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# taz.de -- Interkulturelle Beziehungen: Verstoßen wegen der Liebe
> Als die assyrische Christin Juliana sich für eine Beziehung mit dem
> Aleviten Burak entscheidet, fordert ihr Bruder: „Pack deine Sachen,
> verpiss dich!“
Bild: Nur wenige Verwandte von Juliana kommen heimlich zu ihrer Hochzeit mit Bu…
Als Juliana den Raum betritt, wirkt sie wie eine Prinzessin, gehüllt in ein
prächtiges Kleid aus elfenbeinfarbener Seide, das mit funkelnden Perlen und
Glitzer verziert ist. Ihre engsten Freunde und Familienmitglieder sind
überwältigt. Sie haben sich in der gemeinsamen Wohnung von Juliana und
Burak versammelt.
Das Paar lebt in einer kleinen Stadt in Baden-Württemberg und heißt
eigentlich anders. Aufgrund des starken Schamgefühls innerhalb ihrer
patriarchalischen Gemeinschaft, in der es unüblich ist, offen über Probleme
zu sprechen, wollen sie anonym bleiben. Die Gäste nutzen die Zeit, um
schnell noch ein paar Fotos mit der Braut zu machen. „Heute ist mein großer
Tag“, sagt sie und lächelt. Eigentlich sollte es der schönste Tag in
Julianas Leben werden, würde sich ihre Familie nicht komplett gegen [1][die
Hochzeit] stellen. Gegen das Brautpaar. Gegen die Beziehung.
[2][Die Brautabholung ist ein emotionaler Höhepunkt] einer orientalischen
Hochzeit. Denn die Braut wird von ihren Eltern und anderen
Familienmitgliedern verabschiedet, bevor sie sich auf den Weg zum Fahrzeug
macht, das sie zum Hochzeitsort bringen wird. Es markiert den Beginn eines
neuen Kapitels im Leben der Frau. Doch in Julianas Fall ruft dieser Moment
schmerzhafte Erinnerungen hervor. „Ich habe gehofft, dass mehr
Familienmitglieder da sein werden,“ sagt sie.
Dennoch ist sie dankbar für die wenigen, die es riskiert haben, zu kommen.
„Ich weiß, dass das, was Juliana getan hat, nicht richtig ist,“ erklärte
eine von Julianas Schwestern auf dem Weg zur Brautabholung. „Trotzdem ist
es meine einzige Schwester und deshalb gehe ich zu ihrer Hochzeit.“ Von
ihren sieben Geschwistern sind nur zwei anwesend. Sie haben sich heimlich
auf den Weg gemacht, so wie der Rest der Verwandten.
## Christlich-orthodoxe Konventionen
Doch was hat Juliana in den Augen ihrer Familie verbrochen? Ihre Familie
sind [3][assyrische Christen], die 1991 nach Deutschland geflüchtet sind
und nach strengen christlich-orthodoxen Konventionen erzogen worden.
Assyrer leben als religiöse und ethnische Minderheit im Irak, Syrien, Iran
und der Türkei, wo sie seit Jahrhunderten in der muslimischen
Mehrheitsgesellschaft verfolgt, vertrieben und ermordet werden.
Mittlerweile lebt der Großteil der Community in der Diaspora – in
Deutschland leben circa 100.000 Assyrer. Aufgrund dieses Traumas ist es mit
einem großen Tabu verbunden, mit einem Muslim eine Beziehung einzugehen. Es
gibt nahezu keine Akzeptanz dafür. Ich kenne Julianas Familie sehr gut,
denn sie sind mit mir verwandt. Die bevorstehende Hochzeit ist für mich
auch etwas Neues, da solche Beziehungen in der assyrischen Community so gut
wie nicht existieren. Uns Kindern wird bei der Partnerwahl auferlegt:
„Hauptsache, er ist Christ.“ Die Beziehung zu einem Muslim stellt eine
unverzeihliche Grenzüberschreitung dar.
Diese Erfahrung musste auch Juliana machen, als sie den alevitischen Türken
Burak kennenlernte. Während sich einige Aleviten als „wahre“ Muslime
betrachten, sehen andere das Alevitentum als eigenständige Konfession
außerhalb des Islams. Auch mit den religiösen Vorschriften geht das
Alevitentum entgegen der orthodoxen islamischen Lehre, liberal um.
Inzwischen ist das Alevitentum in Deutschland als eigenständige
Religionsgemeinschaft anerkannt.
Die 28-Jährige hielt ihre verbotene Beziehung geheim, bis zu dem Zeitpunkt
als Verwandte sie und ihren Freund zufällig in der Stadt trafen – und damit
der Albtraum begann. Obwohl Juliana ihrer Familie vor drei Jahren zu
verstehen gab, dass Burak sogar für sie zum Christentum konvertiert ist,
und es sich bei ihm um einen sehr liberalen Muslim handele, hielten sie
aggressiv dagegen: „Sein Blut ist schon verdreckt!“ Wer einmal Muslim sei,
bleibe immer Muslim.
## Liebe oder Familie?
Für Juliana war klar, dass sie sich entscheiden muss: entweder für ihre
Familie oder für ihre große Liebe. Sie weiß, dass sie das Haus ihrer Eltern
nicht mehr betreten darf, ihre Nichten und Neffen nicht mehr sehen kann –
und ihre Geschwister und Eltern nur noch Verachtung für sie übrig haben
werden, wenn sie sich für diese Beziehung entscheidet. Die Liebe zu ihrem
Freund war in diesem Moment stärker als die Angst – genau wie die naive
Hoffnung, dass ihre Familie sie nicht heute auf morgen aus ihrem Leben
verbannen würde.
Ein Wunschdenken. Juliana lebte bis zu ihrem 25. Lebensjahr mit ihrer
Familie zusammen. Nachdem sie ihre Entscheidung verkündete, erhielt sie von
ihrem Bruder eine SMS „Pack deine Sachen und verpiss dich sofort!“ Ihre
teuren Möbel durfte sie nicht mitnehmen. Nicht einmal ihre Kleidung durfte
sie behalten. Sie packte am selben Tag das Nötigste in eine kleine Tüte und
zog zu ihrem Freund. „Mit meiner Beziehung zu Burak war ich fortan nicht
mehr Teil der Familie“, stellte Juliana fest.
Wenig später schmiedeten Verwandte von Juliana Pläne, ihren Freund
zusammenzuschlagen. Das Thema verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der
assyrischen Community. „Eine unserer Frauen mit einem Muslim? – ein
absolutes No-go“, hieß es. Burak und seine Familie verzweifelten an der
Situation. Obwohl er sich ausführlich mit dem Christentum beschäftigte und
konvertierte, waren seine Mühen umsonst. Die Familie seiner großen Liebe
war nicht einmal bereit, sich ein eigenes Bild von ihm zu machen. Er
erkannte: Es gibt keinen Ausweg aus dieser Situation, denn „sie werden mich
niemals akzeptieren.“
## Panikattacken und heimlicher Kontakt
Wie sehr Juliana unter der Situation litt, zeigte sich langsam an ihrer
psychischen Gesundheit. Sie bekam Panikattacken. Es überkam sie die Angst,
ihre alten und kranken Eltern nicht mehr sehen zu können. Während die
Mutter heimlich Kontakt zu ihrem jüngsten Kind hielt, gab es für den Vater
keine Juliana mehr. „Ich habe Angst, dass ich sterbe und sie wieder ins
Haus gelassen wird“, erzählte er der Mutter besorgt.
Doch woher kommt diese starke Abneigung gegenüber dem Islam? Der
Geschäftsführer des Zentralrats Orientalischer Christen in Deutschland,
Simon Jacob, sieht neben der Verfolgung und Diskriminierung im
muslimisch-nahöstlichen Raum noch weitere Aspekte: „Viele christliche
Gesellschaften des Nahen Ostens leben noch oberflächlich in einer von
Stammesprinzipien geprägten Gesellschaft, die eine Heirat oder eine
Beziehung mit Außenstehenden als Bruch mit den eigenen Sitten und
Traditionen betrachtet.“ Auch die Angst vor dem Verlust der eigenen Kultur
sei laut Jacob entscheidend: „Beziehungen zu anderen
Religionsgemeinschaften schüren die Sorge, dass die eigene ‚Ethnie‘, die
bereits in der Vergangenheit massiv dezimiert wurde, endgültig die eigene
Identität verliert.“
Darüber hinaus gibt es Jacob zufolge eine zusätzliche Abneigung gegenüber
muslimischen Türken, denn während des Ersten Weltkriegs wurden Christen im
Osmanischen Reich systematisch verfolgt, deportiert und getötet.
Schätzungsweise über 3 Millionen Christen fielen diesem Völkermord zum
Opfer, der vom Nachfolgestaat Türkei immer noch geleugnet wird. „Türken
haben uns umgebracht, und unsere Töchter heiraten solche Männer“, empörte
sich der Vater von Juliana. Das Trauma und der Hass sitzen tief.
Mit der Zeit verschlechterte sich der Gesundheitszustand von Julianas
Mutter „Sollte ich irgendwann sterben, möchte ich, dass Juliana auf meine
Beerdigung kommen kann“, erzählte sie ihrer Schwester. Als die Mutter dann
plötzlich im Februar 2023 unerwartet verstarb, war es Juliana gleichgültig,
was ihre Familie von ihr hielt, und sie machte sich auf den Weg ins
Krankenhaus, um Abschied zu nehmen.
Sie schildert, dass selbst in diesem Moment ihre Anwesenheit nicht von
allen respektiert wurde. „Mama, ich hoffe, du vergibst mir“, sagte sie nach
eigenen Angaben weinend vor dem leblosen Körper ihrer Mutter. Im Zimmer
standen ihre Geschwister, ihr Vater und noch ein Onkel, der Julianas Worte
wütend unterbrochen haben soll: „Ich hoffe, Gott, du verzeihst ihr nicht!“
Ihre Brüder machten ihr schnell klar, dass sie in dieser kurzen Zeit bis
zur Beerdigung das Haus betreten dürfe, auch zur Beerdigung und den
Gedenkzeremonien könne sie kommen, schließlich habe es die Mutter so
gewollt, aber danach sollte sie sich nicht mehr blicken lassen.
Burak und seine Familie wollten Juliana in dieser schwierigen Zeit zur
Seite stehen. Für sie war es selbstverständlich, zur Beerdigung zu gehen –
auch wenn sie wussten, dass sie für viele unerwünschte Gäste sind. „Was
fällt ihr eigentlich ein, hierher zu kommen?“, tuschelten die Verwandten.
„Sie schämt sich noch nicht einmal, ihren Muslim-Freund mitzunehmen!“,
murmelten sie auf der Beerdigung. Auch meine Familie fand das Auftreten von
Juliana respektlos.
Es vergingen Monate voller Trauer und Einsamkeit in Julianas Leben. Der
Verlust der Mutter verstärkte ihre depressive Stimmung. Auch ihre
Hochzeitsplanungen mit Burak legte sie auf Eis, bis sie sich nach über acht
Monaten langsam auf das Thema einlassen konnte. Sie begann, ihre ausweglose
Situation zu akzeptieren und all ihre Kraft in ihre gemeinsame Zukunft mit
Burak zu investieren. Endlich wollte sie sich ihren größten Traum erfüllen:
heiraten.
Mehr als 600 Leute feierten an Julianas großem Tag das Glück des
Brautpaares. Sobald die Musik zu dem traditionellen Kreistanz „Halay“
eingeläutet wurde, eilten die Gäste auf die Tanzfläche. Alle Sorgen
schienen vergessen, denn an diesem Tag gab es nur eines, das zählte: Die
Liebe. Juliana hofft immer noch darauf, dass ihre Familie ihr vergibt.
Nicht heute, nicht morgen, aber irgendwann.
20 Jun 2024
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## AUTOREN
Ninve Ermagan
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Assyrer
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