# taz.de -- Alevitinnen und Aleviten in Berlin: Endlich auf Augenhöhe | |
> Die Alevitische Gemeinde in Berlin ist jetzt eine Körperschaft des | |
> öffentlichen Rechts. Damit ist sie Kirchen wie der christlichen | |
> gleichgestellt. | |
Bild: Cem Özdemir und Klaus Lederer halten die Langhalslaute hoch | |
An der Wand des [1][alevitischen Gemeindehauses in Kreuzberg] hängen drei | |
übergroße Bilder: Das größte in der Mitte mit dem zweiklingigen Schwert und | |
einem Löwen stellt Ali, den Vetter und Schwiegersohn des Propheten | |
Mohammed, dar. Links davon ist der Mystiker Hacı Bektaş Veli zu erkennen. | |
Auf dem dritten Bild schließlich ist eine Bağlama zu sehen, eine | |
Langhalslaute, die von dem türkischen Dichter Pir Sultan Abdal gehalten | |
wird. Er symbolisiert den Wunsch der Alevit*innen nach Freiheit. | |
Die drei Abbildungen von Religionsstiftern der Alevit*innen werden | |
zukünftig selbstverständliche Wahrzeichen des religiösen Lebens in Berlin | |
sein – genauso wie das christliche Kreuz, das einst an ihrer Stelle hing, | |
als das Gemeindehaus noch eine Kirche war. Denn der Alevitischen Gemeinde | |
Deutschland ist Anfang Dezember der Status einer Körperschaft des | |
öffentlichen Rechts verliehen worden. Damit ist sie die erste | |
nicht-christliche und nicht-jüdische Glaubensgemeinschaft, die in Berlin | |
diesen Status erhält. | |
Kultursenator Klaus Lederer (Linke) hatte Mitte Dezember im Gemeindehaus | |
die Urkunde an den Vorsitzenden der Gemeinde Hüseyin Mat überreicht. Eine | |
erste Anerkennung hatte es bereits im Hauptsitz der Bundesgemeinde in | |
Nordrhein-Westfalen vor zwei Jahren gegeben. Nun wird die alevitische | |
Gemeinde Deutschland auch in Berlin – genauso wie ihre Berliner | |
Mitgliedsgemeinde – etablierten Kirchen gleichgestellt. | |
Geschätzt 70.000 Alevit*innen leben in Berlin. Die Gemeinde in Kreuzberg | |
ist seit ihrer Gründung 1979 fester Bestandteil alevitischen Lebens in der | |
Stadt. Immer wieder bringt sie sich in politische Debatten ein. | |
[2][Kultursenator Lederer] lobt sie: „Die Alevitische Gemeinde in Berlin | |
ist durch ihre rege Beteiligung am interreligiösen und interkulturellen | |
Dialog eine wichtige Brückenbauerin und vor allem durch ihre klare Haltung | |
gegen Rassismus und Diskriminierung eine starker Partnerin in der Berliner | |
Zivilgesellschaft.“ | |
## Auch Kirchensteuer ist möglich | |
Die Mitgliederstruktur ist vielfältig, neben Türkisch sprechen viele | |
Zazaisch und Kurdisch. Ebenso vielfältig ist die Deutung des eigenen | |
Glaubens, der im Laufe der Jahrhunderte vielen Einflüssen unterlag – | |
darunter den mystischen Lehren des Hacı Bektaş Veli. Manche Alevit*innen | |
sehen sich als Teil des Islam, andere betonen die Eigenständigkeit des | |
Glaubens. Ziel und Weg der Alevit*innen ist die Vervollkommnung; | |
Humanismus ist ein kostbarer Wert. | |
Der Körperschaftstatus bringt Privilegien mit sich. Die Gemeinde kann | |
fortan von ihren Mitgliedern – wie die beiden großen Kirchen auch – | |
Kirchensteuer erheben. „Das ist für uns kein erstrebenswertes Ziel“, | |
erklärt aber der Generalsekretär des Bundesverbands, Ufuk Çakır. Der | |
Gemeinde gehe es vor allem um Anerkennung und Teilhabe. „Für uns hat der | |
Status einen hohen symbolischen Wert. Als Gemeinde, die im Herkunftsland | |
seit Jahrhunderten Verfolgungen ausgesetzt ist, genießen wir hier fortan | |
das Privileg, auf Augenhöhe mit anderen Religionsgemeinschaften zu sein.“ | |
Noch mehr Anerkennung geht nicht, denn der Körperschaftstatus schafft sogar | |
Augenhöhe mit dem Staat, der selbst eine Körperschaft ist. | |
Viele Aufgaben können Glaubensgemeinschaften zwar auch ohne den | |
Körperschaftstatus wahrnehmen. Bereits eine Stufe vor der Körperschaft | |
hatte die Berliner Gemeinde als mitgliedsstarker Verein vieles für sich | |
erreicht, darunter die Anlage eines Gräberfelds nur für Alevit*innen auf | |
dem [3][Neuköllner St.-Thomas-Friedhof]. Seit 2002 erteilt die Gemeinde | |
außerdem alevitischen Glaubensunterricht an Berliner Schulen. | |
Mit dem Körperschaftstatus hat die Gemeinde jetzt allerdings bessere Karten | |
bei Verhandlungen mit staatlichen Behörden, etwa, wenn es um Lehrstühle für | |
alevitische Theologie geht. „Jeder Bürger kann mit dem Staat Verträge | |
abschließen. Als Körperschaft des öffentlichen Rechts ist das faktisch | |
leichter, da diese auf Dauer angelegt ist,“ sagt der Frankfurter Anwalt für | |
Kirchenrecht Benjamin Kirschbaum. | |
Die staatliche Behörde muss also nicht bangen, dass sich ihr Gegenüber von | |
Heute auf Morgen auflösen wird – die Körperschaft schafft Vertrauen und | |
Verlässlichkeit. Ihre Träger*innen genießen vor Staat und Gesellschaft | |
ein hohes Ansehen. | |
Innerhalb der Grenzen der Verfassung kann die Körperschaft öffentlichen | |
Rechts in manchen Bereichen beinahe wie ein eigenständiger Staat agieren, | |
sagt Kirschbaum: „Die Körperschaft öffentlichen Rechts kann ihre Satzung | |
unabhängig vom Zivilrecht gestalten.“ Kirchen haben sogar ein eigenes | |
Arbeitsrecht. „Sie kann auch eine eigene interne Gerichtsbarkeit | |
etablieren, die zum Beispiel abschließend über einen Mitgliedsausschluss | |
entscheidet. Bei einem Verein entscheidet hingegen das Amtsgericht“, | |
erklärt der Anwalt. | |
Neben der Rechtstreue gibt es weitere Voraussetzungen für den Erwerb der | |
Körperschaft. „Die Religionsgemeinschaft muss die Gewähr der Dauer bieten; | |
sie muss insbesondere gesicherte Finanzen und eine stabile Mitgliederzahl | |
haben“, sagt Kirschbaum. Sie muss also lange genug existieren. Die | |
Alevitische Gemeinde Deutschland tut dies seit rund 34 Jahren. | |
Die Gemeinde hat Pläne für die Zukunft, denn die Sorgen jetziger und | |
zukünftiger Generationen von Alevit*innen nehmen zu. „Wir wollen | |
langfristig einen Wohlfahrtsverband etablieren, kulturspezifische Pflege | |
anbieten und Senior*innenheime errichten“, sagt Çakır. Das alles soll | |
fernab dem Herkunftsland Türkei entstehen, das das Alevitentum nicht als | |
einen eigenständigen Glauben ernst nimmt. | |
Jüngstes Beispiel für diese fehlende Wertschätzung ist die Unterstellung | |
der religiös-kulturellen Belange der Alevit*innen unter das türkische | |
Kultur- und Tourismusministerium. Sunnitisch-muslimische Institutionen sind | |
hingegen der Diyanet und damit einer eigenen Religionsanstalt unterstellt. | |
## Signalwirkung im Herkunftsland | |
Die Anerkennung des Körperschaftstatus erleichtere der | |
Glaubensgemeinschaft, die im Herkunftsland fortwährender Diskriminierung | |
ausgesetzt ist, das Ankommen in der neuen Heimat, glaubt Çakır. Auch habe | |
die Anerkennung in Deutschland eine Signalwirkung an Alevit*innen im | |
Herkunftsland. | |
Wer sich mit dem Anerkennungsvorgang nicht auskennt, könnte sich nun | |
fragen: Warum haben andere Gemeinden, beispielsweise muslimische, die in | |
Berlin länger existieren als die alevitische, nicht den Körperschaftstatus | |
erhalten? Die Antwort des Kirchenrechtlers fällt lapidar aus: „Die Aleviten | |
haben ihn beantragt, die anderen Gemeinden vermutlich nicht.“ | |
Die Pressestelle der Kulturverwaltung bestätigt Kirschbaums Vermutung: | |
Muslimische Gemeinden haben in Berlin keinen Antrag gestellt. Kirschbaum | |
vermutet, dass das schlicht vor allem an den geringen Mitgliederzahlen | |
vieler muslimischer Gemeinen liegt: „In einem Moscheeverein sind vielleicht | |
zehn Mitglieder. Die Besucher sind zumeist keine registrierten Mitglieder.“ | |
Die Gemeinden müssen aber eine genügend hohe Mitgliederzahl nachweisen, | |
wenn sie die Körperschaft beantragen wollen. | |
Neben der alevitischen Gemeinde in Kreuzberg hat das Land Berlin im | |
Dezember noch drei weiteren Gemeinden den Körperschaftsstatus verliehen. | |
Darunter sind der Bund Freier Evangelischer Gemeinden und die Erzdiözese | |
der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien in Deutschland. | |
26 Dec 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://alevi.org/de/ | |
[2] https://www.berlin.de/sen/kulteu/aktuelles/pressemitteilungen/2022/pressemi… | |
[3] https://evfbs.de/index.php?id=365 | |
## AUTOREN | |
Hülya Gürler | |
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