| # taz.de -- Podcast über Alltag in der Weimarer Zeit: Inflation, Krieg, Kälte | |
| > Der Podcast „Auf den Tag genau“ lässt einen tief in die Weimarer Republik | |
| > eintauchen. Die Parallelen zur Gegenwart sind verblüffend und | |
| > beängstigend. | |
| Bild: Auch das gehörte zum Stadtbild Berlins in den 1920er Jahren: Schlange st… | |
| Die Zeitungslandschaft der Weimarer Republik ist Legende. Fast 150 Blätter | |
| erschienen damals in der Reichshauptstadt Berlin, einige von ihnen sogar | |
| mehrmals täglich. Manche von ihnen waren hochprofessionelle Großunternehmen | |
| [1][mit Dutzenden von Mitarbeitern;] andere eher analoge Blogs, die | |
| komplett von ein oder zwei Redakteuren geschrieben wurden. | |
| Die Zeitungsjungen und die überquellenden Kioske sind Teil der historischen | |
| Berliner Stadtfolklore; die Glossen, Rezensionen und Kommentare, die | |
| Autorinnen und Autoren wie Kurt Tucholsky, Joseph Roth oder [2][Gabriele | |
| Tergit] veröffentlichten, sind literarische Relikte eines verklärten | |
| kulturellen Lebens zwischen Romanischem Café, Zeitungsviertel, Haus | |
| Vaterland, Wintergarten und Berlin Alexanderplatz. | |
| Wer wissen möchte, was in diesen legendären Zeitungen aus dieser legendären | |
| Zeit eigentlich genau stand, muss entweder ins Zeitungsarchiv der Berliner | |
| Stadtbücherei gehen oder die kleine Auswahl an Lokalzeitungen, die | |
| digitalisiert im Netz zu finden sind, einsehen. Oder er abonniert den | |
| Podcast „Auf den Tag genau“, den drei geschichtsinteressierte Freunde seit | |
| knapp drei Jahren produzieren und der „täglich eine Zeitungsnachricht aus | |
| der Welt vor hundert Jahren“ liefert. | |
| Die „Welt vor hundert Jahren“ sieht dabei der Welt von heute oft | |
| erstaunlich ähnlich: Inflation, politische Krise, ökonomische Not, | |
| Demonstrationen, Kälte, Krieg. Im Oktober 1920 dachte der Berliner | |
| Magistrat darüber nach, die Weihnachtsferien zu verlängern, weil die Kohlen | |
| für die Berliner Schulen zu teuer waren. Zwar gab es noch keine | |
| Internettrolle und Online-Hetzer ohne Profilbild. Aber Kurt Tucholsky wurde | |
| schon zu dieser Zeit über das damals neue Medium des Telefons anonym | |
| beleidigt und bedroht. | |
| ## Kettenbriefe mit rasender Geschwindigkeit | |
| Virale Posts in den sozialen Medien waren zwar noch unbekannt. Dafür | |
| verbreiteten sich Kettenbriefe mit rasender Geschwindigkeit. Damals wie | |
| heute feierten in Italien rechtsradikale Politiker Überraschungserfolge, | |
| und die deutsche Presse erklärte ihren Lesern pflichtbewusst, was es mit | |
| diesem italienischen „Faschismus“ auf sich hatte – in Deutschland war die… | |
| Ideologie offenbar zu dieser Zeit noch unbekannt. | |
| Damals wie heute ließ die deutsche Justiz bei rechten Straftätern Milde | |
| walten, wie beim Prozess gegen die Rathenau-Attentäter. Über die Funde | |
| deutscher Archäologen in Babylon wurde ohne falsche Scham wegen „Raubgutes“ | |
| berichtet. Und auch ohne omnipräsente Jogginganzüge wurde über den | |
| Untergang der deutschen Eleganz geklagt. | |
| Eine literarische Nachwuchshoffnung namens Bert Brecht wurde vorgestellt | |
| und die neue Entwicklung des „akustischen Films“ angezeigt. Selbst über das | |
| vorherzusehende Ende der Rohstoffe und den drohenden Klimawandel war | |
| bereits 1920 in Berliner Zeitungen zu lesen. Und gegen die unkontrolliert | |
| steigenden Mieten sollte schon zu Beginn der 20er Jahren ein Mietendeckel | |
| helfen. Die Parallelen zur Gegenwart sind verblüffend – und manchmal auch | |
| beängstigend … | |
| Besonders faszinierend sind aber gerade Berichte über Zeitphänomene, die | |
| lange untergegangen sind: Die Fernleihe der Berliner Bücherei per Briefpost | |
| im Ausland, das Hunderennen im Grunewald, die Vorküche für die Speisewagen | |
| der Bahn oder die Einführung der Verkehrsampel lassen uns an dem Alltag | |
| einer Epoche teilnehmen, die heute oft so nostalgisch verbrämt gezeigt wird | |
| [3][wie in der Krimi-Fernsehserie „Babylon Berlin“]. | |
| „Als wir angefangen haben, haben wir uns gar nicht richtig klargemacht, | |
| dass wir da diese Zeitepoche behandeln, um die so ein Hype existiert“, sagt | |
| Fabian Goppelsröder, einer der drei Gründer des Podcasts, der die Sendung | |
| auch moderiert. Zusammen mit Robert Sollich und Jan Fusek wollte man einen | |
| Geschichts-Podcast machen, und die erste Sendung war eben am 1. Januar | |
| 2020. | |
| ## 1.000 Folgen trotz schlichter Arbeitsbedingungen | |
| Eine Vorauswahl an Texten liefert seither Sollich, der bei der Arbeit an | |
| seiner Dissertation im Zeitungsarchiv der Berliner Landesbibliothek | |
| recherchierte und für die Sendung die Ausgaben von über zwanzig Zeitungen | |
| pro Tag durchsieht. In mehreren Redaktionssitzungen pro Monat wird der | |
| tägliche Text ausgewählt, dieser an ein kleines Team von Mitarbeitern | |
| weitergeleitet, die die Originaltexte, die in Frakturschrift veröffentlicht | |
| wurden, abtippen, damit zwei hauptberufliche Schauspieler diese einlesen | |
| können. | |
| Aus diesen Dateien montiert Jan Fusek dann den täglichen Podcast, der um | |
| die zehn Minuten lang ist. Produziert wird ausschließlich zu Hause am | |
| eigenen Laptop. | |
| Obwohl „Auf den Tag genau“ auf allen gängigen Streaming-Plattformen zu | |
| finden ist, zahlen Spotify oder Apple den Machern keinen Cent für diesen | |
| „content“. Eine geringe Einnahmequelle sind Spenden der Zuhörer, „aber d… | |
| reicht gerade für neues Equipment oder um mal zusammen essen zu gehen“, | |
| sagt Goppelsröder. Trotz der schlichten Arbeitsbedingungen sind inzwischen | |
| mehr als 1.000 Folgen entstanden. Der Podcast hat 50.000 Abonnenten und | |
| mehr als 1.000 tägliche Zuhörer, deren Zahl weiter steigt. | |
| Obwohl sie dafür unbezahlt eine Arbeit verrichten, für die man bei einem | |
| traditionellen Radiosender eine mehrköpfige Redaktion hätte, ist | |
| Goppelsröder immer noch von dem Projekt begeistert: „Wir hatten zwar am | |
| Anfang den Arbeitsaufwand vollkommen unterschätzt. Aber ich bin immer noch | |
| froh, dass uns diese Möglichkeit zur Verfügung steht. Vor ein paar Jahren | |
| wäre das undenkbar gewesen.“ Ursprünglich wäre man schon zufrieden gewesen, | |
| wenn man hundert Folgen fertigbekommen hätte. „Aber erst über die Zeit | |
| hinweg entsteht ein Mosaik dieser Epoche“, das ihn immer noch fasziniert, | |
| sagt er. | |
| 29 Dec 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Tilman Baumgärtel | |
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