# taz.de -- Peter Kurzeck - Hörbuch: Rekonstruktion eines Dorfes | |
> Kurzecks Roman "Kein Frühling" ist jetzt stark erweitert erschienen. In | |
> der Hörbuchproduktion "Ein Sommer, der bleibt" erzählt der Autor außerdem | |
> von verlorener Zeit. | |
Bild: Peter Kurzeck erzählt: Zuhören. | |
Er geht und geht. Gehen und denken, denken und erinnern, erinnern und | |
schreiben - das ist eine Bewegung. Wenn man draußen in der Natur einen Mann | |
im Mantel trifft, der es eilig zu haben scheint, der vor sich hin spricht | |
und gestikuliert, dann könnte es sich um Peter Kurzeck handeln. Derzeit | |
geht er im nördlichen Schwarzwald herum. Als Hermann-Hesse-Stipendiat lebt | |
er noch bis zum Jahresende in Calw. Wenn er zu seinen Spaziergängen | |
aufbricht, muss er nur aufpassen, nicht zu weit zu gehen, damit er es vor | |
Einbruch der Dunkelheit noch zurückschafft. Weil er so vertieft ist in | |
seine Gedankenwelt, vergisst er das Umkehren immer wieder und landet dann | |
in abgelegenen Dörfern. Das passiert, wenn man die eigene Welt im Kopf mit | |
sich herumträgt wie die Kastanien vom letzten Herbst in der Jackentasche. | |
Kurzecks Welt ist übersichtlich. Sie umfasst im Wesentlichen das hessische | |
Dorf Staufenberg, die Bundesstraße 3 nach Frankfurt a. M., das Frankfurter | |
Bahnhofsviertel und das Westend nebst den zugehörigen Träumen vom Meer, von | |
Paris, von der Ferne, vom Süden. Diese Region ist bei Kurzeck eine | |
historische Gegend. Sein großer Roman "Kein Frühling", 1987 zum ersten Mal | |
erschienen und jetzt in einer erweiterten Fassung neu aufgelegt, zeichnet | |
ein Bild Staufenbergs von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis in die | |
frühen 50er-Jahre. 1946 kam Kurzeck als Dreijähriger mit Mutter und älterer | |
Schwester in einem Flüchtlingstreck aus Böhmen hier an. | |
Er war also ein Fremder in dem Ort, der zu seiner Heimat wurde. Vielleicht | |
war das die Voraussetzung dafür, dass er das genaue Hinsehen lernte und die | |
gewonnene Heimat nie wieder verlieren wollte - auch nicht an die | |
verstreichende Zeit, die alles, was ist, in den Abgrund der Vergangenheit | |
reißt. 1977 zog er nach Frankfurt, vom Land in die Stadt, ausgerechnet in | |
der Zeit des "Deutschen Herbstes" also. Aber schon damals unterhielt er | |
intensivere Beziehungen zur Vergangenheit als zur politischen Gegenwart. | |
"Ein Sommer, der bleibt" ist der Titel einer neuen, vier CDs umfassenden | |
Hör-Box, in der Peter Kurzeck "das Dorf seiner Kindheit erzählt". Dieser | |
Untertitel ist durchaus wörtlich zu nehmen, denn Kurzeck baut das Dorf | |
erzählend neu auf, so wie es einmal gewesen ist. Da fahren dann wieder die | |
Ochsenkarren über schlammige Wege, deren Grund im Sommer zu weißem Staub | |
zerfällt. Und die Dorfbewohner tragen Sonntagskleidung, wenn sie zum | |
Spaziergang auf die gepflasterte "Schosseh" aufbrechen, wo die Autos sich | |
noch einzeln zählen lassen. | |
"Ein Sommer, der bleibt" ist nicht einfach die gelesene Fassung von "Kein | |
Frühling", sondern ein eigenständiger, mündlicher Text, für den es keine | |
schriftliche Vorlage gibt. Es ist Literatur in ihrer ursprünglichen, oral | |
tradierten Überlieferungsform. Da sitzt einer am Ofen und erzählt den | |
Enkeln, wie es einst gewesen ist: wie die Fleischwurst schmeckte, wie der | |
Waschtag ging, wie der Bücherbus kam und wie die Sommer gewesen sind. Diese | |
Form des mündlichen Erzählens ist selbst etwas, das zu verschwinden droht. | |
Sie ist damit ein Teil dessen, was Kurzeck unermüdlich bewahren möchte - so | |
sehr, dass seine Bücher dabei immer dicker werden und niemals ein Ende | |
finden, weil jeder einzelne Augenblick einen unendlichen Reichtum | |
entfaltet. | |
Man muss, das wird spätestens mit dieser Produktion deutlich, Kurzeck | |
hören. Das gilt auch für seine geschriebenen Texte. Denn sie sind so etwas | |
wie Musik. Es gibt neben ihm kaum einen Autor, der so erkennbar seinen Stil | |
schreibt. Man muss nur ein paar dieser schwebenden Sätze, die oft auf die | |
Verben verzichten, hören, um zu wissen, dass das nur von Kurzeck sein kann. | |
Gut also, dass es auch "Kein Frühling" in einer vom Autor gelesenen Fassung | |
auf CD gibt. Mit Kurzecks singender, leiser, niemals aufdringlich werdender | |
Stimme im Ohr liest man seine Bücher dann ganz anders. Man lauscht dieser | |
Stimme nach, der auch ihre Herkunft anzuhören ist. Das Hessische ist darin | |
dezent zu finden, aber auch ein böhmischer Anklang. Von dort hat Kurzeck | |
das rollende R mitgebracht. | |
Der Roman "Kein Frühling" erschuf das Dorf aus der Vielzahl der Stimmen und | |
Perspektiven seiner Bewohner. Alle kamen sie hier vor und kamen selbst zu | |
Wort. In "Ein Sommer, der bleibt" spricht Kurzeck über sich und ergänzt das | |
Panorama mit persönlichen Erlebnissen. Viele Geschichten sind zwar auch in | |
den Roman eingegangen, aber sie werden nun anders, schlichter, direkter | |
erzählt. Das erzeugt einen etwas nostalgischeren Ton, der aber vielleicht | |
auch dadurch zustande kommt, dass seit "Kein Frühling" noch viel mehr Zeit | |
vergangen ist. Kein Wunder, dass Kurzeck mit seinen letzten vier Büchern | |
die Jahre 1983/84 umkreist, in denen er an "Kein Frühling" geschrieben hat. | |
Da wurde das Erinnern selbst Gegenstand der Erinnerung. Auf seiner Suche | |
nach der verlorenen Zeit versucht er vergeblich, einen Zipfel der | |
entschwindenden Geschichte festzuhalten. | |
1987 war Heimatliteratur - und darum handelt es sich bei "Kein Frühling" - | |
alles andere als zeitgemäß. Doch Kurzeck ist kein Idylliker. Er beschrieb | |
die Modernisierung, den Übergang vom Dorfleben ins Industriezeitalter mit | |
allen seinen Kosten. Und er beschrieb, wie das zyklische, an Jahreszeiten | |
gebundene Zeitgefühl des alten Dorfes durch die Stechkarte und der | |
bedächtige Schritt der Bauern durch den "Fabrikschritt" abgelöst wurde. Die | |
Zeit selbst veränderte. Darum ging es. Kein Frühling. | |
Eine Vergänglichkeitstrauer ist allen Texten Kurzecks eingeschrieben, die | |
sich nicht nur auf den konkreten Verlust der Kindheitswelt bezieht, sondern | |
allgemeiner und schmerzlicher darauf, dass die Zeit jeden Moment zum | |
Untergang verurteilt. "Die Gegenwart, das ist doch nicht einfach bloß | |
jetzt", setzt Kurzeck dagegen. Denn deshalb muss er erzählen, muss die | |
Vergangenheitsschichten jedes einzelnen Augenblicks freilegen und sich | |
immer weiter und immer genauer erinnern. Wenn er es nicht tut, tut es | |
keiner, und dann wäre das, was war, endgültig verloren. | |
Auch als notorischer Spaziergänger stemmt er sich gegen die Geschwindigkeit | |
der Geschichte. Die Mobilmachung der Republik, der Autoverkehr, das damit | |
verbundene Freiheitsversprechen, aber auch die Zerstörung der Landschaft | |
ist eines seiner großen Themen. Wenn er heute in Staufenberg steht, sind | |
die Wege und Blicke von einst versperrt. Eine Autobahn riegelt das Dorf | |
nach Westen ab. Die Stille ist vernichtet, der Horizont verschwunden. "Wenn | |
man ein Gedächtnis hat", sagt Kurzeck, "was einem ja abgewöhnt werden soll, | |
hat man das Gefühl, da fehlt ein Stück von der Welt." Für einen | |
Spaziergänger wie ihn ist es besonders absurd zu beobachten, dass Menschen | |
mit dem Auto an den Waldrand fahren, um joggen zu gehen. | |
Das Erstaunlichste an den erzählten Erinnerungsstücken "Ein Sommer, der | |
bleibt" ist, dass es in der Welt von Peter Kurzeck nichts Böses gibt, keine | |
Feindseligkeit und keine Heimtücke. Sein freundlicher Blick strahlt auf die | |
anderen Menschen aus. Selbst der Hund, den er als Kind besaß, blieb ganz | |
und gar gutmütig, obwohl er ihn mit Eimern voll Blut, die er beim Metzger | |
holte, scharf machen wollte. Kurzeck schildert eine Welt vor dem | |
Sündenfall, eine Welt voller Sensationen und voller Sehnsucht: "Man weiß ja | |
nicht als Kind, wie man Sehnsucht aushält - ich weiß es heute noch nicht." | |
Sechs Jahre war er alt, als er lernte, die Schuhe zu binden. Das machte ihn | |
unabhängig, denn wer Schleifen binden kann, der kann in die Welt | |
hineinwandern, auch wenn es zunächst noch sehr viel Mühe macht. So ist es | |
bei Kurzeck geblieben. Er ist der Weltwanderer aus der Provinz, der geht | |
und geht und erzählt und erzählt, damit nichts verloren geht. | |
8 Dec 2007 | |
## AUTOREN | |
Jörg Magenau | |
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Literatur | |
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