# taz.de -- Wissenschaftler diskutieren Mythos: Weniger Armut dank Kapitalismus? | |
> Seit Jahrzehnten wird behauptet, dass Kapitalismus gegen extreme Armut | |
> hilft. Eine neue Studie zeigt: So simpel ist es nicht. | |
Bild: Sichtbare Armut am Rande von Buenos Aires | |
Es gibt ein Diagramm, entworfen von dem Wirtschaftswissenschaftler Martin | |
Ravallion und bekannt gemacht von dem Psychologen und Bestsellerautor | |
Steven Pinker, das beweisen soll, dass der Kapitalismus Armut beseitigt. Es | |
beginnt im Jahre 1820 und [1][zeigt anhand einer Linie, die stetig sinkend | |
gegen null läuft], den Anteil in extremer Armut lebender Menschen auf der | |
Welt, die weniger als 1,90 Dollar Kaufkraft pro Tag zur Verfügung haben. | |
Nur: Stimmt das so? Bis 1981 beziehen sich die Daten, auf denen das | |
Diagramm beruht, auf das [2][Bruttoinlandsprodukt (BIP)]. Davon wird die | |
Kaufkraft der Menschen abgeleitet. Wenn Menschen neben der Lohnarbeit noch | |
Nahrung selbst angebaut haben oder sich von Gemeingütern bedienen konnten, | |
taucht das nicht auf. Dazu kommt, dass [3][der Zusammenhang zwischen BIP | |
und Versorgungslage] empirisch widerlegt ist: Wenn im Zuge der | |
Kolonisierung auf vormaligen Maisfeldern nun Baumwolle angebaut wird, | |
schlägt sich das im BIP als wachsender Umsatz des Grundbesitzers nieder. | |
Die Nahrungsmittelversorgung der Bauern verschlechtert sich aber eher. | |
## Die Studie | |
Deshalb haben Dylan Sullivan und Jason Hickel für eine Studie, die in der | |
[4][Fachzeitschrift World Development veröffentlicht wurde], eine andere | |
Perspektive eingenommen. Um extreme Armut zu entdecken, nutzen sie drei | |
Indikatoren. Zuerst schauen sie sich die Reallöhne ungelernter | |
Arbeiter*innen in Städten an, weil diese Gruppe häufig extrem arm ist. | |
Sie rechnen die Löhne auf einen Einkaufskorb der Grundbedürfnisse herunter, | |
der auf historischen Preisdaten basiert. Außerdem nutzen sie Daten über | |
durchschnittliche Körpergröße, weil sich daran Unterernährung und | |
Krankheiten ablesen lassen, und über die Sterblichkeit. Alle Indikatoren | |
haben ihre Schwächen. Zum Beispiel kann die durchschnittliche Körpergröße | |
trotz vieler armer Menschen hoch sein, weil aufgrund [5][starker | |
Ungleichheit] reiche Menschen sehr groß sind. Weil die Autoren drei | |
verschiedene Indikatoren kombinieren, sind die beobachteten Trends aber | |
verlässlich. | |
Mit Ausnahme von Europa zeigt sich in den untersuchten Regionen – | |
Lateinamerika, südliches Afrika, Südasien und China –, dass die Reallöhne | |
kollabieren, die Körpergröße sich verringert und die Sterblichkeit steigt, | |
sobald die Regionen in den Weltmarkt eingebunden werden. Hungersnöte werden | |
häufiger. Keine Spur mehr vor der sanft absinkenden Kurve. | |
## Was bringt’s? | |
Interessanterweise erholen sich alle drei Indikatoren meist, wenn die | |
beobachteten Länder demokratischer werden. Das kann verschiedene Gründe | |
haben – hier fehlt noch robuste Forschung zu den Kausalitäten. Aber nur mit | |
„dem Kapitalismus“ lässt es sich auf jeden Fall nicht erklären. Wenn Ihnen | |
also jemand aus der Familie an Heiligabend das Ravallion-Diagramm zeigt, | |
können Sie sagen: Ganz so simpel ist es nicht. | |
13 Dec 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.pymnts.com/financial-inclusion-3/2019/global-poverty-chart-bill… | |
[2] /Wohlstand-jenseits-vom-BIP/!5894747 | |
[3] /Alternativen-zum-Bruttoinlandsprodukt/!5894750 | |
[4] https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0305750X22002169?via%3Di… | |
[5] /Soziale-Ungleichheit-nimmt-zu/!5861409 | |
## AUTOREN | |
Jonas Waack | |
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