# taz.de -- Jahresrückblick: Weg damit! | |
> Für unseren Autor ist es höchste Zeit, sich vom Denken in Kalenderjahren | |
> zu verabschieden. Im Jetzt entscheidet sich die Zukunft. | |
Bild: Statt in Kalenderjahren in Monszyklen denken: Der letzte Vollmond des Jah… | |
Für das journalistische Tagesgeschäft spielt der Blick auf die Jahrtausende | |
aus naheliegenden Gründen keine Rolle. Aber angesichts der drohenden | |
Katastrophe kann es nicht schaden, sich einer wesentlichen Tatsache gewahr | |
zu werden: Die Zivilisationen kommen und gehen. Um unsere ist es nicht gut | |
bestellt. | |
Das fällt den Leuten zum Jahreswechsel zwar besonders stark auf, wird aber | |
sogleich der Logik des Kalenderjahres untergeordnet. So enden die | |
Jahreschroniken, die wir dieser Tage zu lesen und zu sehen bekommen, oft | |
mit dem Wunsch, im nächsten Jahr werde alles, wenn schon nicht gut, dann | |
doch zumindest besser. | |
Da wird etwa im Spiegel zwar ein „perfekter Sturm globaler Krisen“ | |
konstatiert, also düster aufs fast vergangene Jahr geblickt, aber auch die | |
Hoffnung formuliert, dass die „goldenen Jahre“ zurückkehren könnten. Die | |
FAS nimmt die allgemeine Erschöpfung in den Blick und zitiert einen | |
Psychiater: „Je länger eine Krise währt, desto schwerer fällt die | |
Regeneration.“ Man fragt sich also, wie viel ein mitteleuropäischer Mensch | |
aushält, bevor er vollends durchdreht. Die derzeitige „Polykrise“ ist | |
anscheinend ein bisschen zu viel fürs Gemüt. | |
## Wir wissen und wir verdrängen | |
Kurz gesagt, überall wird geredet und geschrieben, als sei es in diesem | |
Jahr besonders dicke gekommen. Dafür wird in ersterer Zeitung das Bild des | |
„Schwarzen Schwans“ bemüht, eine Metapher von Nassim Nicholas Taleb, | |
mittels derer der Mathematiker „nicht vorauszusehende Ereignisse mit | |
massiven Folgen für die Welt“ beschreibt. | |
Das ist das Fazit des Jahres 2022? Wir wissen seit Marx und Engels, | |
[1][dass die kapitalistische Moderne eine Dauerkrise ist], die uns zwar | |
unvorhergesehenen Wohlstand beschert, aber eines Tages ruiniert haben wird. | |
Wir wissen seit sechzig Jahren, [2][dass wir den Planeten überheizen]. Wir | |
wissen, dass unsere Spezies ein Killer ist, der die Artenvielfalt innerhalb | |
von hundert Jahren in einem Maß zerstört hat, das bis dahin Meteoriten | |
vorbehalten war, die unversehens aus dem All aufschlugen. | |
Wir wissen, dass das Schwinden der Biotope der Grund dafür ist, [3][dass | |
fiese Viren nun viel häufiger von der Fledermaus auf den Menschen | |
überspringen.] Wir wissen das alles schon lange. Bisher dachten wir halt, | |
wir könnten es uns leisten, unser Wissen zu verdrängen und uns bei einer | |
schönen Netflixserie ein bisschen zu entspannen. | |
Das Genre des Jahresrückblicks mag einst, in kommunikativ bedächtigeren, | |
prädigitalen Zeiten der gesellschaftlichen Selbstverständigung gedient | |
haben. Heute ist es ein Genre, das dazu beiträgt, uns zu versichern, dass | |
schon alles irgendwie gut ausgehen wird: neues Jahr, neues Spiel, neues | |
Glück. Es ist an der Zeit, dieses Denken zu verlernen und stattdessen jeden | |
Morgen aufs Neue zu sagen: Dieser Tag zählt. Es gibt nur die Gegenwart. | |
Im Hier und Jetzt werden die Entscheidungen darüber gefällt, ob in 50 | |
Jahren noch Chroniken der Menschheitsgeschichte geschrieben werden oder | |
nicht. | |
## Jetzt oder nie | |
Um das Notwendige zu tun, müssen wir uns also aufs Jetzt konzentrieren. Um | |
uns von der Idee, dass zu Silvester die Karten neu gemischt werden, zu | |
verabschieden, ist es vielleicht hilfreich, in anderen Zeiträumen zu | |
denken. Viele Kulturen nahmen und nehmen den Gang der Zeit nicht im | |
Rhythmus von Kalenderjahren wahr. Sie schauen auf den Zyklus des Mondes. | |
Die Umrundung unseres Planeten um die Sonne wiederum gibt zweimal Anlass zu | |
feiern: die Sonnenwende im Winter und im Sommer. | |
Wer in Kalenderjahren denkt, glaubt an die Erlösung: Alles wird gut. Wer | |
die kosmischen Zyklen im Blick hat, ist sich bewusst, dass in der Natur | |
alles wiederkehrt, die eigene Zeit aber begrenzt ist. | |
11 Dec 2022 | |
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## AUTOREN | |
Ulrich Gutmair | |
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