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# taz.de -- Seelsorge im neuen Jahr: Moral Olympics sind out
> Emotionale Selbstausbeutung, Shaming, Understatement. Angewohnheiten, die
> spätestens 2023 nicht mehr cute sind. Und was stattdessen im Kommen ist.
Bild: Mit dem Finger auf jemanden zeigen: Out
So vieles von dem, womit wir kokettieren, ist emotionale Selbstausbeutung
und kann weg. „Not cute“, das heißt: „Nee, diese Angewohnheit, von der du
glaubst, dass sie dich charmant macht, sie tut genau das Gegenteil.“ Hier
kommen die neuen Ins und Outs der Selbstsorge und des Miteinanders für
2023.
## 1. Nicht mehr cute: Shaming
Shaming heißt: Man versucht, die Welt zu verbessern, indem man
Schuldgefühle in Einzelnen weckt. Shaming ist kein Produkt von Social
Media, wie manche gern behaupten, aber es grassiert dort. Dieses Jahr hatte
Shaming seinen historischen Tiefpunkt. Irgendwo zwischen wohlfeilen
Kommentaren, dass russische und ukrainische Männer nicht vor dem Krieg
flüchten sollten, und dem [1][geshameten Comingout des Schauspielers Kit
Connor] war er erreicht.
Shaming funktioniert nicht. Die beschämte Person verhält sich vielleicht
kurzfristig wie gewünscht, langfristig führt Scham aber entweder zu
Blockaden oder Trotz. Die shamende Person indes wird von ihren eigenen
hohen Ansprüchen gefangen genommen. Moral Olympics sind die Folge. Hören
wir auf, Fehltritte aufzuzeigen, wo immer wir sie sehen.
## Stattdessen cute: Sich engagieren
Überlegen wir uns, wie wir die Welt gerne hätten, und wie man eine solche
Welt attraktiv machen kann. Das bedeutet: politische Bedingungen verändern,
inklusive Ge- und Verbote. Das geht besser kollektiv.
## 2. Absolut nicht cute: Die „professionelle“ Performance
Seien wir ehrlich, inzwischen haben wir fast alle schon Meetings mit
Handtuch-Turban auf dem Kopf besucht, haben uns alle mal von unten in die
Nasenlöcher geguckt, haben bei der Präsi Babykotze auf der Schulter gehabt.
Vor der [2][Pandemie] bedeutete „professionell sein“, dass man gestriegelt
war, gepudert, kostümiert, frei von körpereigenen Gerüchen und natürlich:
von Emotionen.
Damals war man 9 to 5 gar kein Körper, man hatte auch kein Nervensystem,
keine Seele, keine Drüsen. Diese Performance ist eine androzentrische, im
klassisch binären Geschlechtersystem. Sie ist außerdem ableistisch, weil
viele Menschen mit Behinderung viel länger brauchen, um „sauber und gut
gekleidet“ zu sein als able-bodied Leute. Und sie ist bürgerlich, weil
Kinder aus gutem Hause groß werden mit dem Wissen über Codes – wie dass man
braun nicht mit schwarz kombiniert. Die professionelle Performance
aufrechtzuerhalten, fällt einigen also leichter als anderen. Und sie wird
für alle immer komplizierter.
Denn wer aufs Fahrrad umsteigt, was wir nach Möglichkeit sollten, wird
nicht duftend und knitterfrei auf der Arbeit auftauchen. Wer Burnouts
vermeiden will, braucht Kinderkrankentage, Pausen zum Heulen,
Ungekemmt-Zuspätkomm-Momente. Arbeitgeber*innen müssen entweder die
Ressourcen zur Verfügung stellen, die es braucht, um im Büro übernatürlich
crisp auszusehen (Umkleiden, Duschen, Waschmaschine, bezahlte
Frischmach-Zeit) – oder müssen auf diesen Anspruch verzichten.
## Stattdessen cute: Business casual
Wie man sich für die Lieblingstante zurechtmacht, so reicht es auch auf
Arbeit.
## 3. Extremst anticute: Understatement
„Ach, das ist gar nicht so krass“ sagen, über die eigenen erworbenen
Abschlüsse, Fähigkeiten, Expertisen? War sehr lange sehr cute. Man gab sich
unterwürfig und dankbar, wenn sich nach Jahren Ausbildung oder Studium
jemand erbarmte, einem Gehalt zu zahlen. Hatte Verständnis, wenn man ohne
„drei Jahre einschlägige Erfahrung“ behandelt wurde wie ein Vorschulkind.
„Danke für die Chance“, sagten wir für eine befristete Stelle und für
Bezahlung, die grade so reicht, um in der Nähe des Arbeitsplatzes zu
wohnen.
Menschen zwischen 25 und 55, selbst hoch Qualifizierte, sind geprägt von
einem Diskurs über die angebliche Härte des Arbeitsmarkts. Bekamen
eingetrichtert, sich zu benehmen wie Kirchenbankrutscher*innen für die
Aussicht auf ein Leben in Kettenbefristungen in muffigen Büros, mit
„Dringend“-Emails vom Chef um 21 Uhr. Viele von uns machten das mit. Weil
wir zwar mehr Ansprüche hatten als die Boomer, aber noch nicht das
Selbstbewusstsein der GenZ. Weil wir in der Ausbildung einmal zu oft gehört
hatten: „Und was macht man dann damit? Außer Taxifahren?“
## Stattdessen cute: Selbstbewusstsein
Wir schlittern auf die Vollbeschäftigung zu. Fachkräftemangel. Arbeitskraft
wird ein Sellers Market. [3][Die Personalstellen fangen schon an, unruhig
zu werden]. Gut so, sie haben Menschen zu lange als verschiebbare Ressource
behandelt. Das heißt nicht, dass unverschämt und egoistisch das neue Cute
ist. Das gesunde Gegenteil von Unterstatement ist nicht Überstatement.
Sondern Selbstbewusstsein. Gesundes 2023!
31 Dec 2022
## LINKS
[1] /Coming-Out-von-Netflix-Star-Kit-Connor/!5889163
[2] /Schwerpunkt-Coronavirus/!t5660746
[3] /Die-These/!5883362
## AUTOREN
Peter Weissenburger
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