# taz.de -- Bildung in Estland: Schulreform gegen den Krieg | |
> Bislang gibt es in Estland getrennte Schulsysteme für estnisch- und für | |
> russischsprachige Kinder. Ab nächstem Jahr soll damit Schluss sein. | |
Bild: Bald sollen alle Kinder auf estnischsprachige Schulen gehen – wie diese… | |
TALLINN taz | Estnisch hört man auf dem Pausenhof von Aleksandra | |
Averjanovas Töchtern selten. Auch in den Klassenzimmern ihrer Schule in der | |
estnischen Hauptstadt Tallinn kommt die Landessprache nur im | |
Sprachunterricht vor. Averjanovas Töchter gehören zur | |
[1][russischsprachigen Minderheit in Estland]. Sie besuchen eine | |
russischsprachige Schule – wie viele Kinder aus der Minderheit. „Meine | |
Ältere spricht gebrochenes Estnisch, die andere kann die Sprache ein | |
bisschen besser, weil sie auch mehr estnische Freunde hat“, erzählt | |
Aleksandra Averjanova der taz. | |
Ab dem Schuljahr 2024/2025 soll sich das ändern. Dann will Estland seine | |
russischsprachigen Schulen abschaffen, so hat es das Parlament im Dezember | |
beschlossen. Das seit der estnischen Unabhängigkeit unveränderte geteilte | |
Kita- und Schulsystem, das estnisch- und russischsprachige Schüler*innen | |
trennt, soll vereinheitlicht werden. Erst- und Viertklässler sollen den | |
Plänen zufolge ab 2024 komplett auf Estnisch beschult werden, weitere | |
Klassenstufen folgen im Schuljahr darauf. | |
Mit der Schulreform reagiert die Regierung auf den [2][Angriffskrieg | |
Russlands gegen die Ukraine]. Es ist nicht die einzige Maßnahme, die ein | |
politisches Zeichen setzen soll: Im August entschied die Regierung, | |
sämtliche sowjetische Monumente abzubauen. Russischen Studierenden ist | |
[3][der Zugang zu estnischen Universitäten untersagt,] russische | |
Staatsangehörige bekommen derzeit grundsätzlich kein Visum mehr für | |
Estland. Die nun verabschiedete Schulreform hatte die Regierung bereits | |
nach der russischen Annexion der Krim 2014 in Erwägung gezogen. | |
Viele Eltern und Lehrer*innen glauben, dass die Reformvorhaben scheitern | |
werden. Rund 23 Prozent der Bevölkerung in dem Land mit rund 1,3 Millionen | |
Einwohner*innen gehören der russischsprachigen Minderheit an. 13,5 | |
Prozent der Schüler*innen in Estland besuchen russischsprachige Schulen. | |
Laut Eurydice, dem EU-Informationsnetz fürs Bildungswesen, liegen die | |
Estnischkenntnisse von mehr als 30.000 Schüler*innen und 2.245 | |
Lehrer*innen in Grund- und Oberstufe unter dem Niveau, das für den | |
Unterricht notwendig wäre. | |
## „Wie soll es funktionieren?“ | |
Die Zweifel an der Reform teilt auch Aleksandra Averjanova. Sie sehe ein, | |
dass Kita und Schule auf Estnisch sein müssten. „Aber wie soll es | |
funktionieren, wenn die gesamte Kindergruppe aus russischsprachigen | |
Familien und Gegenden stammt und auch die Lehrerschaft Russisch als | |
Muttersprache hat?“, fragt Averjanova. Sie macht sich besonders große | |
Sorgen um den Übergang für ihre jüngere Tochter, denn sie hat Dyslexie, | |
eine Leseschwäche. | |
Averjanova selbst war Erstklässlerin, als die Sowjetunion zerfielt. Zu | |
Hause sprach sie immer Russisch. Lange hatte sie den sogenannten grauen | |
Pass der Staatenlosen, bis sie als Erwachsene eine Zertifikatsprüfung in | |
estnischer Sprache bestand. Wie viele andere Russischsprachige in Estland | |
fanden ihre Eltern keinen sozialen und kulturellen Anschluss in der | |
estnischen Gesellschaft. Nach 1989 bekam der Vater den russischen Pass, | |
weil er aus Russland kam, während ihre Mutter den grauen behielt. | |
Estnisch, die einzige Amtssprache des Landes, können die Eltern noch immer | |
nicht. „Ich habe Estnisch erst bei meinem ersten Job gelernt, weil eine | |
Arbeitskollegin kein Russisch sprach“, erinnert sich Averjanova. Die | |
meisten von Averjanovas Schulkameraden sind ins Ausland ausgewandert. | |
Averjanovas Töchter, heute acht und 13 Jahre alt, haben einen | |
estnischsprachigen Kindergarten besucht. Weil sie in Tallinn leben, werden | |
sie in ihrem Alltag überwiegend mit Estnisch konfrontiert. | |
Anders sieht es in Narva aus. In der Stadt an der Grenze zu Russland sind | |
nur vier Prozent der Bevölkerung estnische Muttersprachler*innen. | |
Estnischsprachige Kindergärten oder Schulen besuchen die wenigsten. | |
Im Telefonat mit der taz erklärt der Leiter des größten Gymnasiums von | |
Narva, Slava Konovalov, wie die Vorbereitungen auf die Reform laufen: nicht | |
gut. „Man hätte es wie in Finnland machen sollen, wo jede Veränderung erst | |
an einer kleinen Gruppe getestet wird, bevor sie breit umgesetzt wird“, | |
findet Konovalov. Mit einer so kurzen Übergangszeit sei es nahezu | |
unmöglich, ausreichend gut ausgebildete estnischsprachige Lehrer*innen | |
zu finden. | |
Konovalov ist 54 Jahre alt, hat in Russland studiert und kehrte 1992 nach | |
Estland zurück. Seitdem ist er im Bildungsbereich tätig. Kostenlose | |
Sprachkurse, etwa von den Kommunen, werden der Lehrerschaft zwar bereits | |
ausdrücklich empfohlen. Aber nur wenige finden die Zeit, nach dem | |
intensiven Lehrjob noch zweimal in der Woche in die Sprachschule zu gehen. | |
An seinem Gymnasium bietet Konovalov einen wöchentlichen estnischen | |
Stammtisch an, allerdings bleibt auch der eigentlich immer nur dünn | |
besucht. Konovalov rechnet mit einem Zuwachs an Frührentner*innen und | |
Aussteiger*innen ab nächstem Jahr. | |
Die Universitäten haben angefangen, [4][zusätzliche Estnisch-Module für | |
Lehramtsstudierende] anzubieten, um dem Mangel beizukommen. Aber die Zeit | |
drängt. Mit einem höheren Lohn von 3.000 Euro brutto im Monat versucht die | |
Regierung, Lehrer*innen nach Narva zu locken – in die Stadt, die | |
jahrzehntelang als Ort am Rande betrachtet wurde, [5][als EU-Grenze zu | |
Russland]. Der monatliche Mindestlohn in Estland beträgt 1.074,4 Euro. | |
Konovalov glaubt nicht, dass die Maßnahme zum Erfolg führt. „Wer soll | |
bereit sein, mit seiner Familie wegen einer Lehrstelle hierher zu ziehen | |
und einen komplett russischen Alltag zu leben?“, fragt sich der | |
Schulleiter. „Für viele in Estland ist das unvorstellbar.“ | |
Zumal nicht nur Schulen in russisch dominierten Regionen Schwierigkeiten | |
haben, genug Lehrpersonal zu finden. „Auch in der Stadt Tartu, in der die | |
prozentuale Sprachverteilung im Vergleich zu Narva gespiegelt ist, beklagen | |
die Schul- und Gymnasialleiter*innen mangelndes estnischsprachiges | |
Personal, um das neue Gesetz umzusetzen“, sagt Bildungsexperte Konovalov. | |
Nicht nur unter russischsprachigen Eltern ist die Begeisterung für die | |
Reformen gering. In den Kommentarfeldern einiger digitaler estnischer | |
Medien kann man sich ein Bild davon machen, welche Befürchtung die | |
estnischen Eltern haben: dass das Schulniveau sinken könnte, sobald | |
russischsprachige Schüler*innen zusammen mit estnischsprachigen lernen | |
und sobald Lehrer*innen in gebrochenem Estnisch unterrichten. Dass die | |
russischsprachigen Schulen bei Pisa-Studien durchweg schlechter abschnitten | |
als die estnischsprachigen, befeuert die Vorbehalte gegenüber der | |
gemeinsamen Beschulung weiter. | |
## Kinder schon in der Kita getrennt | |
Ebenfalls in Tallinn wohnt Kita-Erzieherin Pille Kruus. Sie ist ein Jahr | |
älter als Averjanova, aber zuhause hat Kruus immer estnisch gesprochen. Von | |
den zwei Jahren Russischunterricht zu Sowjetzeiten hat sie nichts behalten. | |
Nach der Unabhängigkeit ihres Landes 1991 besuchte sie eine | |
estnischsprachige Schule. Russischsprachige Freund*innen hatte sie nicht. | |
In ihrer Kita ist nur ein einziges Kind aus einer russischsprachigen | |
Familie. „Ich finde es extrem schade, dass wir so eine segregierte | |
Gesellschaft haben, es ist ein tiefgreifendes Problem“, sagt Kruus. Sie | |
verstehe die Eltern, die sich lieber für eine russische Kita und Schule | |
entscheiden, „damit ihre Kinder kein rudimentäres Estnisch lernen“, aber | |
sie habe kein Verständnis für die vielen russischsprachigen Familien, die | |
nach mehr als 30 Jahren immer noch kein Estnisch gelernt haben und nur die | |
Nachrichten aus Russland verfolgen. Von solchen Menschen gebe es viele in | |
Estland. „Spätestens seit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine hätte ihnen | |
klar sein sollen, welches Land für die richtigen europäischen Werte steht“, | |
sagt Kruus. | |
Von klein auf müssten die Kinder ihren Alltag zusammen verbringen, damit | |
auch die Gesellschaft zusammenwachsen kann, findet sie. Ihr Kindergarten | |
führt seit Kriegsbeginn ein Projekt mit einer russischsprachigen Kita | |
durch. Kinder und Erzieher*innen sollen zusammen spielen, backen und | |
Klischees abbauen. „Es sollten mehr solcher Projekte entstehen, aber das | |
ist eine komplette Ausnahme“, sagt Kruus. | |
Was Kruus in der Kindertagesbetreuung beobachtet, sieht Averjanova bei den | |
Schulkindern. „Das Integrationsmodell mit zwei getrennten Schulen, das wir | |
seit mehr als 30 Jahren versucht haben, hat überhaupt nicht funktioniert“, | |
findet die Mutter. „Das Parlament will nun mit dem neuen Gesetz gegen die | |
gegenwärtige Segregation agieren, aber ich denke, die Gesellschaft wird | |
getrennt bleiben.“ | |
26 Jan 2023 | |
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## AUTOREN | |
Gemma Teres Arilla | |
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