# taz.de -- Jean Arp-Ausstellung in Bremen: Frieden in der Welt der Nabel | |
> Was es alles Gips! In nie dagewesener Fülle haben Jean Arps bestimmt | |
> unbestimmte Figuren das Gerhard-Marcks-Haus in Bremen erobert. | |
Bild: Nach Selbstauskunft „in einer Wolke geboren“: Jean Arp, hier mit Mono… | |
Gipskörper haben den Raum besetzt. Gipskörper, massenhaft Gipskörper, die | |
in ihrer entschiedenen Unbestimmtheit an Figuren erinnern, die man | |
irgendwoher kennt, aber gerade vergessen hat. Sie drängen sich ballonartig | |
gewölbt oder kurvig-konkav zusammen auf den weißen Sockeln im zentralen | |
Saal des Bremer [1][Gerhard-Marcks-Hauses], Miniknubbel neben meterhohen | |
Stängeln, roséfarbige, glattpolierte, raue. | |
Es sind Hunderte, dicht an dicht, wie eine Invasion, wobei Jean Arps | |
Plastiken auf eine seltsame Weise immer eine schwer fassbare Freundlichkeit | |
ausstrahlen: Nichts an ihnen ist Kampf, nichts Strenge, nichts | |
Verzweiflung. | |
Jean Arp, manche sagen auch Hans, ist unter Laien vielleicht kein so | |
bekannter Name mehr. Aber der Elsässer, 1886 nach lyrischer Selbstauskunft | |
„in einer Wolke geboren“, ist der prägendste Bildhauer der klassischen | |
Moderne: [2][Allenfalls] Henry Moore und [3][Constantin Brâncuși] kommen da | |
noch ran. | |
Prägend heißt nicht: der beste oder der bedeutendste; das sind ohnehin | |
romantische Kategorien ohne jeden Wert. Aber prägend, das lässt sich | |
nachprüfen – denn nicht nur die Art, Kunst zu sehen, sondern auch überhaupt | |
Welt wahrzunehmen, ist so deutlich von Jean Arps plastischen Arbeiten | |
mitbestimmt, wie sonst höchstens durch die Malerei Pablo Picassos. | |
## Wo Blumen seufzen | |
Gut ablesen kann man das zum Beispiel an den zahllosen – zuverlässig | |
reaktionären – Versuchen, moderne Kunst per Karikatur zu verspotten. Sie | |
zeigen Betrachter, die sich wahlweise ratlos einer Arlésienne-Parodie im | |
Bilderrahmen gegenüber stehen, oder die sich eben über eine | |
wolkig-organische Form auf einem Sockel wundern, weil sie nicht erkennen | |
können, was das denn nun wieder sein soll. | |
Die besten Antworten nicht nur auf diese Frage sind lyrisch: [4][In einem | |
Prosagedicht hat Paul Éluard] Arp den Willen zugeschrieben, selbst in | |
erkalteter Asche noch jene kleinen Vögelchen zu suchen, „die nie die Flügel | |
schließen“. Alles klar? | |
Zum Glück nicht! Sich auf Arp einzulassen, heißt, einer Fantasie zu folgen, | |
die ihren Flug selbst dann nicht einstellt, wenn sie verbrannt, gestutzt | |
und tot ist, zum Werk geronnen, zum Standbild: Das klingt an in Titeln wie | |
„Seufzer einer Blume“, „Frucht unterwegs“, „Landschaft oder Frau“ �… | |
diese wundervolle, aber das bürgerliche Zucht-, Ordnungs- und | |
Sicherheitsbedürfnis verletzende Unbestimmtheit! Diese Formen, deren | |
Dialektik unvermittelt bleibt, erlöst vom Zwang, sich zwischen Masse oder | |
Gestalt zu entscheiden! | |
Dem entspricht eine Arbeitsweise, die den Gegensatz von additiven Bildern | |
und substraktiver Hauerei fröhlich nebeneinander bestehen lässt. Auf diese | |
Weise schaffen Jean Arps Plastiken ihre eigene Wirklichkeit. Und wenn man | |
das auch mit einem gewissen Recht auch von jeder anderen Skulptur behaupten | |
kann: Vor ihm war das den Künstler*innen allenfalls halb bewusst. | |
Arp hingegen hatte das schon 1915 als Ziel seines Schaffens benannt, ein | |
Jahr bevor er in Zürich Dada mitbegründet. Er ist es, der dieser | |
Antikunstkunst mit dem Nabel zu einem Signet verhilft, dessen | |
Wiedererkennbarkeit jeden Grafikdesigner vor Neid erblassen lassen muss. | |
Ebenso wie dessen Anwendungsvielfalt. Denn ob Schnurrbart, Stern, Monokel, | |
Gabel oder Tisch: Alles kann ja einen Nabel haben. Oder muss das sogar. | |
Die Idee der Bremer Ausstellung ist, keine Holz- und keine Steinfigur zu | |
zeigen, und keine Bronze. Dafür aber einmal, erstmals und letztmals, den | |
kompletten Gips, also sämtliche in Kalziumsulfat modellierten Arbeiten | |
Arps. | |
Das ist natürlich völlig irre, und räumlich hat es das kleine | |
Bildhauermuseum an seine Grenzen gebracht: Etwa 800 Gipsfiguren gibt’s, | |
etwas mehr als 300 stellen sie in der alten Ostertorwache aus, und die | |
Präsentationsweise spielt nicht nur im Gedränge des großen, mittleren Raums | |
mit der Vorstellung von industrieller Massenproduktion. | |
„Firma Arp“ hat man, leicht häretisch, die Ausstellung genannt. Und auch | |
wenn einzelne Stücke – niemand erfährt, welche – echte Reliquien sein | |
könnten, also von der Hand des Heiligen Hans selbst geformte Körper, und | |
nicht vom Gipser gegipste Auftragsgipse: Das weihevolle Pathos der | |
Original-Verehrung, den Kult ums vermeintliche Unikat zerstört die | |
Ausstellung aktiv. | |
Das ist nicht ohne Hintersinn. Und auch, dass diese Gips-Orgie gerade hier | |
in Bremen steigen muss, lässt sich erklären. Die Ausstellung markiert | |
nämlich einen halb versöhnlichen, halb ironischen Endpunkt der | |
jahrzehntelangen Querelen um den Arp-Nachlass. Auf die hatte | |
Marcks-Haus-Direktor Arie Hartog durch erkenntnis- und friedensstiftende | |
Forschung eingewirkt. | |
## Der Zwist der Stiftungen | |
Um hier mal nur die Umrisse der Geschichte anzudeuten: Gipsfiguren sind ja | |
in den seltensten Fällen als autonomes Kunstwerk gedacht. Meist dienen sie | |
als Vorlage für den Guss. So auch im Fall Arp. | |
Sie nun einmal zu zeigen, ist Ausdruck der Entscheidung der [5][hier | |
zuständigen Stiftung] Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp e. V.in Berlin, | |
früher Rolandswerth – bitte nicht verwechseln mit der [6][Fondation Arp] in | |
Meudon bei Paris oder gar der Fondazione Arp in [7][Locarno]! –, die eigene | |
Gips-Sammlung aufzulösen und an die Museen zu verteilen, die wichtige | |
Arp-Arbeiten besitzen. | |
Und dann auch Schluss zu machen mit der Nachgusspraxis. Die hatte Arps | |
Bronzeplastiken zum Gegenstand einer erbitterten, seit spätestens 1976 | |
immer wieder auflodernden Auseinandersetzung gemacht. Zum Nachteil der | |
Rezeption. | |
Grob gesagt war es darum gegangen, dass sich die drei konkurrierenden, | |
chronisch klammen Stiftungen partiell durch den Verkauf von Neuauflagen der | |
Plastiken finanziert hatten. Das ist legitim und gar nicht so unüblich, bis | |
zu einem gewissen Maß. | |
Bloß war dieses gewisse Maß mit den posthumen Neuanfertigungen – Arp war | |
1966 gestorben – aus Sicht der Einen von den Anderen jedenfalls | |
überschritten worden. Die hingegen fühlten, ja wussten sich selbst im | |
Einklang mit dem Letzten Willen des Künstlers, hielten die Praxis der | |
anderen hingegen für … | |
Für Museen und Sammlungen ist so etwas eine Scheißsituation. Denn nicht | |
autorisierte Nachgüsse sind rechtlich eher so etwas wie eine Fälschung. | |
Will man das haben oder das dem Publikum zumuten? Von Arp-Ausstellungen | |
wurde weitgehend abgesehen. | |
Erst vor zehn Jahren konnte dank eines Katalogs des bildhauerischen Œuvres, | |
den Hartog erstellt hat, begonnen werden, diesen Krieg um den | |
Radikalpazifisten zu befrieden: Statt weniger als 400 plastische Arbeiten, | |
die in alten Werkverzeichnissen dokumentiert sind, haben Hartog und der | |
Kunsthistoriker Kai Fischer [8][in dem monumentalen Buch nachgewiesen], | |
dass 2011 Plastiken – gut fünfmal so viel – als echte Arps gelten dürfen. | |
Für einen Toten zeugt das von bemerkenswerter Produktivität. | |
Vor sieben Jahren gab’s dann in Berlin endlich mal wieder eine große | |
Retrospektive, [9][erstmals seit Jahren.] Aber die Präsenz, die Arp als | |
Jahrhundertkünstler gebühren würde, ist für immer perdu. Außer eben in | |
Bremen, wo die schiere Fülle die individuelle Figur als Bestandteil eines | |
in die Wirklichkeit drängenden, ganz eigenen Figuren-Kosmos wahrnehmen | |
lässt. | |
Es ist dessen furchtlose Unerschöpflichkeit, die hier zur realen Gegenwart | |
gerät und so das Publikum eintaucht in den künstlerischen Prozess. Das aber | |
ist eine sehr tiefe, sehr kostbare ästhetische Erfahrung. | |
13 Dec 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://marcks.de/de/die-firma-arp/ | |
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Henry_Moore | |
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Constantin_Br%C3%A2ncu%C8%99i | |
[4] http://eluardexplique.free.fr/capitale/capitale.html | |
[5] http://stiftungarp.de/ | |
[6] http://www.fondationarp.org/ | |
[7] https://www.fondazionearp.ch/de/ | |
[8] https://www.stiftungarp-shop.de/publikationen/hans-arp/hans-arp-skulpturen-… | |
[9] https://georg-kolbe-museum.de/programm/ausstellungen/hans-arp-der-nabel-der… | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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