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# taz.de -- Nachruf auf Chinas Ex-Präsident Jiang: Der unterschätzte Reformer
> Mit 96 Jahren ist Chinas ehemaliger Staatspräsident Jiang Zemin
> gestorben. Sein Tod kommt für die Parteiführung zum denkbar ungünstigsten
> Zeitpunkt.
Bild: Ob Cha-Cha-Cha beim Staatsbesuch oder mit Cowboy-Hut: Jiang Zemin in Kana…
Peking taz | Zu Lebzeiten wurde der kleingewachsene Mann mit der riesigen
Hornbrille und dem verschmitztem Lächeln oftmals belächelt. Doch posthum
wird er zweifelsohne als kluger Wirtschaftsreformer in die Geschichtsbücher
eingehen: [1][Jiang Zemin, Chinas Staatspräsident von 1993 bis 2003], ist
mit 96 Jahren in Shanghai am Mittwoch an den Folgen seiner
Leukämie-Erkrankung verstorben. Als „herausragender Führer des Sozialismus
chinesischer Prägung“ wird er in einem Nachruf der Nachrichtenagentur
Xinhua gepriesen.
Viele chinesische Zeitungen haben ihre Onlinepräsenz unlängst in trauerndes
Grau gehüllt, und das Volk hat millionenfach seine Beileidsbekundungen auf
den sozialen Medien geteilt. „Er repräsentierte für mich die sorgenfreie
Zeit meiner Kindheit“, schreibt eine Chinesin auf Wechat. Ein anderer User
kommentiert lakonisch: „Der Senior ist von uns gegangen. Wir werden ihn
vermissen“.
Doch die Trauer des Volkes dürfte innerhalb des chinesischen Staatsapparats
durchaus für Nervosität sorgen. Denn 1989 mündete die Trauer bei Pekinger
Studenten um den verstorbenen, liberalen Generalsekretär Hu Yaobang, [2][in
die Protestbewegung vom Tiananmen-Platz]. Nun, über drei Jahrzehnte später,
ist der amtierende Präsident Xi Jinping erneut mit historischen Protesten
konfrontiert, welche er mit Einschüchterungskampagnen und Polizeipräsenz
niederschlagen ließ. Gegen die Corona-Lockdowns und für mehr politische
Freiheiten hatten [3][seit dem Wochenende zahlreiche Menschen protestiert].
Könnte Jiangs Tod die Jugend nun wieder auf die Straße holen? „Es besteht
kein Zweifel, dass dies den Staat und die Partei sehr besorgt“, kommentiert
William Hurst, Professor in Cambridge, [4][auf seinem Twitter-Account].
Doch dass sich die Ereignisse von 1989 wiederholen würden, daran glaubt der
Akademiker nicht: „Viele junge Chinesen wissen teilweise nicht viel über
die eigene Geschichte“.
## Reformen, aber wenige Korruptionsbekämpfung
Nur vier Jahre nach der blutigen Niederschlagung der Tiananmen-Bewegung
wurde Jiang ins Präsidentenamt befördert. Damals wurde der aus einfachen
Verhältnissen stammende Parteikader, dem der Ruf eines Bürokraten
vorauseilte, vor allem als Kompromisslösung betrachtet.
Jiang Zemin hat während seiner zehnjährigen Amtszeit ein höchst
ambivalentes Erbe hinterlassen. So ließ er die Falun-Gong-Sekte mit
äußerster Brutalität niederschlagen. Auch gegen die grassierende Korruption
innerhalb der Parteiführung tat er wenig.
Gleichzeitig jedoch sorgte er mit seinen ökonomischen Reformen dafür, dass
China der Anschluss an die Weltwirtschaft gelang – und in dessen Folge
einen rasanten Wachstumskurs hinlegte. Grundlage dafür war, dass die
Volksrepublik der Welthandelsorganisation beitrat.
Für viele junge Chinesen wird der im ostchinesischen Jiangsu geborene Jiang
vor allem für eine legendäre Pressekonferenz in Erinnerung bleiben, die der
damalige Staatspräsident im Jahr 2000 in Hongkong gab. Als eine junge
Reporterin eine überaus kritische Frage stellte, sprang der 1,74 Meter
große Jiang erratisch aus seinem roten Sessel – und wechselte unverhofft in
sein brüchiges Englisch: „Ihr Medien müsst noch mehr lernen! Die Fragen,
die Sie stellen, sind zu einfach, manchmal naiv!“
## Er stellte sich offen journalistischen Fragen
Was damals als arrogante Belehrung eines chinesischen Parteivorsitzenden
mokiert wurde, sorgt zwei Jahrzehnte später innerhalb der
Millennial-Generation für große Bewunderung: Ein Präsident, der sich offen
den Fragen der Journalisten stellt, ungefiltert seine authentischen Gefühle
zeigt und sich nahbar wie fehlbar gibt: All das scheint angesichts von Xi
Jinping nicht nur undenkbar, sondern regelrecht wie von einem anderen
Planeten.
Und in der Tat hat sich Jiang nie gut mit dem derzeitigen Staatschef
verstanden. Zu unterschiedlich waren sie in ihren Persönlichkeiten: Jiang
tanzte schon mal Cha-Cha-Cha mit dem philippinischen Präsidenten, stimmte
vor Reportern Lieder von Elvis Presley an oder ließ sich vom legendären
US-Fernsehjournalisten Mike Wallace interviewen. In jener 60-minütigen
TV-Sendung zitierte Jiang Zemin voller Bewunderung die Gettysburgh-Rede von
Abraham Lincoln: „Alle Menschen sind gleich erschaffen.“ Auch das wäre
heutzutage nicht annähernd im Bereich des Vorstellbaren.
Wenn viele Chinesen nun also das Gefühl haben, dass eine Ära zu Ende geht,
erklärt dies die melancholische Nostalgie für einen ehemaligen Präsidenten,
der während seiner Amtszeit selbst nicht sonderlich beliebt war – im
Rückblick hingegen erscheint er als gar keine so schlechte Wahl.
Vor allem tat er, was [5][Xi Jinping in diesem Herbst] verweigert hat: Auf
dem Höhepunkt seiner Macht räumte Jiang Zemin nach zehn Jahren
Präsidentschaft seinen Sessel.
30 Nov 2022
## LINKS
[1] /Aus-Le-Monde-diplomatique/!5784575
[2] /Archiv-Suche/!1814627&s=Tiananmen&SuchRahmen=Print/
[3] /Proteste-in-China/!5899467
[4] https://twitter.com/wjhurst/status/1597883513730371584
[5] /Parteitag-der-KP-Chinas/!5886857
## AUTOREN
Fabian Kretschmer
## TAGS
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