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# taz.de -- Turnen im Umbruch: Attraktion auf der Matte
> Heath Thorpe gehört zu den besten 50 Turnern der Welt. Er mischt die
> Szene auf, weil er anders turnt als die Konkurrenz – und weil er schwul
> ist.
Bild: In seinem Element: Heath Thorpe bei der WM in Liverpool
Es gibt sie noch, diese alte Idee: Fußball ist ein Männersport, Ringen
auch, Boxen sowieso. Turnen hingegen ist was für Mädchen, wie
Eiskunstlaufen. Ab und zu paart sich diese Idee – gegen jede Einsicht eines
aufgeklärten Menschen – mit jener, Männer, die turnen, seien vermutlich
schwul. Allein: In der Turnszene selbst denkt das niemand. Offen
homosexuelle Turner, Kampfrichter oder Trainer – Fehlanzeige.
Dank Heath Thorpe, 22 Jahre alt, aus Werribee, einem Städtchen im
australischen Bundesstaat Victoria, ist das nun anders. Er ist der erste
Turner überhaupt, der als offen homosexueller Mann die internationale Szene
betreten hat, bei seiner ersten [1][WM im November in Liverpool]. Und
Thorpe stellt die tradierten Vorstellungen darüber, wie Männerturnen
auszusehen hat, auf der Matte infrage und ist so zu einer Herausforderung
für die Verantwortlichen im Weltverband geworden.
Der Reihe nach: Das Kind Heath spielt Basketball und Cricket, was es beides
nicht mag, und es tanzt. Eine Tante, die selber mal geturnt hatte, rät dem
beweglichen Neffen damals: Der Junge sollte zum Turnen! Heaths Mutter ist
zuerst nicht begeistert, der Siebenjährige umso mehr. Er sieht die
Olympischen Spiele 2008 im Fernsehen und möchte ganz viele Sachen, die die
Frauen und Männern da machen, auch lernen. Heath erweist sich als Talent:
Mit 17 Jahren der erste Wettkampf in der Nationalmannschaft, 2018 Ersatz im
WM-Aufgebot, übrigens im katarischen Doha, 2019 Finalist bei der
Universiade.
In einem Podcast sagt eher nebenbei, dass er seit Jahren offen schwul lebt,
ohne zu wissen, dass er der erste aktive Turner ist, der das je so gesagt
hat. „Das war so ein ‚Oh Shit‘-Moment. Wie jetzt? Ich bin der Erste?“,
erzählt Thorpe in Liverpool. Damals wollte er nicht „gelabelt“ werden,
nicht „der schwule Turner“ sein; „andererseits wusste ich auch, wie wenig
wir in diesem Sport repräsentiert sind“. Dann kam die Pandemie und mit ihr
viel Zeit, über den eigenen Platz in der Welt zu sinnieren. Thorpe kam zu
dem Schluss: „Wenn ich mir selbst treu bleibe, kann ich vielleicht ein
besseres Umfeld für junge queere Turner schaffen und so einen Punkt setzen,
der über mein Turnen hinausgeht.“
## Gymnastische Sprünge
Auch im Training gab es viel Zeit, für Australier waren selbst die wenigen
internationalen Wettbewerbe quasi unerreichbar. Thorpe übte Elemente, die
er immer schon mochte, obschon sie nicht zum Programm gehören: gymnastische
Sprünge. [2][Er postet Fortschritte in seinen Social-Media-Kanälen], die
Reaktionen sind einhellig positiv.
Thorpes Körperhaltung ist perfekt bis in die Fußspitzen, seine Spreizwinkel
sind beeindruckend, seine Linie makellos und elegant. Für einen Teil der
Turnwelt ist es auch genau das, was das Kunstturnen ausmacht, nicht allein
Salti, Schrauben und Akuratesse in jahnscher Diktion. „Ich hab die Sprünge
in meine Übung eingebaut, und damit war auch klar, dass ich sie irgendwann
einreichen würde.“
Kleine Regelkunde: In den sogenannten Wertungsvorschriften ist jedes
Element – sei es ein Salto oder ein Spagatsprung – mit einem
Schwierigkeitsgrad gelistet. Wer ein neues Element erfindet, muss dieses
beim Technischen Komitee des [3][Internationalen Turnverbands FIG] zur
Begutachtung einreichen. Präsentiert ein Turner im Wettkampf ein Element,
das nicht im Katalog steht, wird es schlicht nicht berücksichtigt.
Im Bodenturnen der Frauen spielen gymnastische Elemente wie Drehungen oder
Sprünge eine bedeutende Rolle, bei den Männern sind alle sogenannten
nichtakrobatischen Elemente, für die gleichwohl eine eigene Kategorie
existiert, unwichtiges Beiwerk.
Zum Weltcup in Paris im Frühjahr reicht der australische Verband also
offiziell ein neues Element von Heath Thorpe ein: Kadettsprung mit halber
Drehung. Es wird abgelehnt. „Die Begründung lautete in etwa: Das ist nicht
die Richtung, in die man im Männerturnen gehen wolle“, sagt Thorpe.
## Nichts für den Verband
Arturs Mickevics, Präsident des Komitees, beteuert in Liverpool: „Wir
mögen das. Ja. Schönes Element.“ Aber: „Solche Sprünge sind so schwer zu
bewerten, so was hat es ja bei uns noch nie gegeben.“ Nun ja, im
Frauenturnen werden solche Sprünge seit Jahrzehnten bewertet. Und: Jedes
neu eingereichte Element hat es vorher nicht gegeben.
Was Mickevics auch sagt: Man wolle ja gymnastische Sprünge, „aber nicht so
Ballett, mehr turnerisch“. Dann nennt er einen Namen: Der großartige
Ioannis Melissanidis habe ja so ähnlich geturnt. Melissanidis wurde 1996
Olympiasieger am Boden, danach bekannte er sich zu seiner Homosexualität.
Die abfälligen Sprüche darüber, „wie schwul“ sein Turnen aussehe, gab es
damals noch offen zu hören. „Ich glaube, wir schwule Menschen haben weniger
Probleme mit Weiblichkeit, wir entsprechen bestimmten
Männlichkeitsvorstellungen sowieso schon nicht, das ist auch eine Chance“,
sagt Thorpe.
Er habe es häufig erlebt, dass Turner bestimmte Bewegungen ausprobieren
wollten und es nicht wagten, weil irgendwer urteilte: „Looks gay!“ Er
selbst hat das als Kind schon zu hören bekommen, lange bevor er um seine
sexuelle Orientierung wusste: „Es ist sehr verletzend, wenn dir als Kind
vermittelt wird, dass das, was du tust, wie du dich bewegst, falsch und
inakzeptabel ist, obwohl es für dich ganz natürlich ist.“ Viele seiner
Turnkameraden hätten dem Turnen in jungem Alter den Rücken gekehrt, weil
sie nicht in das vorherrschende „hypermaskuline, machohafte und
heteronormative Raster“ gepasst hätten.
## Wertlose Übung
Bei der WM in Liverpool [4][zeigt Thorpe seine wunderschönen, aber
wertlosen Sprünge] trotzdem. Es nicht zu tun, hätte sich „wie eine
Niederlage angefühlt“. Sein Twitteraccount wird in diesen Wochen über 3
Millionen Mal aufgerufen. „Social Media ist das eine“, sagt Thorpe in
Liverpool: „Aber das ist eine WM, hier sind alle möglichen Länder und
Meinungen vertreten, es ist schon seltsam, wenn deine Identität infrage
gestellt werden kann.“
Zum Glück sei, abgesehen von dem ein oder anderen Kommentar, nichts
vorgefallen. Im Gegenteil, er habe sehr viele positive Kommentare von
anderen Turnern und auch von Kampfrichtern bekommen. „Es verändert sich“,
ist Thorpe überzeugt: „Meine Kollegen im australischen Team sind großartig,
ihnen verdanke ich viel.“
Während seiner Bodenübung erhält Thorpe auch vom Publikum in der Halle
lauten Szenenapplaus. Das ist auch Arturs Mickevics aufgefallen: „Dieser
Australier hatte seine 30 Sekunden Applaus. Sein Ziel war es, attraktiv zu
sein.“ Er versichert, man werde im Komitee über die gymnastischen Sprünge
sprechen.
Heath Thorpe, der im vergangenen Jahr für die TG Allgäu in der Bundesliga
startete, wurde in Liverpool 50. im Mehrkampf. Sein Ziel sind die
Olympischen Spiele in Paris; und dass das Männerturnen jedem offensteht:
„Wenn ich mir vorstelle, ich hätte als Kind jemanden turnen gesehen, der so
Sachen macht, hätte ich mich so viel besser gefühlt. Also sage ich mir: Ich
mache das für den kleinen Heath, und wenn er zuschaut, dann hat er
hoffentlich das Gefühl: Ich bin okay in dem Sport.“
17 Dec 2022
## LINKS
[1] /Weltmeisterschaften-im-Turnen/!5889140
[2] https://www.instagram.com/p/CkZfbpIqQ7A/
[3] /Der-Sport-und-der-Globale-Sueden/!5888591
[4] https://www.youtube.com/watch?v=IVBaPzz98o8
## AUTOREN
Sandra Schmidt
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Thomas Hitzlsperger
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