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# taz.de -- Inhaftierte Frauenrechtlerin in Iran: 785 Tage Krisenmodus
> Wie ich für meine inhaftierte Mutter zur politischen Aktivistin wurde –
> und warum das jedeR kann.
Bild: Es ist Zeit, Denkmäler zu stürzen
Ein ruhiges und normales Leben vermisst man erst, wenn es einem genommen
wird. Es ist ein Freitagabend im Oktober 2020, als meine Mutter aufhört,
auf meine Nachrichten zu antworten. „Du bist online, warum antwortest du
nicht?“, lautet meine letzte Nachricht an sie. Meine Familie im Iran macht
sich auf die Suche nach ihr. Zwei Tage später erhalte ich einen Anruf:
„Deine Mutter ist in Isolationshaft im Evin-Gefängnis, man sagte uns, es
handele sich um einen nationalen Sicherheitsfall. Weder wir noch ein
Rechtsanwalt dürfen sie sehen.“ Das Blut in meinen Adern gefriert –
Krisenmodus an.
Wenn man wie ich in einer politischen Familie aufwächst, sind das
Evin-Gefängnis in Teheran und politische Gefangenschaften vertraute
Begriffe, hat man sie doch seine gesamte Kindheit immer mal wieder
aufgeschnappt. Ich wusste immer, dass in dem Land, in dem ich geboren bin,
in dem Land, in dem meine Wurzeln liegen, schlimme Dinge passieren –
Menschen aufgrund ihrer politischen Einstellung und ihrer Aktivitäten
festgenommen und sogar hingerichtet werden können. Aber für mich – 5.000
Kilometer entfernt in meiner Heimat Köln – war das eine andere Welt.
Bis zum Oktober 2020, als meine Seifenblase platzt und die Last der
Menschenrechtsverletzungen der Islamischen Republik Iran sich auf meine
Schultern legt: Meine Mutter, die [1][Frauenrechtlerin Nahid Taghavi], ist
seit dem 16. Oktober 2020 eine politische Gefangene der Islamischen
Republik Iran. Da sie deutsche Staatsbürgerin ist, setze ich mich als
Erstes mit dem Auswärtigen Amt in Verbindung. Man verspricht mir, sich
einzusetzen und empfiehlt mir, den Fall nicht öffentlich zu machen und auf
stille Diplomatie zu vertrauen. Ich widersetze mich dieser Empfehlung – bis
heute.
Als hätte alles, was ich von meiner Mutter gelernt habe, jahrzehntelang in
mir geschlummert und auf den Moment gewartet, entfaltet zu werden.
Aktivistinnen-Modus an. Ich recherchiere, ich lege Social Media Accounts an
und informiere unter dem Hashtag #FreeNahid die Öffentlichkeit über die
neuesten Entwicklungen. Die ersten Medien werden aufmerksam, ich gebe
Interviews. Auf einmal ist der Name meiner Mutter in den Überschriften
großer Zeitungen zu lesen. NGOs wie die Internationale Gesellschaft für
Menschenrechte und Amnesty International nehmen sich ihres Falls an.
## Die Gefängnisse sind gefüllt mit Andersdenkenden
Es fühlt sich gut an: Die Islamische Republik Iran hat vielleicht meine
Mutter in ihrer Gewalt, aber zumindest sorge ich dafür, dass sie nicht
vergessen wird. Meine Recherchen ergeben, dass es tausende Fälle
politischer Gefangenschaften gibt. Ich beschäftige mich mit den Personen
dahinter. So lerne ich zum Beispiel den Umweltschützer*innen-Fall kennen.
Eine Gruppe von 7 Naturschützer*innen, die nach Folter und unfairen
Verfahren zu bis zu 10 Jahren verurteilt worden waren. Ich lerne, dass die
Gefängnisse der Islamischen Republik Iran gefüllt sind mit
Menschenrechtsaktivist*innen, Frauenrechtler*innen, Anwält*innen,
Journalist*innen und jeglichen Andersdenkenden. Menschen, die in einem
freien Land Auszeichnungen bekommen würden, verbringen im Iran die besten
Jahre ihres Lebens hinter Gittern. Ab dem Zeitpunkt ist für mich klar: Ich
kann nicht nur die Freiheit meiner Mutter fordern, ich muss allen
politischen Gefangenen eine Stimme geben.
Währenddessen verbrachte meine damals 66-jährige Mutter Nahid m Taghavi
sieben Monate in Isolationshaft im Evin-Gefängnis. Sie wurde vom
Geheimdienst der Revolutionsgarde über 1.000 Stunden ohne Rechtsbeistand
verhört. Sie entwickelte in der Zeit Diabetes und mehrere
Bandscheibenvorfälle. Die Konditionen in der Isolationshaft sind darauf
konzipiert, Gefangene zu brechen. 194 Tage hat meine Mutter in einer
kleinen Zelle, allein, ohne Bett, Matratze oder Kissen auf dem Steinboden
geschlafen. Sie hat monatelang eine Augenbinde getragen, wurde von Kameras
überwacht und hatte kaum Zugang zu frischer Luft. Die Essenrationen wurden
absichtlich klein gehalten, sie verlor 14 kg während dieser Zeit. Ihr
Gesundheitszustand verschlechterte sich rapide, aber sie schafften es
nicht, ihren Geist zu brechen.
Die Gerichtsprozesse meiner Mutter sind eine Farce. Die Islamische Republik
Iran klagt sie wegen „Beteiligung an der Führung einer illegalen Gruppe“
und „Propagandaaktivitäten gegen den Staat“ an. Meine Mutter erwidert vor
Gericht: „Wenn Propaganda bedeutet, über die [2][desaströse
Frauenrechtslage], die Misswirtschaft, die Armut, die Korruption und die
Zerstörung der Umwelt zu sprechen, dann bin ich schuldig.“ Im August 2021
wird sie zu 10 Jahren und 8 Monaten Haft verurteilt. Die Islamische
Republik Iran hat ihre Meinung, ihre Worte und ihr Denken kriminalisiert.
Dennoch war meine Kampagne erfolgreich. Durch den öffentlichen Druck durfte
meine Mutter mit ihrem unabhängigen Anwalt vor Gericht treten, sie wurde
aus der Isolationshaft in den normalen Gefängnisvollzug verlegt und von
Juli bis November 2022 in einen medizinischen Hafturlaub entlassen. Im
November diesen Jahres musste sie zurück ins Evin-Gefängnis. Wir sind also
noch lange nicht am Ende.
In der gesamten Zeit meines Aktivismus gibt es aber eine Sache, die mich
anstrengt. Ich muss immer wieder aufs Neue erklären, warum es politische
Gefangenschaften im Iran gibt. Dass es sich bei der Islamischen Republik
Iran um ein [3][theokratisches faschistisches Regime] handelt, in dem
Scharia-Gesetze herrschen, Frauen per se Menschen zweiter Klasse sind und
ethnische Minderheiten sowie jegliche Andersdenkende systematisch verfolgt
und unterdrückt werden. Ich fühle mich oft allein.
Doch all dies ändert sich schlagartig am 17. September 2022. Der Tod der
Kurdin Jina Mahsa Amini in Polizeigewahrsam – die nach Auffassung der
Sittenwächter ihre Kopfbedeckung nicht ordnungsgemäß trug – löst eine Wel…
der Proteste aus, sowohl im Iran als auch im Ausland. Revolutionsmodus an.
Kurdistan, Balutschestan, Frauenrechte, Moralpolizei, Revolutionsgarde,
politische Gefangene, Evin-Gefängnis – auf einmal sind alle Augen auf den
Iran gerichtet. Endlich.
Frau. Leben. Freiheit. Diesen Ruf hören wir nun seit fast 3 Monaten aus dem
Iran. Der Mord an Jina Mahsa Amini war wie ein Tropfen, der das Fass zum
Überlaufen gebracht hat. Und dabei geht es nicht um „das bisschen Wind im
Haar“ von vom Kopftuch befreiten Frauen, sondern um den Willen einer ganzen
Nation, die nach 43 Jahren Diktatur nichts weniger als Gerechtigkeit,
Gleichheit, Selbstbestimmung und Freiheit fordert. Der Sicherheitsapparat
des Regimes reagiert, wie er es seit über 40 Jahren tut: Mit Mord, mit
Verhaftungen, mit Vergewaltigungen, mit Scheinprozessen und Hinrichtungen.
## Handschellen made in UK
Aber nicht nur im Iran ist der Ruf nach Freiheit allgegenwärtig, auf der
ganzen Welt solidarisieren sich Menschen mit den Iraner*innen. Tägliche
Kundgebungen, Mahnwachen und Demonstrationen verstärken die Stimmen der
Menschen im Iran. Allein am 22. Oktober 2022 kamen über 80.000 Menschen in
Berlin zusammen.
Der Druck steigt, Politiker*innen äußern sich und Sanktionspakete
werden verabschiedet. Erstmalig in der Geschichte hält der
UN-Menschenrechtsrat am 24. November 2022 eine Sondersitzung zur
Menschenrechtslage im Iran ab. Eine Resolution wird verabschiedet.
Die Politik hat aus politischen und wirtschaftlichen Interessen viel zu
lange weggeschaut, während die Menschenrechtslage im Iran sich immer mehr
verschlechtert hat. Europäische Firmen verdienen durch Iran-Geschäfte eine
Menge Geld. Eine ehemalige politische Gefangene hat mir mal erzählt, dass
auf den Handschellen, die man ihr auf dem Weg zum Verhörraum anlegte, „Made
in UK“ stand.
Wenn ich aber eins in meinem langen Kampf um die Freilassung meiner Mutter
gelernt habe, dann, dass der Druck auf die Politik von der Zivilbevölkerung
ausgeht, also von euch Bürger:innen. Ihr, die ihr Petitionen
unterschreibt, in den Sozialen Medien aktiv seid, zu Protestaktionen geht
und eure Stimme dafür nutzt, Aufmerksamkeit zu schaffen. Im Iran gibt es
keine Pressefreiheit, ebenso ist das Internet sehr stark gedrosselt. Die
mutigen Menschen sind de facto die unabhängigen Berichterstatter*innen
des Landes, sie setzen täglich ihr Leben aufs Spiel, um der Welt mit
selbstgedrehten Videos die Wahrheit zu zeigen. Das Mindeste, was wir tun
können, ist hinschauen und es verbreiten. Seid euch dessen immer bewusst,
wenn ihr euch das nächste Mal fragt: „Kann meine Stimme was bewirken?“
Als die Afroamerikanerin Rosa Parks sich 1955 weigerte, ihren Platz für
einen weißen Fahrgast zu räumen, löste sie den Busboykott von Montgomery
aus, der bis heute neben anderen Protesten als Anfang der Schwarzen
Bürgerrechtsbewegung gilt. Und als die damals 17-jährige Darnella Frazier,
die am 25. Mai 2020 das Video von der Tötung George Floyds durch den
US-Polizisten Derek Chauvin filmte und verbreitete, löste sie damit eine
weltweite Protestwelle gegen rassistisch motivierte Polizeigewalt aus. „I
can’t breathe“ wird in Folge zur Parole der Black-Lives-Matter-Bewegung.
Die Geschichte hat uns gelehrt, dass es auf die Einzelne oder den Einzelnen
ankommt – dass aber Veränderungen nur dann geschehen, wenn genügend
Menschen sich lautstark gegen soziale Ungerechtigkeit, Willkür und
Repression einsetzen.
Der 10. Dezember ist der Internationale Tag für Menschenrechte. Wenn Euch
das Schicksal meiner Mutter Nahid Taghavi und das Schicksal der Menschen im
Iran berührt hat, dann, liebe Leserinnen und Leser, erhebt eure Stimmen:
Solidaritätsmodus an.
11 Dec 2022
## LINKS
[1] /Neues-zur-Petition-FreeNahid/!5794334
[2] /Sittenpolizei-des-iranischen-Regimes/!5896485
[3] /Todesurteil-vollstreckt/!5902017
## AUTOREN
Mariam Claren
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Proteste in Iran
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