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# taz.de -- Russisch-kasachische Beziehungen: Eine Jurte als Politikum
> Kasachen stellen in Butscha eine Jurte auf, an der sich Menschen
> aufwärmen können. Moskau fordert eine offizielle Stellungnahme.
Bild: Geste der Solidarität: Seit Kurzem steht in der ukrainischen Stadt Butsc…
Seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine befindet sich
Kasachstan, das mit beiden Staaten freundschaftliche Beziehungen unterhält,
in einer schwierigen Situation. Einerseits konnte Astana die Ukraine in
keiner Weise offen unterstützen: die Abhängigkeit von Russland ist zu groß,
zudem hält die Republik am „Multivektorprinzip“ fest (Versuch einer
ausbalancierten Außenpolitik zwischen Ost und West; d. Red.) und lässt sich
grundsätzlich nicht in einen Krieg hineinziehen.
Andererseits ist die territoriale Integrität von Staaten für
[1][Kasachstan] von elementarer Bedeutung. Demgegenüber nimmt Russland sich
heraus, dieses grundlegende Prinzip nicht anzuerkennen. Das führt zu
erhöhten Spannungen um die nördlichen Regionen Kasachstans (dort leben
vorwiegend ethnische Russen; d. Red.).
Deshalb sagte Präsident Kassym-Schomart Tokajew offen, dass Kasachstan die
Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk in der
Ostkukraine definitiv nicht unterstützen werde.
Doch noch während Politiker untereinander darüber diskutierten, hatten
einfache Bürger aus den Reihen einer aktiven Zivilgesellschaft ihre Wahl
bereits getroffen. Seit Beginn des Kriegs wurden mehrere Ladungen
Hilfsgüter in die Ukraine geschickt – von Lebensmitteln und Kleidung bis
hin zu Wärmegeneratoren. Anfang März 2022 fand in Almaty eine genehmigte
Kundgebung zur Unterstützung der Ukraine statt.
## Doppelgleisiges Denken
Nun ja, nachdem die Teilnehmer zu laut geschrien hatten (und das kam in
vielen Berichten vor), wie man Wladimir Putin nennen sollte, wurden keine
weiteren Kundgebungen mehr abgehalten. Bis zu einem gewissen Punkt kam ein
solches doppelgleisiges Denken offenbar auch Moskau entgegen. Das änderte
sich, als in der ukrainischen Stadt Butscha eine „Jurte der
Unbesiegbarkeit“ errichtet wurde.
Eine Jurte ist eine traditionelle Behausung der Steppenkasachen, ein
Synonym für Schutz und Wohlstand. In der Ukraine erfüllt das von Kasachen
übergebene Exemplar genau diese Funktion: Dort kann man sich aufwärmen,
Telefone aufladen, Tee trinken – im Allgemeinen wirkt diese Geste eher
symbolisch, aber dennoch schön.
Anfangs gab es Berichte in den Medien, dass die Botschaft von Kasachstan in
der Ukraine direkt an der Installation der Jurte beteiligt gewesen sei,
aber es scheint, dass dies nicht ganz so stimmt. Zwar ist die Botschaft
über alle humanitären Lieferungen irgendwie auf dem Laufenden. Das bedeutet
jedoch nicht, dass für den Transport und die Unterhaltung einer solchen
Lieferung bei der Vertretung der kasachischen Behörden eine Genehmigung
eingeholt werden muss.
Und so beschleicht einen das Gefühl, dass die Botschaft den Moment des
Ruhms teilen möchte, als Medien und der Regierung gegenüber illoyale
Aktivisten anfingen, von der Errichtung der „Jurte der Unzerstörbarkeit“
als einer Art moralischen Triumphs zu sprechen.
## Anschauliches Beispiel
Doch russische Diplomaten lesen ebenfalls Medien und denken komplett anders
über diese Angelegenheit. Deshalb sagte die Pressesprecherin des russischen
Außenministeriums, Maria Sacharowa, die in ihrer Funktion für zahlreiche
lautstarke Äußerungen verantwortlich zeichnet, am Abend des 10. Januar,
ihre Behörde warte jetzt auf eine „offizielle Stellungnahme“ von Kasachstan
bezüglich der Nichtbeteiligung seiner Behörden an der Aufstellung dieser
Jurte.
Nach dem Motto: Ihr habt Russland zum Beispiel nicht in aller
Öffentlichkeit gesagt, dass die Jurte nicht eure ist, aber das muss für die
ganze Welt klargestellt werden. Der Antwortkommentar des Pressesprechers
des kasachischen Außenministeriums, Aibek Smadijarow, gefiel
oppositionellen Aktivisten nicht, er ist aber ein anschauliches Beispiel
östlicher Schläue:
„Die Botschaft von Kasachstan hat damit nichts zu tun. Dies ist eine
Initiative privater kasachischer Unternehmen. Wir können ihnen das nicht
verbieten. Sie haben die Jurte geliefert, aufgestellt und dabei selbst mit
angepackt. Wir sehen kein Problem darin, eine Jurte aufzustellen. Die Jurte
ist eine traditionelle Behausung für Nomaden, sie ist einfach zu montieren
und umweltfreundlich. Das ist eine Initiative von Geschäftsleuten, um dem
ukrainischen Volk zu helfen. Eine besondere Stellungnahme zu diesem Thema
halten wir für nicht erforderlich, da wir die Aufstellung dieser Jurte
nicht als ein Problem ansehen. Im Gegenteil, wir sind stolz darauf, dass
wir eine Jurte haben.“
Obwohl es laut Sacharowa keine direkte Anweisung gab, sich von der Jurte zu
distanzieren, fiel gleichzeitig der Satz, dass ein offizieller Kommentar
aus Kasachstan erforderlich sei, um eine weitere Diskussion dieses Themas
zu vermeiden. Denn deren Ziel sei es, der russisch-kasachischen
strategischen Partnerschaft und Allianz zu schaden.
## Symbol des Friedens
In den Kommentaren zu den Nachrichten wird bereits darüber gelästert, wie
zart die Natur russischer Diplomaten sein muss, da sie von einer einfachen
Wohnung ohne Ecken – in der Tat ein Symbol des Friedens – so gestresst
seien.
Genau das ist das Problem: Demonstrative Gesten, von welcher Seite auch
immer, machen Regimen wie dem russischen mehr Angst als konkrete Aktionen.
Eine Jurte ist schlimmer als ein Wärmegenerator, denn sie symbolisiert
nicht nur Menschlichkeit, sondern auch Solidarität zwischen Nationen. Rufe
wie „Putin – la-la-la!“ sind schlimmer, als Russen aufzunehmen, die vor d…
Einberufung fliehen. Denn solche Schlachtrufe entweihen das Regime, machen
es lächerlich und spielen die Bedeutung der Angst vor ihm herunter.
Die demonstrative Verspätung von Putin zu einem Treffen (so etwas gab es im
vergangenen Jahr) ist viel unangenehmer als die Lieferung von Waffen: Für
das russische Regime ist Respektlosigkeit schlimmer als durch solche Waffen
getötete Soldaten.
Eine solche auf den Kopf gestellte Logik ist eine Folge tiefster
psychologischer Komplexe der wichtigsten Repräsentanten des Regimes. Und
die Situation mit der Jurte oder mit diesem Angriffsgeheul stellt in
gewisser Weise eine Analogie zu einem Ereignis von 1934 dar.
## Hysterie im Außenministerium
In jenem Jahr brach im nationalsozialistischen deutschen Außenministerium
Hysterie aus, weil die jüdische Diaspora in den Vereinigten Staaten plante,
in Abwesenheit von Adolf Hitler einen Schauprozess gegen ihn abzuhalten.
Der damalige deutsche Chefdiplomat, Konstantin von Neurath, hätte den USA
fast gedroht, dass die Durchführung eines solchen Prozesses eine
Verschlechterung der beiderseitigen Beziehungen zur Folge haben könne.
Die Reaktion der amerikanischen Seite damals und der kasachischen Seite
heute ist sehr aufschlussreich: Im Jahr 1934 hatte auch der
Vizeaußenminister der USA, William Phillips, erklärt, dass die Behörden
seines Landes nichts mit privaten Initiativen zu tun hätten. Nach diesem
„Prozess“ erklärte das Außenministerium, dass der Staat kein Recht habe,
auf Handlungen von US-Bürgern Einfluss zu nehmen, wenn diese keine Gesetze
verletzten.
In dem Buch „Tiergarten – in the Garden of Beasts“ von Erik Larson, das
diesen Konflikt beschreibt, wird darauf hingewiesen, dass die Deutschen
„das nicht verstehen“ konnten: dass der Staat seinen Bürgern nicht
vorschreiben darf, was sie denken sollen.
Natürlich sind Aibek Smadiyjarow und das kasachische Außenministerium nicht
William Phillips und das US-Außenministerium (unter anderem behandelten die
Behörden in den Vereinigten Staaten das Hitler-Regime schon damals mit
unverhohlenem Ekel, wohingegen wir nicht wissen, was das kasachische
Außenministerium wirklich denkt).
## Moderatere Rhetorik
Unlängst hatten Kasachstan und Maria Sacharowa einen Konflikt – anscheinend
ist die Rhetorik diesmal daher moderater. Die jüngste Auseinandersetzung
sollte das russische Außenministerium stärker belasten als die kasachische
Jurte, die aufgestellt wurde, damit sich die Einwohner in [2][Butscha]
aufwärmen können.
Übrigens: Die Tatsache, dass die menschlichen Schritte anderer die
russischen Behörden viel mehr erzürnen als ihr eigener Kannibalismus,
spricht für sich.
Aus dem Russischen [3][Barbara Oertel]
22 Jan 2023
## LINKS
[1] /Russland-und-Kasachstan/!5909812
[2] /Unterwegs-in-der-Ukraine/!5903545
[3] /Barbara-Oertel/!a1/
## AUTOREN
Wjatscheslaw Polowinko
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