# taz.de -- Jubiläum von „In aller Freundschaft“: Tausendundeine Krankenha… | |
> Trotz bedrückender Corona-Berichte bleiben Serien über Ärzt*innen | |
> beliebt. Die ARD-Serie „In aller Freundschaft“ läuft nun zum 1.001 Mal. | |
Bild: Keine Sorge: Einmal Sachsenklinik und alles ist wieder gut | |
Berlin taz | Scheherazade beendete das Morden von König Schahriyar, indem | |
sie ihm 1.001 Nächte lang Geschichten erzählte. Der König war ein fragiler | |
und eifersüchtiger Mann und brachte, laut einer alten Geschichte, | |
rachsüchtig seine Frau um. Etliche weitere Frauen fielen seinem gekränkten | |
Ego zum Opfer – bis Scheherazade die Bildfläche betrat. Sie erzählte ihm | |
Nacht für Nacht Geschichte um Geschichte und erfand nebenbei den | |
Cliffhanger. Wenn der Morgen anbrach und König Schahriyar sonst die Frau | |
tötete, mit der er die Nacht verbrachte, war die Geschichte an einem so | |
spannenden Punkt angelangt, dass er Scheherazade verschonte, damit sie in | |
der nächsten Nacht weitererzählen konnte. | |
Der persische Klassiker der Weltliteratur und Scheherazades 1.001 | |
Erzählungen bekommen nun eine Schwester aus Sachsen: In der ARD läuft die | |
1.001. Folge der Serie „In aller Freundschaft“. | |
Seit 1998 läuft die Krankenhausserie des MDR auf den Bildschirmen deutscher | |
Wohnzimmer. Bis auf „Schloss Einstein“ und „Die Falter“ gab es keine Se… | |
länger im Programm des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. „In aller | |
Freundschaft“ ist dabei so erfolgreich, dass es seit 2015 einen Ableger | |
gibt: [1][„Die jungen Ärzte“]. | |
In den letzten 25 Jahren trotzte die Serie der Digitalisierung, | |
konkurrierte erfolgreich mit Ami-Hits wie „Grey’s Anatomy“ und überlebte | |
Netflix. Zum 1.000. Jubiläum schalteten fast sechs Millionen Menschen zur | |
Primetime ein. | |
## Ärzt*innenmangel bleibt unbeleuchtet | |
„In aller Freundschaft“ ist damit ein Quotengarant für die ARD, ein treuer | |
Unterstützer wie Sancho Pansa für Don Quijote im Kampf gegen die Windräder | |
der Streamingplattformen. Doch warum ist das so? Haben wir seit den | |
bedrückenden Berichten aus überfüllten Krankenhäusern der letzten drei | |
Pandemiejahre und wöchentlichen Coronatests und Nasenbohrern nicht genug | |
von Menschen in Kitteln? | |
Deutschland liebt seine TV-Ärzt*innen. Die Schwarzwaldklinik löste in den | |
Achtzigern einen Boom der patienten*innenliebenden und | |
unbeschwerten Doktor*innen aus. Das Schwarzwälder Glottertal überrannten | |
Fans aus aller Welt. Konkurrenz finden die Einschaltquote von 25 Millionen | |
Menschen bis heute höchstens in Fußballfinalen. | |
Seitdem behandeln TV-Mediziner*innen auf Bergen oder unter Palmen, | |
engagiert, aufmerksam und schnell. Doch mit der Fiktion kann die Realität | |
nicht mithalten. [2][Den Mangel an Ärzt*innen in Deutschland] bilden sie | |
kaum ab. Selten hat medizinisches Personal so viel Zeit wie die | |
Schauspieler*innen, das ist klar. Wer mal Stunden im Wartesaal einer Praxis | |
verbracht hat, kennt sicher trotzdem den Wunsch nach der bedingungslosen | |
Hingabe von TV-Ärzt*innen. Die von den Serien geschürte Erwartungshaltung | |
hat sogar einen eigenen Namen: „Grey’s Anatomy Effect“. | |
Die Serien rund um Desinfektionsmittel und Computertomografen sind kein | |
deutsches Phänomen. Die Anfänger*innen bei Scrubs, der | |
schmerzmittelabhängige Dr. Gregory House oder Meredith Grey und ihre | |
Kolleg*innen des Seattle Grace Hospitals schnippeln und spritzen seit | |
Jahren an Patient*innen herum – und sehen dabei auch noch verdammt gut | |
aus. | |
Krankenhaus kann Erotik: Die pastellfarbene Arbeitskluft mindert keineswegs | |
den Sexappeal von George Clooney und Co. Unterstützt werden erotische | |
Fantasien beim Seriensuchten durch die Vielzahl an Affären, die in den | |
TV-Krankenhäusern zelebriert werden. | |
Zwischen all den Flirts diagnostizieren sie nebenbei meist Krankheiten, die | |
sonst nur Menschen kennen, die krank nach ihren Symptomen googeln. Selbst | |
dann tauchen diese Krankheiten weit hinten auf. Gemeinsam ist ihnen aber: | |
Sie klingen dramatisch – und beim Drama bedienen sich die Serien gerne. | |
## Angst vor der OP begünstigt | |
Auch das hat Auswirkungen auf den realen Krankenhausalltag, wie eine Studie | |
von 2009 erahnen lässt. Der Chirurg und Kommunikationswissenschaftler Kai | |
Witzel befragte 162 Patient*innen zu ihrer Angst vor einer Operation an | |
der Gallenblase oder eines Leistenbruchs und welche Erwartungen sie an ihre | |
Behandlung hätten. Zudem sollten sie ihre Fernsehgewohnheiten und ihre | |
Vertrautheit mit Arztserien angeben. | |
Witzel kam zu dem Ergebnis, dass Patient*innen, die häufiger Arztserien | |
schauen, mehr Angst vor Operationen hätten. | |
Mehrere Studien aus den USA unterstützen die These. Sie verglichen die | |
Todesrate bei Patienten*innen mit Schädel-Hirn-Trauma in der Realität | |
und in den Krankenhausserien. Im TV-Studio starben 22 Prozent der | |
Patient*innen, im echten Leben sind es 7 Prozent. Noch beachtlicher ist der | |
Unterschied bei Notfalloperationen: 71 Prozent der | |
Notfallpatient*innen im Fernsehen müssen sofort operiert werden, in | |
der realen Notfallaufnahme sind es 25 Prozent. | |
Aber gerade dieses Ausloten von Tod und Schmerz macht den Reiz der | |
Arztserien offenbar aus. Ohne selbst in Gefahr zu schweben oder die Angst | |
zu spüren, eine geliebte Person zu verlieren, lässt sich in der | |
Sachsenklinik oder im Behandlungszimmer von Dr. House die Grenzerfahrung | |
Tod ein bisschen nachempfinden. | |
„Serien bieten einen Schutzraum, in dem man sich in Situationen | |
hineinversetzen kann und vielleicht auch etwas darüber lernt, wie es einem | |
selbst dabei gehen würde“, sagt der Medienpsychologe Leonard Reinecke im | |
Deutschlandfunk. Protagonist*innen könnten zu Vorbildern und | |
Wegbegleitern werden. Und das treibt „In aller Freundschaft“ auf die | |
Spitze. | |
## 1.001 sind nicht genug | |
Seit der ersten Folge stehen Thomas Rühmann als Dr. Roland Heilmann und | |
Alexa Maria Surholt als Sarah Marquardt vor der Kamera in der | |
Sachsenklinik, in [3][der fast niemand Sächsisch spricht]. Einzig bei | |
Hausmeister Ottmar Wolf schimmert Mundart durch. Die meisten Hauptfiguren | |
sind seit Anfang der 2000er dabei. Karsten Kühn ist mit der Serie groß | |
geworden und spielt seit seinem neunten Lebensjahr Dr. Heilmanns Sohn | |
Jakob. Man feiert, trauert und altert zusammen. | |
Nach 25 Jahren haben die Figuren verwobenere Familienstammbäume als die | |
Dynastien von Game of Thrones. Die [4][inoffizielle Fanpage von „In aller | |
Freundschaft“] umfasst rund 1.400 Seiten, in denen sämtliche | |
Oberärzt*innen, Pfleger*innen und Azubis und teilweise sogar deren | |
Blutgruppen aufgelistet ist. Eine weitere Website widmet sich | |
[5][ausschließlich der Familie Heilmann]. | |
Wenn dieser unverwüstliche Dr. Heilmann die Serientode von Ehefrau und | |
Tochter verkraftet, einen Flugzeugabsturz überlebt und Leukämie besiegt, | |
dann ist das ein Signal an alle Zuschauer*innen: Du schaffst das – egal | |
was. | |
Dabei schwingt sich der Tod verhältnismäßig selten durch die Drehtür der | |
Sachsenklinik. Keine 50 Patient*innen starben in den 1.000 Folgen der | |
ostdeutschen Heile-Welt-Klinik. Nach 45 Minuten haben Dr. Heilmann und sein | |
Team die Kranken geheilt. Ein Spannungsaufbau, den berühmte Arztserien | |
gemein haben: Eine Handlung ist innerhalb einer Folge abgeschlossen. Meist | |
taumelt eine menschgewordene Krankheit oder Verletzung ins Klinikfoyer. | |
Anschließend vergleicht das Arztteam Röntgenbilder und grübelt gemeinsam. | |
Irgendwann steht die Diagnose, die Behandlung zeigt Wirkung und | |
Zuschauer*innen können zufrieden den Fernseher ausschalten. | |
Und genau hier liegt einer der großen Unterschiede zwischen den 1.001 | |
Geschichten von „In aller Freundschaft“ und den 1.001 Cliffhänger-Nächten | |
von Scheherazade. Ein zweiter großer Unterschied: Nach 1.001 Nächten | |
verschonte König Schahriyar sie. Die Gründe dafür unterscheiden sich [6][in | |
den verschiedenen Übersetzungen.] In einer Version überzeugte Scheherazade | |
den König von dessen Grausamkeit, in einer anderen gebar sie ihm in der | |
Zwischenzeit drei Kinder. So oder so, sie musste nicht mehr weitererzählen. | |
Bei den insgesamt 85 Drehbuchautor*innen von „In aller Freundschaft“ | |
hingegen ist nach 1.001 Folgen nicht Schluss. Bis 2026 hat die ARD schon | |
mehr als 80 weitere Folgen geplant. | |
21 Feb 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Fernsehen-zu-Weihnachten/!5739543 | |
[2] /Medizinische-Versorgung-auf-dem-Land/!5855737 | |
[3] /Leipziger-Arztserie-In-aller-Freundschaft/!5467791 | |
[4] https://in-aller-freundschaft.fandom.com/wiki/In_aller_Freundschaft_Wiki | |
[5] https://heilmann-fanpage.jimdo.com/ | |
[6] /Orientalistin-ueber-arabische-Literatur/!5862729 | |
## AUTOREN | |
Anton Kämpf | |
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