# taz.de -- Zivilist*innen in der Ukraine: Erste Hilfe und Kalaschnikows | |
> In Luzk lernen Hunderte Menschen, wie sie Verletzte versorgen und wie man | |
> schießt. Viele von ihnen hatten bis dahin nie eine Waffe in der Hand. | |
Bild: Training in Luzk: Die meisten Kursteilnehmer sind Frauen, Studierende und… | |
Luzk taz | Wie zerlegt und reinigt man ein Sturmgewehr, wie schießt man aus | |
unterschiedlichen Positionen? Wie ist eine Blutung am besten zu stoppen und | |
eine Aderpresse anzulegen? Wo ist der sicherste Ort in der Wohnung im Falle | |
eines Angriffs? | |
Mit all diesen Fragen wenden sich täglich Tausende von Ukrainer*innen an | |
Spezialist*innen. Der Staat hat oft keine Ressourcen, um entsprechende | |
Kurse durchzuführen. Daher helfen Freiwillige, indem sie Veteranen und | |
Ärzt*innen mit Fronterfahrung für diese Aufgabe heranziehen. „Die | |
Menschen sehen, [1][wie Städte zerstört werden] und wie gefährlich ihr | |
eigenes Leben geworden ist. Deshalb wollen sie wissen, wie man sich im | |
Krieg verhält“, sagt Tatjana Repnitskaja, Leiterin eines der Kurse, die | |
seit März in Luzk stattfinden. | |
Die Stadt [2][Luzk liegt im Grenzgebiet] und ist seit dem ersten Kriegstag | |
von Belarus bedroht. Derzeit finden hier bis zu zehn Kurse für Erste Hilfe | |
und Kampftraining statt. „Solange es in Luzk relativ ruhig ist, muss man | |
lernen. Von den Tausenden Personen, die wir geschult haben, werden 300 bis | |
400 Personen definitiv jemandem helfen können“, sagt Viktor Korsak, der | |
Organisator eines Trainings. | |
Er ist Geschäftsmann mit einem abgeschlossenen Medizinstudium und hat | |
früher als Chirurg gearbeitet. Jede Woche melden sich 500 Personen für die | |
Kurse an, die im Kino eines Freizeitzentrums stattfinden, aber die | |
Teilnehmerzahl ist auf 200 beschränkt. Die Schulungseinheiten wenden sich | |
an Personen zwischen 15 und 70 Jahren. | |
## Massagen und künstliche Beatmung | |
Der Kurs dauert vier bis fünf Stunden. Viktor Korsak macht die | |
Teilnehmer*innen mit den theoretischen Grundlagen in Erster Hilfe | |
vertraut. Seinem Team gehören zwei praktizierende Ärzte und drei | |
Militärausbilder an, die 2014/15 im Donbass gekämpft haben. Es gehe darum, | |
kurz das Wissen über die Anatomie und Physiologie des menschlichen Körpers | |
aufzufrischen – vor allem über Organe, die häufig von Verletzungen während | |
kriegerischer Handlungen betroffen sind. | |
Außerdem erarbeiten sich die Teilnehmer*innen praktische Fähigkeiten | |
wie Massagen, Belüftung der Lungen, künstliche Beatmung, Herausziehen der | |
Zunge sowie das Anlegen von Bandagen und Aderpressen. | |
Und es gibt ein Schießtraining, wo alle lernen, eine Kalaschnikow zu | |
zerlegen und wieder zusammenzubauen. Das Freizeitzentrum hat einen eigenen | |
Schießstand. Die Menschen lernen, das Schießpulver zu riechen und keine | |
Angst vor dem Rückstoß zu haben, wenn sie mit einem Sturmgewehr schießen. | |
Bei den Übungen wird scharfe Munition verwendet. | |
„Unser Ansatz ist, das erlernte Wissen auch praktisch anzuwenden. Wenn dann | |
in unserer Region Kämpfe beginnen, werden wir Hunderte von Menschen retten | |
können.“ | |
## Mit Walkie-Talkies im Wald | |
Das Ausbildungszentrum Ternovoje Pole führt Fachkurse nach Nato-Standards | |
durch. 4.000 Sanitäter wurden hier bereits ausgebildet. Eine | |
Nichtregierungsorganisation aus Litauen hat beim Aufbau geholfen. | |
Trainer*innen in der Südukraine haben drei Bataillone der ukrainischen | |
Streitkräfte, die unter Beschuss geraten waren, ausgebildet. Das sind | |
anderthalbtausend Kämpfer*innen. | |
Derzeit führen die Trainer*innen Schulungen für Zivilist*innen | |
durch. Am Ende der Ausbildung findet hier eine Prüfung zum Einsatz von | |
Standardwaffen und zur Evakuierung Verwundeter statt. Die Menschen üben | |
auch den Kommunikationsaufbau mit Walkie-Talkies im Wald. | |
Die Kurse werden hauptsächlich von Frauen, Studierenden und Lehrer*innen | |
besucht, die den Umgang mit der Waffe lernen wollen – und die zumeist | |
[3][noch nie eine in der Hand gehalten haben]. „Wir haben keine Ahnung, was | |
die Russen vorhaben. Deshalb müssen wir für alles gewappnet sein“, sagt ein | |
Ausbilder des Zentrums Ternovoje Pole. | |
Ein anderer Ausbilder ist ein irischer Staatsbürger, der anonym bleiben | |
möchte und auf einem Trainingsgelände außerhalb von Luzk im Einsatz ist. | |
„Wir wollen keine zivilen Kommandotruppen bilden. Aber wir bemühen uns, | |
einiges von dem zu zeigen, was unsere Soldaten auf dem Schlachtfeld | |
erwartet. Heute werdet ihr am Ende des Tages müde und schmutzig sein“, sagt | |
der junge Mann zu Beginn des Trainings. Er verspricht nicht zu viel: Die | |
Teilnehmer*innen müssen viel laufen, kriechen und sich immer wieder mit | |
einem Sturmgewehr hinhocken. Es wird auch gelernt, abgeschossene Patronen | |
zu zählen. | |
## Etwas von Psychologie verstehen | |
Die Ausbilder denken sich auch Kampfsituationen aus und demonstrieren | |
praktisch Taktiken europäischer Armeen. Ein weiterer Punkt ist das Anlegen | |
von Aderpressen. Das darf maximal 15 Sekunden dauern. Dabei muss der | |
Verletzte auf der Seite liegen, anderenfalls besteht die Gefahr, am eigenen | |
Erbrochenen zu ersticken. Verletzte sollten sich nicht auf den Bauch | |
drehen. | |
Es sei auch wichtig, „etwas von Psychologie zu verstehen“, sagt der Trainer | |
zum Schluss. „Während eines Kampfes kann eine Person ohnmächtig werden. Man | |
muss in der Lage sein, sie mithilfe verschiedener Methoden wieder zu | |
Bewusstsein zu bringen.“ Nach und nach verlassen die Teilnehmer*innen | |
des Kurses das Gelände. Sie sind sichtlich erschöpft. | |
Aus dem Russischen: Barbara Oertel | |
15 Nov 2022 | |
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## AUTOREN | |
Juri Konkewitsch | |
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