# taz.de -- Gerichtsurteile zu Klima-Sitzblockaden: Zu wenig oder zu viel Symbo… | |
> Die SitzblockierInnen der „Letzten Generation“ fordern Freisprüche. Aber | |
> Gerichte sehen keinen Notstand, der die Aktionen rechtfertigen könnte. | |
Bild: Sitzblockade von Aktivisten von „Letzte Generation“ in Berlin im Okto… | |
FREIBURG taz | Sie warnen mit drastischen Worten vor dem Klimakollaps: | |
„Katastrophen, Hunger und Elend werden die Welt heimsuchen.“ Deshalb machen | |
sich die Aktivist:innen der „Letzten Generation“ (LG) wegen Nötigung | |
von Autofahrenden strafbar. Die erhofften Freisprüche blieben ihnen bisher | |
verwehrt. | |
„Es gab bislang über 200 Blockaden, an denen sich meist sieben bis zwölf | |
Personen beteiligen“, sagte LG-Sprecherin Carla Hinrichs vorige Woche im | |
taz-Interview. Inzwischen hat die Strafverfolgung begonnen, vor allem am | |
Amtsgericht Berlin-Tiergarten. Aktivist:innen erhalten zunächst | |
Strafbefehle wegen (versuchter) Nötigung. Wenn sie Einspruch einlegen, | |
kommt es zur mündlichen Verhandlung. | |
Die ersten Urteile waren mild. Der 20-jährige Nils R. muss [1][60 Stunden | |
Freizeitarbeit] leisten. Der 22-jährige Henning Jeschke hat 200 Euro | |
Geldstrafe (20 Tagessätze à 10 Euro) zu zahlen. Drei Studierende in München | |
kamen sogar mit einer Verwarnung davon. Bei jungen Erwachsenen bis 21 | |
Jahren wird oft noch Jugendstrafrecht angewandt. | |
Doch die Aktivist:innen sind unzufrieden. Sie hatten in der Regel | |
Freisprüche gefordert. Die Blockaden seien nicht verwerflich und damit | |
nicht strafbar. Vor allem aber liege ein „rechtfertigender Notstand“ vor. | |
## Bestätigung, dass Drängen berechtigt ist | |
Die Forderung nach Freisprüchen ist nicht selbstverständlich. Schließlich | |
geht es um „zivilen Ungehorsam“, also die bewusste Übertretung von | |
Gesetzen. Die Bereitschaft, Strafen auf sich zu nehmen, soll die | |
Verantwortlichen zur Umkehr bringen, so etwa das Konzept von Mahatma | |
Ghandi, der Gesetze der britischen Kolonialmacht verletzte. | |
Rechtsphilosoph:innen diskutieren darüber, wann ziviler Ungehorsam in | |
der Demokratie legitim ist, aber nicht, dass er legal und damit straflos | |
sein soll. Ziviler Ungehorsam ist qua Definition illegal. | |
Es geht den Aktivist:innen aber wohl weniger um das Vermeiden von | |
Strafen, sondern eher um die Bestätigung, dass ihr verzweifeltes Drängen | |
berechtigt ist. LG-Sprecherin Hinrichs verlangte, die Gerichte sollten | |
anerkennen, „dass ziviler Widerstand gegen einen Regierungskurs, der immer | |
tiefer in die Klimakrise führt, moralisch und juristisch gerechtfertigt | |
ist“. Jeschke argumentierte, eine „mutige Entscheidung“ könne eine Debat… | |
auslösen, die Welt zu ändern. Bei einer Verurteilung mache sich die | |
Richterin zur Komplizin der Vernichtung. | |
Vermutlich überschätzen die Aktivist:innen jedoch die gesellschaftliche | |
Wirkung eines Freispruchs durch ein:e Einzelrichter:in des Amtsgerichts | |
Berlin-Tiergarten. Auch juristisch können ihre Argumentationen nicht | |
überzeugen. | |
## Verwerflich oder nicht? | |
Die Nötigung ist als Delikt in Paragraf 240 des Strafgesetzbuchs geregelt. | |
Um die Strafbarkeit einzugrenzen, heißt es in Absatz 2: „Rechtswidrig ist | |
die Tat, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem | |
angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist.“ Hier geht es vor allem | |
um die Frage, ob das Mittel zum angestrebten Zweck als „verwerflich“ gilt. | |
Schon seit den Sitzblockaden der Friedensbewegung in den 1980er Jahren | |
differenzieren die Gerichte zwischen Fernzielen und Nahzielen. Dabei werden | |
Fernziele (damals die Verhinderung von Atomkriegen, heute die Verhinderung | |
der Klimakatastrophe) nicht in die Verwerflichkeitsprüfung einbezogen. Als | |
Ziel von symbolischen Sitzblockaden wird nur die öffentliche Aufmerksamkeit | |
gewertet. | |
Dabei müssen die Gerichte das jeweilige Anliegen der Protestierenden sogar | |
ignorieren, wie das Bundesverfassungsgericht 2011 anmahnte. Die Gerichte | |
sollten nicht danach urteilen, ob sie das Anliegen als nützlich einschätzen | |
oder es missbilligen. Das ist konsequent, schließlich ist das | |
Versammlungsrecht gerade auch ein Recht ausgegrenzter Minderheiten. | |
Laut Verfassungsgericht kommt es für die Strafbarkeit eher darauf an, ob es | |
einen Bezug der blockierten Personen zum kommunikativen Anliegen der | |
Blockade gibt, ob diese angekündigt wurde und ob für die | |
Autofahrer:innen Ausweichmöglichkeiten bestehen. Faustformel: Je | |
symbolischer die Blockade ist, desto eher kann sie als straflos eingestuft | |
werden. Das passt aber wenig zu der von der Letzten Generation | |
angekündigten „maximalen Störung der öffentlichen Ordnung“. | |
## Rechtfertigender Notstand? | |
Eher zur Dramaturgie der Gruppe passt daher die Argumentation, dass ein | |
„rechtfertigender Notstand“ vorliege, wie er in Paragraf 34 des | |
Strafgesetzbuchs geregelt ist. Eine eigentlich strafbare Handlung ist dann | |
rechtmäßig, wenn sie der Abwehr einer „nicht anders abzuwendenden“ Gefahr | |
dient und das geschützte Rechtsgut wesentlich höher wiegt als das | |
angegriffene Rechtsgut. Hier kann durchaus argumentiert werden, der Schutz | |
des Klimas und unserer Lebensgrundlagen wiege höher als die | |
Bewegungsfreiheit von Autofahrer:innen. | |
Doch ist die Gefahr wirklich „nicht anders abwendbar“ als durch | |
Straßenblockaden? Einerseits verweisen Gerichte hier auf den politischen | |
Prozess, der in der Demokratie jedem offenstehe. Entscheidend ist aber, | |
dass die Blockaden an sich in keiner Weise geeignet sind, die Erderwärmung | |
aufzuhalten. Selbst wenn man ihre kommunikative Wirkung in Rechnung stellt, | |
so ist bisher offen, ob sie die Akzeptanz von Klimaschutzmaßnahmen erhöhen | |
oder eher mindern. Auch die geforderten Maßnahmen – vom Gesetz gegen | |
Lebensmittelverschwendung bis zum 9-Euro-Ticket – sind weit davon entfernt, | |
einen nennenswerten Beitrag zur Klimastabilität zu leisten. | |
Der rechtfertigende Notstand ist eben kein Label, das die Justiz vergibt, | |
um die Dringlichkeit von politischen Handlungen zu unterstreichen. Hier | |
geht es darum, ob ein eigentlich illegales Verhalten ausnahmsweise | |
rechtmäßig ist, weil man genau damit einigermaßen wahrscheinlich einen | |
Schaden verhindern kann. | |
## Milde Urteile | |
Die Aktivist:innen der Letzten Generation sitzen strafrechtlich also | |
zwischen den Stühlen. Für einen rechtfertigenden Notstand ist ihr Handeln | |
zu symbolisch. Bei der Verwerflichkeitsprüfung sind ihre Absichten nicht | |
symbolisch genug. Deshalb wurden sie bisher stets verurteilt. | |
Doch natürlich spielen die guten Absichten der Aktivist:innen vor | |
Gericht eine große Rolle – allerdings erst bei der Strafzumessung. Die | |
Strafen liegen bisher stets am unteren Rand dessen, was bei einer | |
Verurteilung möglich ist. Die Bild-Zeitung, die sich als Stimme der | |
blockierten Autofahrer:innen versteht, ist schon ganz empört: „Es | |
breitet sich das Gefühl aus, als würden die Klimakleber mit Samthandschuhen | |
angefasst.“ | |
17 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Christian Rath | |
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