# taz.de -- Peter Kurzecks großer Roman "Vorabend": Die Trauer der Igel | |
> Montagabend wird der Deutsche Buchpreises verliehen. "Vorabend" von Peter | |
> Kurzeck ist aus der Kandidatenliste herausgefallen. Viele Beobachter | |
> bedauern das sehr. | |
Bild: Ausgangspunkt großer Erzählungen: Der Küchentisch. | |
Viele, die in der flauschigen, alten Republik der achtziger Jahre | |
aufgewachsen sind, wird dieses Szenario vertraut sein: lange Abende am | |
Küchentisch. Große Geschichten, die sich verästeln und verzahnen, aus dem | |
Ruder laufen. Der Vater, der Onkel, ein Familienfreund. Kinder und Frauen | |
lauschen mal ganz gebannt, mal abgelenkt. Die Männer erzählen so oder so. | |
Und sie sprechen auch dann noch weiter, wenn Kinder und Frauen die Küche | |
verlassen, wenn sie spielen oder schlafen gehen. | |
Die Männer, von denen hier die Rede ist, sind oft Mitte der Vierziger | |
geboren. Sie sind womöglich aus dem Umfeld der 68er, der Wortführer. | |
Eventuell gehören sie zu jenen, die gegen ihre eigenen Väter revoltieren, | |
denn diese sind in oder nach dem Zweiten Weltkrieg verstummt. | |
Diese neuen Väter müssen reden. Alles muss auf den Tisch: die | |
Vergangenheit, die Gegenwart und die bessere Welt, die sie sich gebastelt | |
haben. Dabei sprechen sie eher für sich. Ein wenig eitel, zugegeben. Aber | |
sie zwingen niemanden zuzuhören oder gar aufzubegehren, so wie sie selbst | |
aufbegehren. Sie sind sanfte, sie sind weiche Väter, bei denen man nichts | |
muss und alles darf. | |
Wahrscheinlich ist es solchen Erinnerungen zu verdanken – den Erinnerungen | |
der Kinder der 68er –, dass auf einmal eine ganze Generation den großen | |
Erzähler Peter Kurzeck für sich entdeckt. Peter Kurzeck, geboren 1943, | |
schreibt, wie er redet. Er schreibt und redet viel – und das schon seit | |
ungefähr 30 Jahren. Er verliert sich in seinen Geschichten. | |
Sein aktuelles, tausend Seiten dickes Buch "Vorabend" ist der fünfte Roman | |
einer autobiografisch-poetischen Chronik mit dem Titel "Das alte | |
Jahrhundert". Es ist auf zwölf Teile angelegt. Wie fast alle Bücher | |
Kurzecks hat es das größenwahnsinnige Motto: "Die ganze Gegend erzählen, | |
die Zeit!" "Vorabend" schreibt die meisten Bücher Kurzecks fort, in denen | |
es keine News und wenig Handlung gibt, keine Botschaft und kein Zentrum. | |
## Selbstreflexion und Erinnerungsfragmente | |
Peter Kurzecks Texte sind diffus in der Struktur, aber genau in der | |
Beobachtung. Sie stecken voller Selbstreflexion und Erinnerungsfragmente, | |
die sich ineinanderverschachteln, in großen und kleinen Schlaufen | |
wiederkehren und sich einfach jeder Ordnung entziehen. Sie durchstreifen | |
die Zeit. Sie wollen sie festhalten. Aber das ist ja unmöglich, da die Zeit | |
auch beim Erzählen immer weitergeht. Also bleibt nur, ihr atemlos | |
hinterherzuschreiben. Ach ja, und dies beschreiben seine Texte auch noch, | |
und zwar besser als jedes Geschichtsbuch: die hessische Provinz, in der der | |
Autor nach der Flucht der Eltern aus Böhmen aufgewachsen ist. | |
So auch "Vorabend". Nichts Neues also, und doch wurde "Vorabend" im | |
Feuilleton gefeiert wie ein Debütroman. Kurzeck wurde mit Marcel Proust | |
verglichen, er sei ein "Zauberkünstler, dessen Texte glücklich machen". Es | |
hieß, "so schön singt gerade kaum ein zweiter Schriftsteller". Als Kind | |
eines 68ers, der sich ungern unterbrechen ließ, aber niemandem befahl, am | |
Küchentisch sitzen zu bleiben, kann man nur sagen: Die Rezensenten haben | |
recht. | |
"Vorabend" ist ein Roman, der großen Sog entwickelt. Er reißt die Leser mit | |
seiner ungeheuren Langsamkeit und seiner peniblen Sorgfalt völlig aus der | |
Routine. Man liest mit größter Neugier vom ersten Filmtheater in der | |
oberhessischen Kleinstadt Lollar, in das jeden Sonntag die ganze Jugend der | |
umliegenden Dörfer pilgerte und sich auf eine Sinalco-Limonade mit | |
Strohhalm traf. | |
Man liest hingerissen vom ersten italienischen Eisverkäufer, von neuen | |
Tankstellen, von der aufkommenden Kultur der Sonderangebote in den | |
Supermärkten, von den ersten Tiefkühltruhen und vom darauf folgenden Essen | |
in chronologischer Reihenfolge, nach Verfallsdatum also. Schließlich | |
interessiert man sich sogar für Igel, die kein Futter mehr finden wegen des | |
vielen Betons. Und man will alles wissen über die "Igelzuversicht" und ihre | |
"Bescheidenheit", über die Trauer der Igel, "die sie schwer macht und zu | |
Boden drückt", und das ganze 35 Seiten lang. Und warum? | |
Man schlägt dieses dicke Buch nur zu, wenn man wirklich muss, weil es einen | |
Sound hat, den nur ganz wenige haben. "Immer noch ein paar wichtige | |
Einzelheiten übrig", heißt es oft. Noch öfter steht da geschrieben: "Muss | |
immer weiter, muss durch das Jahr und all die Jahre." Und immer wieder | |
auch: "Und, sagte ich, und dann." Das wirkt getrieben. | |
Es ist aber auch vorsichtig und tastend. Es hat etwas von einem weichen, | |
elliptischen Singsang, von mündlichem Vortrag. Und es erinnert an die Prosa | |
eines Rainald Goetz. Denn es ist genauso voll von der Anstrengung, etwas zu | |
vergegenwärtigen, voll von emphatischem Wirklichkeitsbezug, voll der | |
unmöglichen Suche nach der "wirklichen Wirklichkeit" mit den Mitteln der | |
Sprache, die doch die einzige Wirklichkeit ist, die wir haben. | |
## Generation der Popliteraturväter | |
Peter Kurzeck und Rainald Goetz? Vielleicht ist dies eine zweite Fährte zur | |
Lösung des Rätsels, warum heute plötzlich so viele Leser, auch jüngere | |
Leser Peter Kurzeck verehren. Peter Kurzeck mag kein lupenreiner 68er | |
gewesen sein – und doch gehört er derselben Generation von Autoren an, die | |
die deutsche Popliteratur begründet haben. | |
Man müsste mal darüber nachdenken, was Peter Kurzecks romantische, | |
sehnsüchtige Liebe zum Alltag auf dem Land, zu den Arbeitern der | |
ortsansässigen Gießerei, zu den Dingen und Tieren und seine herzerwärmend | |
konkrete Sprache mit der antielitären Verachtung eines Rolf Dieter | |
Brinkmann für die etablierte Hochkultur zu tun haben könnte. | |
Peter Kurzeck ist kein urbaner, kein cooler Autor, das nicht. Er hat seine | |
Heimat nie wirklich verlassen. Er jagt weniger der Gegenwart nach als der | |
Vergangenheit. Aber vielleicht hat er trotz seiner alten Feldscheunen, der | |
ländlichen Flohmärkte und der Füchse und Dachse, die seine Bücher beleben, | |
mehr mit Pop zu tun, als er weiß. | |
Es gab übrigens eine Besprechung von Peter Kurzecks neuem Buch, die nicht | |
so jubelnd daherkam wie die anderen. Sie stammt von einer Kritikerin, die | |
Peter Kurzeck vorwirft, er sei ein alter Aufschneider und Patriarch – frei | |
nach dem Motto "Papa erzählt, die Kinder lauschen". Und wirklich ist der | |
Roman so aufgezogen: Alles, was der Erzähler über Staufenberg, seine | |
hessischen Heimatort, zu sagen hat, wird zunächst Tochter Carina und | |
Ehefrau Sibylle anvertraut. Wir befinden uns mitten in den Achtzigern, in | |
einer kleinen Wohnung bei besten Freunden der kleinen Familie in | |
Eschersheim. Peter Kurzeck, oder besser der Ich-Erzähler des Peter Kurzeck, | |
spricht und spricht. | |
Aber das ist nicht alles: "Carina darf aufbleiben, solang sie will. | |
Eigentlich darf sie das immer, aber heute auch offiziell. Lass es spät | |
werden. Barfuß […] und dann später am Abend für mich ein paar dicke | |
Wollsocken von meinem Freund Jürgen. Extra für dich ausgesucht, sagt er. | |
Und Pascale [seine Freundin] sagt, ich muss ihm immer beim Klauen helfen. | |
Ein langer Abend. Musik." | |
Und etwas später: "Um uns her Bücher, Schallplatten, Plattenhüllen, | |
Papierstapel, Fotos, Farbkästen, Buntstifte, Teegläser […] Und Zeitungen, | |
Berge von Zeitungen. Und immer zwei oder drei dicke Kunstbände aus der | |
Bibliothek [...] Ein langer Abend. Einmal ist Carina aufgewacht. Muss | |
sehen, ob wir alle noch da sind?" | |
Das Idyll, die anrührende und niemals biedere Gemütlichkeit, die hier | |
beschworen wird, scheint nur vordergründig leicht und selbstverständlich. | |
Tatsächlich ist es mühsam errichtet worden. Es ist mehr als eine | |
Alternative, es ist eine feste Bastion gegen Erkaltung und Verhärtung, | |
gegen die alte Familie, in der die Väter stets müde waren. | |
## Einer, dem man zuhört | |
Auch diese beschreibt Peter Kurzeck in seinem Buch: Die alten Väter halten | |
es nicht aus in den überheizten Küchen, bei der Frau, die immer nur fragt, | |
"was sie längst weiß". Sie sind gebrochene Väter, die am liebsten draußen | |
essen würden, mit dem alten Soldatenessgeschirr, "im Stehen und allein". | |
Sie sind gern im Schuppen, außer Hörweite, und sitzen da im Dunkeln – als | |
ob sie auf den Tod warten würden. | |
Man sieht: Geschichten zu erzählen ist nicht immer eine männliche Domäne. | |
Zumindest war sie keine der Männer im Nachkriegsdeutschland. Sie waren | |
desillusioniert und depressiv, sie schwiegen und entzogen sich. Peter | |
Kurzeck ist alles andere als ein selbstverliebter Schwadroneur. Peter | |
Kurzeck ist einer, dem man gern zuhört und der es keinem verübelt, wenn man | |
mal weghört. Und außerdem: Er hat es einmal fertiggebracht, einen Roman aus | |
dem Stegreif zu erzählen – fünf Stunden lang und nur auf Zuruf von | |
Stichworten! Wer könnte so etwas schon? | |
Würde die Welt morgen untergehen und wollte man eine Kapsel ins Weltall | |
schießen, deren Inhalt nicht nur davon erzählen würde, wie sich die | |
Bundesrepublik von den Vierzigern bis zu den Achtzigern verändert hat, | |
sondern vor allem, wie sich ihre Männer in dieser Zeit verändert haben: | |
Peter Kurzeck wäre unbedingt dabei. | |
Würde die Welt morgen untergehen, man würde sich aus vielen Gründen ärgern. | |
Einer davon: Peter Kurzeck wird heute nicht den Deutschen Buchpreis | |
bekommen. Er hätte ihn aber bekommen sollen. | |
Peter Kurzeck: "Vorabend: Das alte Jahrhundert, Band 5.". Stroemfeld | |
Verlag, Frankfurt/Main 2011, 1022 Seiten, 39,80 Euro. | |
10 Oct 2011 | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
Susanne Messmer | |
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Literatur | |
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