungen. Verdammt zum Werden?
Bleibt hier nicht zu vieles zu lange beim Alten?
Berlin ist langsam. Es geht mit und in der Stadt keineswegs schneller voran
als andernorts. Modernisierung ist, im Gegensatz zu dem, was Scheffler und
seine Zeitgenossen glaubten, kein alles mit sich reißender Malstrom,
vielmehr ein mühsames Geschäft. In der Zeit, die es heute braucht, [3][eine
U-Bahnstation zu sanieren], wurden vor über 100 Jahren ganze Bahnlinien
fertiggestellt.
Und nicht Tempo und Entschlossenheit bestimmen heute den Alltag, vieles
bleibt zäh, die Beharrungskräfte sind stark. Auch Avantgardisten der Stadt
erfinden sich nicht ständig neu, sondern suchen gern eine Nische. Das macht
das Leben hier angenehm, aber oft auch zäh, nervend, zeitaufwändig und
enttäuschend vorhersehbar. Die Symphonie der Großstadt ist ein sehr
langsamer, immer wieder unterbrochener, schief intonierter Kiezschlager
geworden.
## Eine Stadt im Wachstumsstress
Immer im Werden? Wer auf die Stadtpolitik schaut, entdeckt in erster Linie
Kontinuitäten: Seit 1989 hat es keinen Senat ohne Beteiligung der SPD
gegeben, seit 21 Jahren stellen die Sozialdemokraten den Regierenden oder
die Regierende. Die großen Probleme sind geblieben: Wohnen, Verkehr,
Verwaltung. Die Infrastruktur verlangt von den einzelnen eine Menge an
Kompensationsleistungen – und immer wieder Geduld, Gelassenheit,
Improvisationstalent. Soziale, politische und kulturelle Dynamik zeigt
Berlin noch im Schaufenster, hat sie aber nur noch in Einzelfällen im
Angebot.
Das hat viele Gründe. Einer davon ist das Erbe der Neunziger Jahre, als in
der glücklich zusammenwachsenden Stadt viele, allen voran die
Diepgen-Landowsky-CDU, das große Rad drehen wollten, bis der
Bankenskandal offenlegte, dass die Stadt vor allem eines war: pleite.
Bis in die jüngste Zeit haben die damals geplanten Großprojekte die Stadt
und das Reden über sie ebenso geprägt wie das unumgängliche Sparen unter
Wowereit: das Humboldt-Forum, der Flughafen, die Kanzler-U-Bahn. [4][Die
Geschichte der A-100] reicht bis in das alte Westberlin zurück.
Stadtpolitisch lässt sich aus der Geschichte dieser Großvorhaben lernen,
dass sie in neunzig von hundert Fällen die mit ihnen anfangs verbundenen
Hoffnungen nicht einlösen. Also braucht es gescheite Verfahren, die Pläne
zu korrigieren.
## Berlin leidet seit 2010 am Wachstumsstress
Gegen Ende der in Berlin sehr langen Neunziger entstand auch die bis heute
überzeugendste Selbstbeschreibung der vereinigten Stadt als Bühne der
Generation Berlin, jener unternehmerischen Einzelnen, die hier sich und
ihre Projekte verwirklichen können, weil die Stadtgesellschaft liberal ist
und das Leben nicht zu teuer, weil Räume für Experimente zur Verfügung
stehen.
Der Wachstumsstress, unter dem die Stadt seit spätestens 2010 leidet, hängt
wesentlich mit dem Erfolg dieser Künstler, Projektemacher,
Lebensstilunternehmer zusammen, einem Erfolg, der seine Voraussetzungen
zerstörte. Ihm verdankt Berlin den Ruf, der bis heute Zehntausende von
überall anzieht, und auch wirtschaftliches Wachstum.
Die Erinnerung an jene Jahre prägt bis heute die Atmosphäre und stärkt die
Kultur des Individualismus. Doch die Nostalgie gilt einer unvollständig
vergegenwärtigten Vergangenheit. Deindustrialisierung, die harten
Vereinigungskonflikte, nationalistisch befeuerte Ausgrenzungsroutinen
werden im Rückblick gern vergessen.
## Viele planen einen frühen Ruhestand
Inzwischen plant die Generation Berlin den Ruhestand. Gar nicht so wenige,
die dann doch in anderen Städten Karriere gemacht haben, spielen mit dem
Gedanken, bei ihrem Renteneintritt in die Hauptstadt zu ziehen. Wenn der
Eindruck nicht täuscht, könnten Teile Berlins zu einer Art Florida der
alten Bundesrepublik werden. Alle werden dann beobachten können, wie für
die Neunziger Jahre entscheidenden Vorstellungen von Selbstentfaltung,
Emanzipation, Individualisierung in Gegensatz zur Logik der Selbsterhaltung
treten.
Der in Berlin forschende Soziologe [5][Philipp Staab] hat in seinem Buch
„Anpassung. Leitmotiv der nächsten Gesellschaft“ verstörend klug und mit
Blick auf das gesamte Land analysiert, welche Folgen es hat, wenn
„Selbstverwirklichungsfantasien und Politiken der individuellen Freiheit“
zurücktreten hinter „Strategien des Schutzes von Leben sowie der Betonung
gesellschaftlicher Vernetzung und Abhängigkeit“. Die Pandemie hat es allen
vor Augen geführt, der Angriffskrieg gegen die Ukraine, der Klimawandel
zeigen, wie wichtig Strategien der Selbsterhaltung sind. Man kann das Thema
nicht abwählen.
## Streit muss erzwungen werden
Wahrscheinlich hat Franziska Giffey 2021 auch deshalb die Wahlen gewonnen,
weil sie das Versprechen verkörpert, die Stadt zu managen, sich um alle zu
kümmern, ohne den Bewohnern allzu viel Ungewohntes, Neues abzuverlangen.
Sie macht halt gestern wie heute Zukunft. „Zukunft“ – eine dieser
entpolitisierenden Wohlfühlvokabeln wie „urban“ oder „Metropole“. Sie
verschleiern die Verteilungskonflikte, die notwendig zum Großstadtleben
gehören, den ständigen Kampf um Zeit, Raum, Aufmerksamkeit.
Was zu tun wäre, um diese Konflikte im Sinne einer „Stadt für alle“ zu
bearbeiten, ist bekannt: Es braucht funktionierende öffentliche
Infrastrukturen. Dem wird kaum widersprochen, aber meist ist damit die
Vorstellung von einer Normalität verbunden, die sich ebenso als Illusion
erweisen dürfte, wie der Rückgriff auf historische Modernisierungsfloskeln.
Berlin ist weder so überwältigend wie die explosionsartig entstehende Stadt
um 1900, noch so programmatisch modern wie die Stadt der Zwanzigerjahre.
Verzagtheit herrscht vor, wie jeder feststellen kann, der aus dem
Hauptbahnhof tritt, jüngst fertiggestellte Wohnhäuser betrachtet, rings ums
Neubauschloss geht oder landespolitische Debatten verfolgt. Man will schon
besonders sein, aber dabei nicht aus dem Rahmen fallen. Deswegen wirkt
vieles so nett, aber unerfreulich, weit hinter den Möglichkeiten
zurückbleibend.
## Politisieren entscheidende Fragen
Zwei der am meisten angefeindeten Berliner Vorhaben weisen wenigstens in
die richtige Richtung, weil sie weder Wohlfühlrhetorik bemühen noch verzagt
sind. Der erfolgreiche Volksentscheid [6][Deutsche Wohnen & Co. enteignen]
und die auf den ersten Blick bloß niedlich scheinende Sperrung von [7][500
Metern Friedrichstraße für den Autoverkehr] politisieren entscheidende
Fragen.
In beiden Fällen ist nicht alles überzeugend, werden die praktischen
Wirkungen sehr wahrscheinlich weniger revolutionär sein als erhofft oder
befürchtet. Aber sie erschweren das Ausweichen, das Weiterwursteln,
ermöglichen, ja erzwingen politischen Streit, in dem dann Mehrheiten
gewonnen werden müssen. Die Stadt soll entscheidender Akteur auf dem
Wohnungsmarkt werden und die Voraussetzungen dafür schaffen, dass man auf
Autos verzichten kann.
Nach all den Pannen und angesichts der Kaskade von Krisen ist die Sehnsucht
nach bloß technokratischen Lösungen in Berlin verständlicherweise groß. Und
diese vertragen sich bestens mit der Semantik der Modernisierung und den
Klischees von Tempo, Wandel, Veränderungsversessenheit. Interessant wird
die Stadt, wenn sie den Widerstreit zwischen Selbstentfaltung und
Selbsterhaltung als Konflikt gestaltet, in dem die richtige, die einfache
Lösung erst noch gefunden, erprobt werden muss, will Berlin nicht verdammt
sein, ängstlich auf die nächste Panne zu warten.
10 Feb 2023
## LINKS
[1] /Berlins-neuer-Markenauftritt/!5707637
[2] https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/kommentar-exklusive-fo…
[3] /Senatorin-Jarasch-ueber-U-Bahn-Bau/!5829822
[4] /Autobahnausbau-in-Berlin/!5907905
[5] /Soziologe-Philipp-Staab-ueber-Klimakrise/!5905406
[6] /Debatte-um-Enteignungen-in-Berlin/!5899360
[7] /Fussgaengerzone-Friedrichstrasse-in-Berlin/!5909183
## AUTOREN
Jens Bisky
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