# taz.de -- Reformkosmetik in Iran: Sittenpolizei weg, „Sitten“ bleiben | |
> Irans Justiz erklärt, die islamische „Sittenpolizei“ sei nicht mehr für | |
> Sittenverstöße zuständig. Ihre Brutalität hatte die Massenproteste | |
> ausgelöst. | |
Bild: Huch: Ohne Kopftuch auf der Straße. Darf die das? Teheran, 14. November | |
Berlin taz | Irans Sittenpolizei ist angeblich aufgelöst worden. Das | |
verkündete Irans Generalstaatsanwalt Mohammad Dschafar Montazeri am | |
Samstag. Zugleich stellte er klar, dass die islamischen Sittengesetze, die | |
mit der iranischen Revolution 1979 eingeführt wurden, weiterhin gültig | |
sind. | |
„Die Sittenpolizei hat mit der Justiz nichts zu tun“, wurde Montazeri von | |
der staatlichen Nachrichtenagentur ISNA zitiert. Die Justiz würde Verstöße | |
gegen die Sittengesetze weiterhin verfolgen und bestrafen. | |
Wie das im Detail geschehen soll, bleibt vorerst offen. Das iranische | |
Parlament und die Justiz der Islamischen Republik sollen nach Angaben des | |
Generalstaatsanwalts den gesetzlichen Kopftuchzwang demnächst überprüfen. | |
Die Nachricht schlägt Wellen, denn die iranische Sittenpolizei (Gascht-e | |
Erschad) war bisher das in der Bevölkerung am meisten gefürchtete | |
Instrument der Regierung, um die strengen islamischen Sittengesetze | |
durchzusetzen. | |
In grünen Vans patrouillierten ihre Einheiten belebte Straßen und Orte und | |
nahmen Menschen fest, deren Kleidung, Aussehen oder Verhalten angeblich | |
[1][gegen die islamischen Vorschriften] verstießen – vor allem Frauen. Es | |
drohten Geld- und Haftstrafen, aber auch Misshandlungen. | |
## Zwei Monate Aufstand, über 400 Tote | |
So geschah es im Fall der iranischen Kurdin Dschina Mahsa Amini, die Anfang | |
September auf Besuch in Teheran war und die nach Ansicht der | |
Sittenpolizeibeamten zu viele Haarsträhnen unter dem Kopftuch hervorschauen | |
ließ. Dschina Mahsa Amini wurde in Gewahrsam der Sittenpolizei mutmaßlich | |
getötet, was [2][landesweite Proteste] und Streiks auslöste. | |
Die Aufstände, die mittlerweile einen demokratischen säkularen | |
Systemwechsel für das Land fordern, gehen auch nach zwei Monaten | |
ungebrochen weiter – trotz eines brutalen Durchgreifens des iranischen | |
Sicherheitsapparats. Bislang sollen nach Schätzung von | |
Menschenrechtsorganisationen rund 470 Demonstrierende getötet worden sein. | |
Für Montag, Dienstag und Mittwoch sind wieder landesweite Kundgebungen und | |
Streiks angekündigt, was mit ein Grund dafür sein dürfte, weshalb die | |
Ankündigung zur Abschaffung der Sittenpolizei ausgerechnet jetzt kommt. | |
De facto ist die Sittenpolizei schon seit Beginn der Proteste vom | |
Straßenbild verschwunden. Stattdessen sieht man im Iran immer mehr Frauen, | |
die als Zeichen des Protests ohne Kopftuch auf die Straße gehen, vor allem | |
in den Städten. | |
## Kommen stattdessen die Revolutionsgarden? | |
Viele Iranerinnen und Iraner sehen die Abschaffung der Sittenpolizei als | |
wichtigen Etappensieg ihrer Protestbewegung. Doch die Freude bleibt | |
verhalten. Denn ob die Maßnahme eine konkrete Besserung bedeutet oder nur | |
als Ablenkungsmanöver dienen soll, bleibt vorerst unklar. | |
Noch Ende Oktober verkündete Ali Khan-Mohammadi, der Sprecher des | |
staatlichen „Amtes für das Gebieten des Rechten und Verbieten des | |
Verwerflichen“, dass die Durchsetzung der Sittengesetze noch weiter | |
verschärft werden solle. Künftig sollten dafür auch die [3][Basidschi, die | |
Freiwilligen-Miliz der Revolutionsgarden], eingesetzt werden. | |
Berüchtigt sind die Basidschi vor allem dafür, dem Regime mit äußerster | |
Gewalt bei der Unterdrückung der Proteste zur Seite zu stehen. | |
Die Abschaffung der Sittenpolizei könnte also beides sein: eine konkrete | |
Lockerung oder ein Schritt hin zu einer anderen, möglicherweise noch | |
repressiveren Form der Durchsetzung der islamischen Vorschriften. | |
Stimmen aus der Protestbewegung scheinen sich bei einem Punkt jedenfalls | |
einig zu sein: Die Auflösung der Sittenpolizei ist ein deutliches Zeichen | |
der zunehmenden Schwäche des Regimes. | |
Erst letzte Woche zeigten geleakte interne Dokumente, dass das Regime immer | |
größere Schwierigkeiten hat, Basidschi und Sicherheitskräfte gegen die | |
Protestierenden zu mobilisieren. Die Motivation sei oft schwach, und die | |
Angst, im Einsatz verletzt oder gar getötet zu werden, groß. Dutzende | |
sollen durch die massive Gegenwehr der Demonstrierenden bereits ums Leben | |
gekommen sein. | |
Selbst wenn die islamischen Sittengesetze und ihre Durchsetzung dauerhaft | |
gelockert werden sollte, dürfte das die Protestierenden kaum befriedigen. | |
Denn von ihren eigentlichen Forderungen – einem säkularen und | |
demokratischen Systemwandel – ist Iran noch weit entfernt. | |
4 Dec 2022 | |
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## AUTOREN | |
teseo la marca | |
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