Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Erinnerungen an Westdeutschland: Der Schatten auf dem Bahnsteig
> Neues aus dem Nachlass: Der Schriftsteller Peter Kurzeck erzählt von der
> US-Armee in Gießen und Displaced Persons in der frühen Bundesrepublik.
Bild: Da arbeitete Kurzeck bei der US-Armee: Besuchstag 1966
Es gibt Werke, die von Anfang an ihre Anlage zum Fragment in sich tragen.
Die großen Romane und Zyklen des 20. Jahrhunderts verrieten oft allein
schon durch ihre überbordende Konzeption, dass ein Menschenleben nicht
ausreichen konnte, um sie wirklich abzuschließen – zumal das Unvollendete
und Fragmentierte ohnehin zum Signum der Moderne geworden war. Umso mehr
gilt diese Prämisse für jene Autorinnen und Autoren, die an ihrem Leben
entlang schreiben. Und ihm notwendigerweise hinterherhinken.
Es ist wie mit der Karte im Maßstab eins zu eins aus Jorge Luis Borges’
Erzählung „Von der Strenge der Wissenschaft“: Weil die bisher erstellten
Abbilder nicht mehr genügen, erstellen die Kartografen eine Karte, „die die
Größe des Reichs besaß und sich mit ihm in jedem Punkt deckte“.
Daran könnte denken, wer in Peter Kurzecks großen Zyklus „Das alte
Jahrhundert“ eintaucht. Den Jahren 1983 und 1984 kam in diesem
autobiografischen Erzählprojekt zentrale Bedeutung zu. Es ist die Zeit, als
Kurzeck mit seiner Tochter Carina und Freundin Sibylle in Frankfurt lebt,
sein Freund Jürgen nach Südfrankreich zieht, er selbst kleinere Reisen
unternimmt.
Jene Jahre aber auch, in denen seine kleine Familie auseinanderbricht.
Glück und Verlust trennen nur wenige Monate. Von dieser Umbruchphase
erzählt Kurzeck ausufernd und abschweifend, mit etlichen Rückblenden ins
Kindheitsdorf und die frühen Jahre als Schriftsteller.
## Verschlungene Alltagswege
Kurzecks Bücher handlungsarm zu nennen, wäre fast noch untertrieben: Für
Leserinnen und Leser, die windungsreiche Plots lieben, ist dieser Autor
nicht zu empfehlen. Wer in der Literatur aber eine suggestive literarische
Stimme sucht, die uns auf verschlungene Alltagswege mitnimmt und
Nebensächliches zum Objekt der poetischen Erkundung macht, ist bei diesem
akribischen Zeit- und Weltbewahrer ganz richtig.
Kurzecks karg erscheinender und doch überreicher Romankosmos erwuchs
seinerzeit aus einer schmalen Erzählung, verzweigte sich mehr und mehr und
hätte am Ende zwölf umfangreiche Bücher umfassen sollen, wobei auch dieser
Vorsatz womöglich – bei diesem Autor wusste man nie – noch erweitert worden
wäre. Ja, wäre Peter Kurzeck nicht 2013 [1][im Alter von 70 Jahren] aus dem
alten Jahrhundert, seinem Leben und dem Schreiben herausgerissen worden.
Angefangen mit „Übers Eis“ von 1997, veröffentlichte Kurzeck insgesamt f�…
der geplanten Romane und hinterließ etliche Manuskripte in
unterschiedlichen Vollendungsstadien. Diese Fragmente zugänglich zu machen,
hat sich Kurzecks Freund, langjähriger Lektor und Nachlassverwalter Rudi
Deuble zur Aufgabe gemacht – nicht mehr im Stroemfeld Verlag, [2][der 2018
Insolvenz anmelden musste,] sondern inzwischen bei Schöffling & Co.,
ebenfalls in Kurzecks Frankfurt beheimatet.
Nach „Bis er kommt“ (2015) und „Der vorige Sommer und der Sommer davor“
(2019) ist nun der dritte Band nach Kurzecks Tod erschienen, und der achte
des „Alten Jahrhunderts“.
## Besänftigender Rhythmus
Knapp 100 Seiten sind von „Und wo mein Haus?“ überliefert, vier vollendete
Kapitel, dazu etliche Notizen und Passagen, die den Fortgang des Romans
zumindest andeuten. Nach wenigen Zeilen hört man den vertrauten
Kurzeck-Sound, den staccatohaften, besänftigenden Rhythmus seiner Prosa.
Man ist zu Hause in seinen elliptischen Sätzen, seiner Musikalität,
aufgehoben in der stupenden Benennung der Dinge. Bekannte Themen und Motive
erkennt man rasch wieder. Und auch in diesem Buch ist die sanfte
Melancholie spürbar, mit der die Erinnerung überzogen ist.
Kurzeck ist der Bewahrer des Schwindenden, ein manischer Chronist. Das
bedeutet zugleich, dass die verschiedenen Zeiten – unmittelbarer Nachkrieg,
die 60er und frühen 80er Jahre – ineinanderfließen. 2010 hatte Kurzeck
notiert, auf welchen Ebenen sich dieser achte Band bewegen sollte: „Und wo
mein Haus? Februar 1983. Jürgen und Pascale in Frankfurt. Erinnerung an die
US Army in Gießen. Die Displaced Persons. […] Schwarzmarkt +
Währungsreform. Flüchtlingslager + Eisenbahnfahrten.“
Heimatlose, Zwangsarbeiter und Zwangsverschleppte – Kurzeck fühlte sich
ihnen verbunden. Er war, so erzählt es Rudi Deuble in seinem Nachwort, von
1961 bis 1971 in der Personalabteilung für die deutschen Zivilangestellten
des US-Army-Depots in Gießen tätig.
## Vertriebene als „Hilfsamis“
Noch in den 60ern arbeiteten in den Labor Service Companies ehemalige
Displaced Persons, „Hiwis, Hilfsamis, Amipolacken“, wie die Leute sagten.
Irgendwann aber verschwanden diese Menschen. Sie gerieten aus dem Blick,
waren allerdings weiterhin da, aussortiert und unbeachtet. Auch sie müssen
vom Erzähler ins Bewusstsein zurückgeholt werden. Noch frühere Bilder
tauchen auf, die Trümmer in den Straßen, die Zerstörung und Unbehaustheit.
Sie verdeutlichen, dass auch das Vertriebenenkind Peter Kurzeck eine
ortlose Person ist.
Der nicht mehr selbstverständlichen Welt muss er sich fortwährend
versichern, indem er sich an alles erinnert. Eine Herkulesaufgabe. „Nur
nichts vergessen“, das ist das Leitmotiv des gesamten Kurzeck’schen Werks.
Es gibt eine eindrückliche Szene in diesem Romanbruchstück, die aus der
Kindheit geborgen wird: Der junge Peter ist mit der Mutter am Bahnhof, sie
gehen zwischen anderen Menschen auf eine Pendeltür zu. Aber „ein Schatten
von mir bleibt auf dem Bahnsteig unter dem Vordach stehen“. Das Leben rennt
weiter, ein Teil jedoch verharrt in der Vergangenheit, um die Verbindung
zur Gegenwart nicht abreißen zu lassen.
Der Untertitel des jüngsten Nachlass-Buches lautet „Kde domov muj“, das ist
der Eingangsvers der tschechischen Nationalhymne. Kurzeck wurde im
böhmischen Tachau geboren, und die Frage der Hynme, „Wo ist meine Heimat“,
begleitete das Flüchtlingskind wohl ein Leben lang. Zumindest als
Erinnernder wollte er sich ein stabiles Haus bauen, eines aus Sprache.
11 Jan 2023
## LINKS
[1] /Nachruf-auf-Schriftsteller-Peter-Kurzeck/!5054074
[2] /Linker-Verlag-Stroemfeld-insolvent/!5534213
## AUTOREN
Ulrich Rüdenauer
## TAGS
Literatur
Eisenbahn
US-Army
Kindheit
Westdeutschland
## ARTIKEL ZUM THEMA
Peter Kurzecks großer Roman "Vorabend": Die Trauer der Igel
Montagabend wird der Deutsche Buchpreises verliehen. "Vorabend" von Peter
Kurzeck ist aus der Kandidatenliste herausgefallen. Viele Beobachter
bedauern das sehr.
Peter Kurzeck - Hörbuch: Rekonstruktion eines Dorfes
Kurzecks Roman "Kein Frühling" ist jetzt stark erweitert erschienen. In der
Hörbuchproduktion "Ein Sommer, der bleibt" erzählt der Autor außerdem von
verlorener Zeit.
Roman: Rettung der Zeit
Sanftmütige Sinfonien: Peter Kurzeck beschreibt mit großer Liebe die
Vorgeschichte einer Trennung - "Oktober und wer wir selbst sind".
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.