# taz.de -- Flüchtlinge aus der Ostukraine: Wie in einem Gefängniskonvoi | |
> Ein neuer Bericht von Amnesty International bestätigt systematische | |
> Zwangsdeportationen in der Ukraine. Diese sind Teil der russischen | |
> Kriegsführung. | |
Bild: Vor dem Filtrationslager: Geflüchtete aus der Ukraine warten in der soge… | |
BERLIN taz | Die Bilder gingen um die Welt: Ausgemergelte Gestalten, | |
darunter auch viele Alte und Kinder, die nach einem wochenlangen Martyrium | |
in Luftschutzbunkern der ukrainischen Hafenstadt Mariupol von russischen | |
Soldaten in Busse verfrachtet und abtransportiert werden. Ein Ziel der | |
Reise: die sogenannte Volksrepublik Donezk (DNR), die prorussische | |
Separatisten und russische Truppen besetzt halten, aber auch nach über acht | |
Monaten Krieg noch nicht vollständig unter ihre Kontrolle gebracht haben. | |
[1][Dass diese Zwangsdeportationen System haben und Teil der russischen | |
Kriegsführung in der Ukraine sind], geht auch aus dem jüngsten Bericht der | |
[2][Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI]) „Wie in einem | |
Gefängniskonvoi“ – Russlands rechtswidrige Transfers und Misshandlungen | |
ukrainischer Zivilist*innen im Zuge von Filtration“ hervor, der an | |
diesem Donnerstag veröffentlicht wird. Die systematische Art und Weise | |
einiger Deportationen oder erzwungener Transfers ließen den Schluss zu, | |
dass es sich bei den vorliegenden Fällen um Verbrechen gegen die | |
Menschlichkeit handeln könne, heißt es in dem ersten Kapitel des Berichts. | |
Grundlage der Dokumentation sind 88 Interviews vor allem mit Betroffenen | |
beziehungsweise deren Angehörigen. Die meisten wurden zwischen April und | |
August 2022 geführt. Alle Befragten lebten in ukrainisch kontrollierten | |
Gebieten oder im Ausland. Lediglich ein Mann befand sich zu diesem | |
Zeitpunkt noch in dem von Russland besetzten Teil des Donezker Gebietes. | |
## Ein Filtrationsprozess nach jedem Grenzübertritt | |
Die Zwangsdeportationen verliefen, laut des AI-Berichtes, immer nach | |
demselben Muster: Die Betroffenen wurden, vielfach gegen ihren Willen und | |
unter massivem Druck, aus den von russischen Truppen besetzten Gebieten | |
zunächst in die DNR und von dort aus größtenteils in die Russische | |
Föderation verbracht. Die, die sich um eine Evakuierung in Regionen unter | |
der Kontrolle Kyjiws bemühten, wurden aktiv daran gehindert. | |
So zitiert der Bericht eine 33-jährige Frau namens Milena, die mit ihrem | |
Mann und zwei Kindern vor den Bombenangriffen Schutz in einer Fabrik | |
gesucht hatte. Nach der Einnahme Mariupols durch die Russen hatte die | |
Familie versucht, in von der Ukraine kontrolliertes Gebiet zu fliehen – | |
vergeblich. „Wir fragten nach Möglichkeiten der Evakuierung und wohin wir | |
gehen könnten. Ein russischer Soldat sagte: „Wenn ihr nicht in die DNR oder | |
die Russische Föderation geht, werdet ihr für immer hier bleiben.“ | |
Bei jedem Grenzübertritt (in die DNR, die Russische Föderation oder in ein | |
Drittland [3][wie Estland]) wurden die Betroffenen einem sogenannten | |
Filtrationsprozess unterzogen. Die sogenannten Filtrationslager erinnern an | |
düsterste Zeiten von Russlands Kriegen gegen die Nordkaukasusrepublik | |
Tschetschenien (1994–1996 und 1999–2009). Tausende wurden dort | |
festgehalten, gefoltert, getötet oder blieben spurlos verschwunden. | |
Diese Vorgehensweise, zu der lange Verhöre, die Abnahme von | |
Fingerabdrücken, Leibesvisitationen sowie willkürliche Haft gehören, | |
wiederholt sich auch jetzt wieder. Das zeigt das Beispiel des 28-jährigen | |
„Maksym“, eines ehemaligen ukrainischen Polizisten. In einem Polizeirevier | |
wurden ihm nach wiederholten Misshandlungen schließlich ein Sack über den | |
Kopf gezogen und die Luftzufuhr abgeschnitten. „Lasst uns ihn auf ein Feld | |
bringen und dann töten“, lautete ein Kommentar. | |
## Zwangsdeportationen und vulnerable Gruppen | |
Besonderes Augenmerk legt der AI-Bericht auf vulnerable Gruppen. Sie sind | |
ihren Peinigern gänzlich schutzlos ausgeliefert. Als Beispiel wird die | |
Einrichtung Nr. 2 in Mariupol für Alte und Menschen mit Beeinträchtigen | |
genannt. Die 92 Bewohner*innen waren zunächst in ein Jugendlager im Dorf | |
Jurivka gebracht worden, von wo aus sie in die von der Ukraine | |
kontrollierte Stadt Saporischschja hätten evakuiert werden sollen. Nach | |
Einzug der Pässe führte der Weg per Bus jedoch geradewegs nach Donezk. | |
Auch vor Zwangsdeportationen Minderjähriger, die von ihren Eltern getrennt | |
wurden, machten die russischen Truppen nicht halt – wie im Fall eines | |
Elfjährigen, der während des „Filtrationsprozesses“ von seiner Mutter | |
getrennt und in das Donezker Gebiet gebracht wurde – ein eklatanter Verstoß | |
gegen humanitäres Völkerrecht, wie es im [4][AI-Bericht] heißt. | |
Dass vor allem Kinder auch künftig Opfer schwerer Verbrechen werden, steht | |
leider zu befürchten. Am 22. Oktober 2022 verkündete Russland die illegale | |
Annexion der DNR, der LNR sowie von Teilen der Gebiete Saporischschja und | |
Cherzon. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass die Praxis nicht auch | |
dort fortgesetzt wird. Entsprechende gesetzliche Grundlagen, um Waisen zu | |
adoptieren, hat Russland bereits geschaffen. | |
10 Nov 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Fluechtlinge-aus-der-Ostukraine/!5890340 | |
[2] /Nach-Vorwuerfen-gegen-ukrainische-Armee/!5872749 | |
[3] /Fluechtlinge-aus-der-Ostukraine/!5890340 | |
[4] https://www.amnesty.de/ | |
## AUTOREN | |
Barbara Oertel | |
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