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# taz.de -- Russen fliehen in die Türkei: Oh, wie schön ist Istanbul
> Seit Kriegsbeginn ist die Türkei Zentrum für Exilrussen. Auch die
> Einheimischen stört das nicht sonderlich – wenn sie genug Geld
> mitbringen.
Bild: Russischer Antikriegsdemonstrant in Istanbul vor dem russischen Konsulat
Istanbul taz | Die Türkei ist seit Jahrzehnten eines der beliebtesten
Reiseziele unter Russen. Ein Visum wird nicht benötigt, und in Städten an
der südlichen Mittelmeerküste wie Antalya, wo sich seit den 90ern etwa
20.000 Russ:innen niedergelassen haben, sprechen viele der Gastgeber
sogar schon ein paar Brocken Russisch. Allein 2022 kamen 3 Millionen
russische Tourist:innen in die Türkei. Sie sind hier gern gesehene
Gäste: Sie zahlen gut und machen keine Probleme – so die öffentliche
Meinung, die sich auch seit Beginn des russischen Angriffskrieges in der
Ukraine nicht geändert hat.
Noch immer gibt es Direktflüge von Russland in die Türkei, Russ:innen
können bis zu 3 Monate bleiben und sogar eine einjährige
Aufenthaltsgenehmigung beantragen, wenn sie entsprechende
Einkommensnachweise einreichen. Bei einem Einkommen unter 10.000 Dollar im
Monat fordert der türkische Staat keine Steuerabgaben ein.
Wer über 400.000 Dollar in Immobilien investiert, kann sogar im
Schnellverfahren die türkische Staatsbürgerschaft erhalten. Bis vor Kurzem
konnten Russ:innen auch immer noch problemlos mit ihrer russischen
Kreditkarte bezahlen, da die Türkei eine neutrale Position im Krieg
bewahren will und sich nicht an den Wirtschaftssanktionen gegen Russland
beteiligt hatte. Seit das amerikanische Finanzministerium der Türkei
deshalb Strafen androhte, setzten jedoch auch türkische Banken die Nutzung
vom russischen Zahlungssystem MIR aus. Gerade sucht die türkische Regierung
nach einer anderen Lösung.
Die Türkei hat sich deshalb seit Kriegsbeginn zu einem der Zentren des
russischen Exils entwickelt, allen voran Istanbul. Mehrere zehntausend
russische Staatsbürger:innen sollen sich hier seit Beginn der
russischen Invasion niedergelassen haben, darunter oppositionelle
Journalist:innen, Angehörige der russischen Intelligenzija oder jene, die
vor den wirtschaftlichen Sanktionen davonlaufen. Zudem sollen über 50.000
Ukrainer:innen in die Türkei geflüchtet sein.
Seit dem 21. September kamen etliche weitere junge Russen dazu, die aus
Angst vor der Mobilisierung fliehen. An nahezu jeder Straßenecke hört man
junge Paare, Familien mit Kindern oder die ein oder andere Männergruppe
Russisch sprechen, vor allem in den zentralen und hippen Stadtteilen wie
Kadıköy und Beyoğlu. Einige Lokale wie die NOH Radio Bar haben sich bereits
als Treffpunkte junger Russ:innen etabliert.
Dmitry, ein 26-jähriger Programmierer, Fotograf und Filmemacher, ging
bereits Anfang März 2022 über Jerewan nach Istanbul ins Exil. Er hatte
Russland unter anderem auch wegen seiner politischen Aktivität verlassen:
Weil er an den Nawalny-Protesten im Winter 2021 teilgenommen hatte, war er
bereits für einige Tage in Haft, was ihn jedoch nicht davon abhielt, bei
Beginn des Krieges erneut mehrfach auf die Straße zu gehen und zu
demonstrieren.
Da die Repressionsgefahr sich jedoch enorm erhöht hat, die Proteste kaum
Schlagkraft und keine politische Leitfigur hatten, beschloss er, zu gehen.
„Ich habe es nicht mehr ertragen, mich in diesem Land aufzuhalten, den
Menschen dabei zuzusehen, wie sie seelenruhig ihren Kaffee schlürfen,
während ihr Land Krieg gegen die Ukraine führt. Ich sehe mich auch nicht
dorthin zurückkehren, solange das Putinsche Regime besteht.“
## Organisation über Telegram
Seit März arbeitet er aus dem Homeoffice in Istanbul und lernt emsig
Türkisch, was ihm durch seine Kenntnis des Tschuwaschischen ein wenig
leichter fällt: „Ich will mich maximal integrieren. Ich habe außerdem keine
Lust, nur mit Russen rumzuhängen, mein Freundeskreis hier ist
international, besteht jedoch zu einem großen Teil aus Türk:innen, die ich
über Bumble kennengelernt habe.“
Es gibt zahlreiche Telegramgruppen, in denen sich Russ:innen vernetzen
und organisieren oder sogar juristische Hilfe für Aufenthalts- oder
Steuerfragen erhalten können. Ihre Teilnehmerzahl soll sich seit der
Mobilisierung vervielfacht haben. Über so eine Gruppe hat Dmitry auch seine
neue Wohnung gefunden, in die er bald umziehen will. Für diejenigen
Geflüchteten, die finanziell nicht so gut aufgestellt sind, [1][gibt es das
von Michail Chodorkowski] und dem russischen Antikriegskomitee gesponsorte
Projekt „Kovcheg – Die Arche“.
Die Arche ist eine Unterstützungsgruppe für russische Flüchtlinge, die
aufgrund ihrer Antikriegsposition aus Russland geflohen sind. Viele von
ihnen befinden sich in Schwierigkeiten: Bankkarten sind gesperrt, es gibt
keine Ersparnisse. Eine Wohnung zu mieten, ist wegen des großen Andrangs
fast unmöglich. Deshalb stellt die Arche gemeinschaftliche Unterkünfte in
Istanbul bereit, bietet kostenlose Beratung an und sucht nach
psychologischer Betreuung für diejenigen, die diese brauchen.
Seit Beginn des Krieges hat es in Istanbul mehrere Demonstrationen von
Ukrainer:innen und oppositionellen Russ:innen gegeben, die weitgehend
friedlich verliefen – die letzte fand am 24. September, 7 Monate nach
Kriegsbeginn, statt. Der bekannte oppositionelle Rapper Oxxxymiron gab im
Frühling ein Konzert in Istanbul, zu dem viele Russ:innen gekommen waren.
Am Tag der ukrainischen Unabhängigkeit haben jedoch vorbeilaufende
Russ:innen demonstrierenden Ukrainer:innen, die Bilder von Opfern des
russischen Angriffskrieges hochhielten, den Mittelfinger gezeigt.
## Die Lage an der Grenze
Bei Türk:innen scheint der Krieg währenddessen keine große Rolle zu
spielen, sowohl Russland- als auch Ukraineflaggen sind verboten, außer wenn
sie neben einer Türkeiflagge aufgehängt werden, man will sich den Krieg
nicht ins eigene Land holen: „Die Türkei verbleibt in einer neutralen
Position, aber wir sorgen uns natürlich um die wegen der Flüchtlinge
steigenden Mietpreise und wollen nicht, dass irgendwo Krieg stattfindet,
weil er nicht nur der Ukraine und Russland, das sich mit dieser
Entscheidung vollends blamiert hat, sondern auch uns und der gesamten
Weltwirtschaft schadet“, sagt der 31-jährige Elektroingenieur Deniz aus
Kadıköy.
Vor zwei Wochen hat sich Dmitrys Wohnung um vier Bewohner vergrößert, denn
seine Freunde aus Moskau, die als IT-Spezialisten arbeiten, sahen nach der
Verkündung der Mobilisierung keinen anderen Weg als zu flüchten: „Ich habe
eine grundlegende militärische Ausbildung absolviert, falle aber eigentlich
nicht unter die Kriterien für die Teilmobilisierung. Jedoch haben mich die
unklare Informationslage und die Geschichten über die vielen Einberufungen
natürlich schon beunruhigt, weshalb ich mich entschieden habe, Russland
vorerst zu verlassen“, erzählt der 27-jährige Anatolij, der sich seit zwei
Wochen bei Dmitry einquartiert hat.
Er hatte Glück, noch einen Flug ergattert und nur das Doppelte dafür
bezahlt zu haben – wenige Tage nach der Mobilisierung waren bereits alle
Flüge ausgebucht oder nur noch für mehrere Tausend Dollar erwerbbar. In der
Maschine, mit der Anatolij nach Istanbul flog, bemerkte er einen leicht
erhöhten Anteil junger Männer. Während er relativ stressfrei die Grenze
passieren konnte, mussten sich viele andere Männer am Flughafen Befragungen
unterziehen, einigen wurde nicht gestattet, Russland zu verlassen. Vitalij
hat vor, vorerst bis Dezember in Istanbul zu bleiben, dann wird er
weitersehen und eventuell nach Russland zurückkehren, sobald sich eine
gewisse Klarheit abzeichnet.
27 Oct 2022
## LINKS
[1] /Russland-fahndet-nach-Kremlkritiker/!5263931
## AUTOREN
Anastasia Tikhomirova
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