# taz.de -- Beerdigung in Castell: Abschied vom Willi | |
> Zeit seines Lebens hatte Willibald Lösch lange Tage, arbeitete im | |
> Gasthaus, auf dem Feld und im Weinberg. Und nicht nur dort. Nun ist er | |
> gestorben. | |
Bild: Das Weindorf Castell: Hier war der Willi zu Hause | |
Am Stammtisch saß der Willi immer vor Kopf. Von hier hat man den ganzen | |
Wirtsraum im Blick, und rutscht man von der Holzbank, ist es nur ein kurzer | |
Schritt hinter den Tresen, um eine neue Flasche Wein aus dem Kühlschrank zu | |
holen oder einen Gast abzukassieren. Es ist der zwangsläufige Platz des | |
Wirts. | |
Willibald Lösch war hier in Castell seit 1961 Wirt, und wenn er Hut trug, | |
dann einen grauen Tiroler, und er hatte einen blauen Kittel an. So sieht | |
man ihn oft auf Fotos – beim Pflanzen neuer Reben im Weinberg oder wenn er | |
bei der Hausschlachtung Bratwürste drehte. Die Haare und der Vollbart | |
pechschwarz, in den Augen blitzte ein entwaffnender Witz, auch mit 89. | |
Wirt, Bauer und Winzer, so habe sich der Willi selbst bezeichnet, sagte der | |
Pfarrer in der Trauerpredigt. | |
Wenn der Willi selbst erzählte, um was er sich alles kümmerte, dann fragte | |
ich mich oft, wie lang sein Tag dauerte. Neben dem Gasthaus und dem | |
Weinberg gab es immer noch die Tiere. Als Kind zog er Marder auf, später | |
hielt er Bienen, Hühner, Gänse, Enten. Forellen und Karpfen schwammen in | |
großen Bassins, zeitweise standen Pferde oder Schafe auf der kleinen Koppel | |
hinter dem Gasthaus. Die Schweine für die Hausschlachtung mästete er auch. | |
Er konnte darüber viele Anekdoten zum Besten geben, vor allem aber erzählte | |
er – sicher auch ausgelöst durch Putins Überfall auf die Ukraine – vom | |
Frühjahr 1945, als in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs US-Soldaten | |
den kleinen Ort in Unterfranken erreichten, hier auch Schüsse fielen und | |
sogar beinah das Gasthaus gesprengt worden wäre. Es versperrte das | |
Schussfeld hinauf auf den Schlossberg, wo die Befreier ein SS-Versteck | |
vermuteten. Das Haus blieb verschont, die Familie war es nicht, Vater und | |
Onkel waren tot. | |
Willis Geschichten handelten davon, wie bitter es nach einem Krieg werden | |
kann, wenn nicht mehr die Gegenwart irgendwie bewältigt werden muss, | |
sondern die Zukunft erobert werden will. Er schaffte das. Mit nur 20 Mark | |
in der Tasche übernahm er vor mehr als 60 Jahren den Schwan. Jetzt, da er | |
nicht mehr an seinem Stammtisch sitzt, kommt es mir manchmal vor, als | |
hätten die Mauern und Dielen und auch die Bäume hinten im Garten die | |
Schultern eingezogen und trauern. | |
Der Willi ist am 22. November gestorben, am 2. Dezember hat die | |
Dorfgemeinschaft ihn begraben und seitdem geht mir ein Lied nicht mehr aus | |
dem Kopf. Die [1][Ballade von Konstantin Wecker] kommt mir immer in den | |
Sinn, wenn ein Willi stirbt. Ob er viel gemeinsam hatte mit dem | |
Wecker’schen Willi, weiß ich nicht. Aber am Ende heißt es im Lied: „Wir | |
alle brauchen doch solche, wia du oana bist!“ Und so oana war der Willi | |
auch. | |
18 Dec 2022 | |
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[1] https://www.youtube.com/watch?v=EKfPCxJMN4s | |
## AUTOREN | |
Jörn Kabisch | |
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