# taz.de -- Roman: Rettung der Zeit | |
> Sanftmütige Sinfonien: Peter Kurzeck beschreibt mit großer Liebe die | |
> Vorgeschichte einer Trennung - "Oktober und wer wir selbst sind". | |
Bild: Peter Kurzeck | |
Schon wieder Hochsommer. Im April. Zum Verwundern. Du sitzt auf der Bank an | |
der Lahn. Dem trägen Fluss. Vormittags auf den Wiesen noch kaum jemand. | |
Später dann die Liebespaare. Wie im Schwimmbad. Und du ganz allein unter | |
dem blühenden Kirschbaum. Mit einem neuen Buch von Peter Kurzeck. Als | |
Beobachter. | |
So oder so ähnlich könnte eine Rezension beginnen, die Peter Kurzecks Roman | |
"Oktober und wer wir selbst sind" im Stil des Autors vorstellt. Einen | |
eigentümlichen Sog übt der Klang des Buchs aus. Das ist eines der | |
sprachlichen Geheimnisse aller Werke von Kurzeck, die auf vielfältige Weise | |
ineinander verschachtelt sind und miteinander korrespondieren. Der neue | |
Roman ist ein weiteres Fragment eines Monumentalprojekts, ein wie zufällig | |
dazugelegtes Puzzleteil zu einem riesigen literarischen Panorama, an dem | |
sein Autor nun schon seit Jahrzehnten schreibt. | |
Kurzeck hat sich seit seinem Buch "Übers Eis" (1997) in den Kopf gesetzt, | |
die Trennung von seiner Freundin Sibylle zu einer Art Stunde null seiner | |
Erzählzeit zu machen. Seither treibt er ein ruckhaftes, extrem | |
rhythmisiertes Erinnern an alles voran, was mit dem schmerzhaften | |
autobiografischen Einschnitt von 1984 zusammenhängt. "Oktober und wer wir | |
selbst sind" ist nun bereits der vierte Roman rund um diesen folgenschweren | |
Bruch. Diesmal setzt der Lebensbericht 1983, also kurz vor dem Abbruch der | |
Beziehung zu Sibylle ein. Er schildert voll Empathie das Zusammenleben | |
eines befreundeten Paars und blickt neben detailverliebten Kinderszenen mit | |
der Tochter Carina in vielen Rückblenden zurück in die Erzähler-Kindheit in | |
Staufenberg bei Gießen, unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. | |
Es gibt keinen Zweifel an der literarischen Großartigkeit dieser radikalen | |
Idee: Kurzeck ist ein literarischer Symphoniker des Alltags. | |
Doch gerade auch die plötzlichen Erinnerungen, die in den gemächlichen | |
Strom dieser Prosa eingeflochten sind, haben es in sich. Wie Kurzeck, | |
selbst böhmisches Flüchtlingskind, etwa den bizarren Barackenbesuch bei | |
einer alten Schlesierin beschreibt, am Neujahrstag 1975, das ist als | |
einfühlsame Miniatur deutscher Nachkriegsgeschichte höchstens noch mit Arno | |
Schmidts "Umsiedlern" (1953) vergleichbar. | |
"Keiner stirbt", lautet die Losung von Kurzecks Büchern seit seinem | |
gleichnamigen Roman von 1990, und so ist auch diesmal wieder nichts | |
Geringeres als das Rätsel der Zeit das Thema der sprachlich eigenwillig | |
durchkomponierten Suada. Wie erlebt das Subjekt die Vergänglichkeit aller | |
Erlebnisse - und wie lassen sie sich poetisch festhalten? "Die Zeit. Als ob | |
man sich selbst sucht. Wo bin ich, wenn ich nicht bei mir bin? Wo geht die | |
Zeit mit uns hin?" | |
Peter, von seiner kleinen Tochter Peta gerufen, ist trockener Alkoholiker. | |
Die Lichter der Frankfurter Kneipen locken ihn, aber er kommt so weit klar | |
und mittels Kettenrauchen, Koffeinmissbrauch und der Suchtverschiebung hin | |
zum manischen Schreiben. Wie die Penner, denen er bei seinen täglichen | |
Gängen besonders verständnisvoll begegnet, ihre Utensilien in den | |
Plastiktüten pausenlos sortieren und nachzählen, so muss auch Peta die | |
Zettel, auf denen er sogar noch im Gehen seine Romanideen notiert, | |
unablässig sichten und ordnen. | |
"Für jede einzelne Notiz eine DIN-A4-Seite und dann jede Seite einzeln und | |
alle nebeneinander der Reihe nach auf einen langen Tisch und Glasscheiben | |
drauf, damit sie nicht verrutschen und wegflattern. Aber so einen Tisch | |
gibt es auf der ganzen Welt nicht. Und auch keinen Platz, wo er stehen | |
könnte. Oder tausende von Manuskriptschränkchen mit Nummern und Glastüren. | |
Als ob man, sagte ich, während man das Buch schreibt, zum gleichen Thema | |
noch ein zweites, ganz anderes Buch schreiben muss, aber es bleibt im Kopf | |
- so ist das mit diesen Zetteln." | |
Was Kurzecks Literatur dabei von der Thomas Bernhards unterscheidet, dem | |
großen Prosa-Arrangeur alltäglicher Wiederholungszwänge schreibender | |
Menschen, ist die überbordende Sanftmut ihres Tons. Wenn Bernhard, in | |
Musikervergleichen gesprochen, so etwas wie der John Zorn der | |
österreichischen Literatur war und Arno Schmidt, der so rechthaberisch | |
schimpfende Zettelkasten-Pedant, dessen Tod Kurzeck in "Ein Kirschkern im | |
März" (2004) explizit beklagt, ein Frank Zappa aus der Heide - dann ist | |
Kurzeck ein hessischer Gustav Mahler. | |
Alles unwiederbringlich Vergangene soll bei ihm liebevoll beschrieben und | |
damit vorm Vergessen gerettet werden. Wie sehr Kurzeck damit der großen | |
Totenklage der Moderne verpflichtet ist, lässt sich mit einem Satz Peter | |
von Matts fassen, den der Zürcher Literaturwissenschaftler einmal über den | |
"Aufstand der Literatur gegen den Ernst der Letzten Dinge" formuliert hat: | |
"Wenn der Tod gar nie eintritt, aber zugleich immer schon eingetreten ist, | |
werden alle Dimensionen der Person, in denen Sie sich ihrer selbst und | |
ihres Ortes auf der gegebenen Strecke zwischen Geburt und Tod gewiss ist, | |
scheinhaft." "Oft", heißt es in Kurzecks Roman, "ist mir, als ob ich alles | |
nur träume. Schon länger. Mich auch." | |
Wer sich die Zeit nimmt, dem Protokoll dieses flüchtigen Traums zu folgen, | |
bekommt ein ganzes Leben geschenkt. Als Buch. | |
Peter Kurzeck: "Oktober und wer wir selbst sind". Roman. Stroemfeld Verlag, | |
Frankfurt a. M. 2007, 204 Seiten, 19,80 Euro | |
28 Apr 2007 | |
## AUTOREN | |
Jan Süselbeck | |
## TAGS | |
Literatur | |
Oper | |
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bedauern das sehr. |