# taz.de -- Trauerfeier für Christian Ströbele: „Meine Rede ist eine Totenk… | |
> Mit einer Trauerfeier erinnern taz und Grüne an Christian Ströbele – hier | |
> im Videostream. Die taz dokumentiert die Rede, die Ulrich Preuß hielt. | |
Bild: Abschied von Christian Ströbele | |
Am Dienstagabend erinnern die taz und die Grünen in einer gemeinsam und | |
[1][öffentlichen Trauerfeier] an Christian Ströbele. Der Anwalt, Politiker | |
und taz-Mitgründer war am 29. August im Alter von 83 Jahren gestorben. | |
[2][Bei der Beerdigung Ströbeles in Berlin-Kreuzberg] hatte der Rechts- und | |
Politikwissenschaftler Ulrich K. Preuß an seinen Weggefährten erinnert, mit | |
dem er einst das sozialistische Anwaltkollektiv gegründet hatte. Die taz | |
dokumentiert hier seine Trauerrede. | |
Liebe Juliana, liebe Familie Ströbele, liebe Freundinnen und Freunde von | |
Christian, | |
dies ist ein sehr trauriger und schwerer Tag für uns alle. | |
Der traurigste Freundschaftsdienst ist die Rede auf den Tod des Freundes. | |
Und zugleich der schwerste, denn bei all den vielen, sich über mehr als | |
fünf Jahrzehnte hinziehenden Gesprächen, Diskussionen, gemeinsamen | |
Erlebnissen, bei denen doch so viel geredet und ausgetauscht wurde, | |
versagen im Angesicht der Endgültigkeit des Todes die Worte. | |
Uns allen hier Versammelten Christian noch einmal in seiner Lebendigkeit | |
gegenwärtig zu machen – das könnte bei diesem ereignisreichen Leben und | |
dieser Person eigentlich nur ein Dichter. Ich will zu den hier versammelten | |
Trauernden sprechen, aber vor allem will ich auch zu ihm sprechen, ihn | |
erwecken, vom Tode erlösen, obwohl ich doch weiß, dass der Tod ihn von dem | |
unerträglichen Leid am Ende seines Lebens erlöst hat. | |
Wie kann ich, wir können denn wir hier beides wollen – Erweckung aus dem | |
Tod und Erlösung aus den Leiden des Lebens? Wider alle Vernunft wollen wir | |
das – weil Du fehlst, weil wir Dich schon heute vermissen, weil wir | |
weiterleben, einstweilen, aber spüren, dass schon jetzt mit Dir ein Stück | |
unseres eigenen Lebens verloren gegangen ist. | |
Ich kann keine Trauerrede für ihn halten, ich kann nur klagen, meine Rede | |
ist eine Totenklage. Ich könnte weinen, ich weine – ich sehe Christian vor | |
mir, wir sind in lebhafter kleiner Gesellschaft, alle reden durcheinander, | |
und da sitzt Christian, still, lächelnd, zuhörend, ab und zu mit seiner | |
eher weichen, fast heiseren Stimme eine Bemerkung einwerfend, bescheiden, | |
nicht drängelnd, lächelnd, ja, immer noch lächelnd, geduldig zuhörend und | |
im Genuss der Anwesenheit der heftig und lärmend argumentierenden Freunde. | |
So höre doch auch zu, wie wir heute mit Dir, über Dich reden – klagen, uns | |
unserer Tränen nicht schämend. | |
In angloamerikanischer Sprechweise sagt man: „He is a character“ – und man | |
denkt, das sagt eigentlich alles, mehr kann man und mehr muss man nicht | |
sagen, wenn man kein Dichter ist. Der Spruch trifft zwar unzweifelhaft auf | |
Christian zu, aber er sagt nicht annähernd genug über ihn. | |
## Boubou, der gutmütige Begleiter | |
Man muss erzählen, über die kleinen und die großen Ereignisse seines | |
Lebens, so zum Beispiel über die gemeinsamen Spaziergänge mit Juliana und | |
Boubou im Grunewald – Ihr wisst nicht, wer Boubou war? Er war ein | |
schwarzer, ein wenig struppiger und äußerst lebendig-ungeduldiger, aber | |
gutmütiger Hund, jahrelanger Begleiter von Juliana und Christian –, oder | |
die gemeinsamen Fahrten von der Meierottosraße, dem Ort der Anwaltspraxis, | |
zum Kriminalgericht Moabit, die jedes Mal seinen Ehrgeiz anfachten, so nahe | |
wie möglich am Gerichtsgebäude einen Parkplatz zu finden – und, ich konnte | |
es niemals glauben, tatsächlich einen fand, wie grenzwertig diese | |
Trouvaille unter stadtökologischen ebenso wie juristischen Gesichtspunkten | |
auch gewesen sein mag. | |
Unter der gewiss nicht geringen Menge an polizeilichen, staatsanwaltlichen | |
oder gerichtlichen Postzustellungen waren solche prekären Parkereignisse | |
natürlich Lappalien, deren Erledigung man den Referendaren im | |
Anfangsstadium ihrer Stage überlassen konnte. Am Ende ihrer Ausbildung | |
allerdings hatten sie begriffen, dass sich die Kreativität ihres Ausbilders | |
keineswegs auf das Aufspüren eines versteckten Parkplatzes beschränkte. | |
Viele von ihnen spürten, dass hier jemand einen Beruf ausübte, den sie aus | |
ihrer bisherigen juristischen Ausbildung noch gar nicht kannten – den des | |
Rechtsanwaltes, der sich nicht als Organ der staatlichen Rechtspflege | |
verstand, sondern als Kämpfer für das Recht seiner Mandanten. | |
Ja, muss man denn in einem verfassungsrechtlich konstituierten, etablierten | |
und garantierten Rechtsstaat für das Recht kämpfen? Sorgt denn nicht der | |
Staat für das Recht? | |
Doch so einfach ist es nicht. In demokratischen Gesellschaften wie der | |
unsrigen ist das Recht eine fragile gesellschaftliche Einrichtung; es wird | |
zwar fast ausschließlich von staatlichen Organen erzeugt, aber es soll den | |
Geist der Gesellschaft atmen, in deren Namen der Staat handelt. Wieso aber | |
„fragil“, wie ich sagte? Nun, weil das Recht in einer lebendigen | |
Gesellschaft umkämpft ist. Recht ist nicht nur Ordnung, etwas Gegebenes, | |
sondern es verkörpert auch ein Versprechen, etwas noch nicht Eingelöstes: | |
das Versprechen der Gerechtigkeit. Wir sind nicht im Himmel, sondern auf | |
Erden, und hier ist dieses Versprechen des Uneingelösten seinem Wesen nach | |
umkämpft. | |
## Der Angeklagte als Subjekt des Verfahrens | |
Dies vorausgeschickt, um auf den Kämpfer für das Recht Christian Ströbele | |
zurückzukommen. Jahre nach der Phase der RAF-Prozesse wurde er in einem | |
Interview gebeten, den auch gerade von ihm verkörperten „neuen Typus“ des | |
Anwalts, insbesondere des Strafverteidigers vor Gericht zu | |
charakterisieren. Die Frage kam von einer Sozialwissenschaftlerin, die ein | |
Buch über die Wirkungen der 68er Bewegung auf die Rechtskultur und den | |
Gerichtssaal herausgeben wollte (das dann auch, unter anderem mit dem | |
Interview von Christian, einige Zeit später erschien). | |
Christian hat sich zeitlebens wenig bis gar nicht für theoretische Fragen | |
und Konstruktionen interessiert. Um so bemerkenswerter ist seine damalige | |
Antwort: „Uns ging es nicht um mildere Strafen oder Freisprüche, sondern | |
darum, den Angeklagten zum Subjekt des Verfahrens zu machen“ – wenn das | |
nicht ein Satz ist, der in jedes Lehrbuch der Rechtsphilosophie passen | |
würde! | |
So war Christian: Die kompliziertesten Dinge wurden bei ihm einfach, | |
selbst-verständlich – nicht simpel! | |
Die Angeklagten sollten die Hauptrolle im Strafprozess spielen können. Das | |
hört sich trivial an, war es aber keineswegs. Denn zwar gab es und gibt es | |
in unserem Lande die Garantien einer unabhängigen und unparteiischen | |
Strafjustiz und einer auf der Unschuldsvermutung der Angeklagten beruhenden | |
Strafverteidigung; aber es gab auch Richter, und es gab auch | |
Strafverteidiger. | |
Über die Richter schweige ich, über die Verteidiger ebenfalls, bis auf eine | |
kleine Seitenbemerkung: Nicht alle von ihnen waren fähig oder willens, den | |
Angeklagten die Hauptrolle zu überlassen – nicht so Christian. Selten, wenn | |
überhaupt je habe ich einen Strafverteidiger vor Gericht gesehen, der | |
einerseits so bescheiden und zugleich so gut vorbereitet in die Verhandlung | |
kam und so effektiv verteidigte wie Christian. Bescheiden heißt nicht | |
unterwürfig, gefügig, nachgiebig, kompromissbereit oder sonst wie | |
kämpferische Qualitäten vermissen lassend – es bedeutet Anstand und zivile | |
Umgangsformen, im Strafprozess aber vor allem: stets den Angeklagten als | |
Hauptperson betrachten und behandeln, ihm beziehungsweise ihr eine Stimme | |
geben, dabei als Verteidiger keiner konfrontativen Auseinandersetzung aus | |
dem Wege gehend, um dieses Recht der Angeklagten durchzusetzen. Denn das | |
Recht, ich sagte es, will und muss erkämpft werden – und das Vorbild eines | |
solchen Kämpfers war Christian. | |
## Ein sanfter Mensch | |
Als ein „sanfter Wüterich“ wurde Christian in einem Nachruf bezeichnet – | |
das war sicherlich nicht böse oder hämisch, vielleicht sogar anerkennend | |
gemeint. An dieser Benennung ist jedoch nur das Adjektiv zutreffend: | |
Christian war tatsächlich ein sanfter Mensch. Sanft, heiter, gelassen, | |
freundlich, unprätentiös. | |
Es gibt viele Menschen, die einige oder gar alle diese Eigenschaften | |
besitzen – kann ein solcher Mensch aber zugleich ein Wüterich sein? Unter | |
„Wüterich“ findet man in den Lexika Synonyme wie Berserker, Jähzorniger, | |
Rasender und Schlimmeres – so weit ab von Christian, dass weitere | |
Erläuterungen sich erübrigen. Ich spreche hier nur darüber, weil der | |
Erfinder des „sanften Wüterichs“ offenbar ein Paradox benennen wollte und | |
mit dieser missglückten Charakterisierung von Christian tatsächlich ein | |
Körnchen Wahrheit freilegte: die Verbindung widersprüchlicher, ja | |
gegensätzlicher Eigenschaften in einer Person. | |
Wie soll man sich denn wohl einen Wüterich vorstellen, der sanftmütig ist? | |
Das wäre so etwas wie ein schwarzer Schimmel. Christian war durchaus kein | |
schwarzer Schimmel – aber vielleicht war er doch ein grauer Schimmel – ein | |
sanfter Radikaler. Was meint das? | |
Es gibt Ideen, denen zufolge die Welt durch Sanftmut verbessert werden | |
kann. Christian hing keiner solchen Idee an. Er war ein Mann der Praxis – | |
Praxis verstanden als eine Haltung, die den Sinn menschlicher Tätigkeit | |
nicht in endlosem Reflektieren, Debattieren, Formulieren von Gedanken | |
sieht, sondern in der Umgestaltung der gesellschaftlichen Wirklichkeit für | |
und durch den Menschen – Christian war mit dieser Haltung stets näher bei | |
den Menschen (und vielleicht ja sogar auch bei Marx) als all die vielen | |
eifrigen Theoretiker, die mit ihren haarspalterischen Ableitungen des | |
„richtigen“ revolutionären Subjekts der Gesellschaft eher ein gutes | |
Beispiel für den Marx’schen Begriff der „unproduktiven Arbeit“ boten. | |
## Ein wahrer Sozialarbeiter | |
Christian war ein wahrer Sozialarbeiter – wenn dieser Begriff nicht bereits | |
für eine spezielle Berufstätigkeit im Sektor der gesellschaftlich eher | |
randständigen Bevölkerung vergeben wäre, dann würde Christian Ströbele als | |
hervorstechendes Beispiel für Sozialarbeit gelten, einer Sozialarbeit | |
eigener, eigensinniger Art – als die Tätigkeit der fantasievollen, | |
erfindungsreichen und damit auch experimentellen Gestaltung und | |
Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen auch in einer | |
etablierten demokratischen Ordnung die Selbstbestimmung und Würde jedes | |
Menschen täglich neu erkämpft werden muss. | |
Es geht hier nicht um Klassenkampf, um den Kampf einer Klasse gegen die | |
andere – aber es geht schon um Kampf, um den Kampf gegen die Trägheit, die | |
Arroganz, die Selbstgerechtigkeit, die Dummheit etablierter Macht. Eine | |
berühmte Definition von Macht lautet: Macht ist das Privileg, nicht lernen | |
zu müssen. Der Kampf gegen dieses Privileg war sein Kampf. Kein Wunder, | |
dass Christian nach den Erfahrungen als Anwalt, insbesondere als | |
Strafverteidiger, der Sphäre der Politik nicht mehr ausweichen konnte. | |
## Politische Macht um die Welt zu verändern | |
Und so begann er Ende der 1980er Jahre sich in die Politik einzumischen. | |
Als Anwalt hatte er seinen politisch engagierten, radikalen, häufig | |
irregeleiteten Mandanten ermöglicht, ihre politischen Ideen selbst | |
öffentlich zu verteidigen. In dem von ihm betretenen Feld der Politik, in | |
dem bekanntlich mit härtesten Bandagen gekämpft wird, will er nicht so sehr | |
selbst gehört werden, denn anders als seine radikalen Mandanten aus der | |
linken Szene oder als der eine oder andere Strafverteidiger-Kollege liegt | |
ihm nicht viel daran, durch rhetorischen Glanz aufzufallen. Ihm geht es um | |
Politik als die Sphäre, in der zunächst noch unterschwellige Möglichkeiten | |
gesellschaftlicher Veränderung durch fantasiereiches Eingreifen, durch | |
Praxis, in politische Macht überführt werden, mit deren Besitz man die Welt | |
verändern kann. | |
Die Teilnahme an der Verwaltung und Erhaltung der bestehenden Macht- und | |
Herrschaftsverhältnisse war seine Sache nie. Als Politiker verkörperte er | |
eine ungewöhnliche Verbindung von ziemlich unterschiedlichen Eigenschaften: | |
Er verband Eigensinn, der nicht mit Halsstarrigkeit oder Starrköpfigkeit | |
verwechselt werden darf, denn Eigensinn bedeutet die Fähigkeit, den eigenen | |
Erfahrungen einen neuen, ganz eigenen Sinn zu geben und sie dadurch zu | |
ändern – Eigensinn also, Freundlichkeit und Sanftheit, gepaart mit sozialer | |
Fantasie, Experimentierfreude, Beharrlichkeit, Unverzagtheit und der gar | |
nicht hoch genug einzuschätzenden Fähigkeit, für seine Projekte Verbündete | |
zu finden. Nur so viel hier zu der politischen Qualität seiner | |
Freundlichkeit. Und doch blieb und bleibt Christian ein Solitär. Er | |
verkörperte die Fähigkeit zu praktischer Solidarität, doch er machte sich | |
mit niemandem gemein. | |
## Er änderte die Dinge, die nicht zu ändern waren | |
In einem Nachruf auf Christian unter der Überschrift „Der Berufsrebell“ | |
lese ich, dass er nie aufgehört habe „sich aufzubäumen gegen Dinge, die | |
nicht zu ändern waren“ – nein, er bäumte sich nicht auf, und schon gar | |
nicht war er ein „Berufsrebell“. Wenn man ihm schon eine Berufsbezeichnung | |
anheften will, dann, wie bereits erwähnt: ein Sozialarbeiter in den | |
Gefilden der Politik. Um es in einem erneuten Paradox auszudrücken: Er | |
änderte die Dinge, die nicht zu ändern waren – Dinge, die nicht zu ändern | |
sind, haben diese Eigenschaft zu einem großen Teil ja deswegen, weil alle | |
glauben, dass sie nicht zu ändern sind. Und Christians Eigensinn konnte | |
zwar keine Berge versetzen, aber doch Dinge ändern, die als unabänderlich | |
galten, zum Beispiel, indem er durch seine Aktivität | |
– im damaligen West-Berlin eine rot-grüne Koalition möglich machte, erst | |
die zweite ihrer Art zu jener Zeit; | |
– eine überregionale linke Tageszeitung aus der Taufe heben konnte, die | |
gegen alle Widrigkeiten nun schon über 40 Jahre existiert und die, | |
ebenfalls dank entscheidender Initiative von Christian, durch die Gründung | |
einer Genossenschaft aus Lesern und Mitarbeitern gegen allfällige Übernahme | |
durch kapitalkräftige Medienunternehmen immunisiert worden ist, und – | |
ebenso wichtig und ebenso nachhaltig, ja vielleicht sogar das wichtigste | |
seiner politischen Vermächtnisse, indem er | |
– dem Status eines deutschen Bundestagsabgeordneten eine neue Dimension | |
hinzufügte: Er war keineswegs der einzige Bundestagsabgeordnete mit | |
Direktmandat, auch nicht der einzige, der ein solches Mandat über insgesamt | |
vier Legislaturperioden bis zum endgültigen frei gewählten Ausstieg aus der | |
Parlamentspolitik erringen konnte. Nein, das Besondere, Einmalige, | |
Beispiellose, Beispielhafte ist der Charakter, den Christian seinem | |
Direktmandat eingeprägt hat. | |
Das Mandat, das die Partei ihm verweigert hatte, holte er sich nicht gegen, | |
aber ohne die Partei – als „direkt“, das heißt ohne Vermittlung der Part… | |
volksgewählter Abgeordneter. Und das in einer Partei, die zuvor nie ein | |
Direktmandat errungen hatte und in den folgenden fünf Wahlperioden auch | |
nicht erringen konnte – er war der erste und der einzige seiner Partei, der | |
Grünen, und er war der alleinige im Bundestag, der dieses Mandat – ohne, | |
fast möchte man sagen: gegen den Willen seiner Partei errungen hatte. Es | |
beruhte auf dem Charisma seiner Person, und diese Einmaligkeit prägte auch | |
den Charakter dieses Wahlkreises. Hier waren die Menschen nicht bloß | |
Bevölkerung, Wahlberechtigte – hier waren sie Volk im Sinne der Demokratie | |
– ein wenig kratzbürstig, aufmüpfig, kritisch, aber engagiert, solidarisch, | |
friedlich – all das verkörpert in der Person ihres Abgeordneten. | |
Welcher Abgeordnete außer ihm hätte, hat den Versuch gewagt, gegen die | |
überwältigende, zum Teil aggressiv gegen ihn gerichtete Stimmung im Plenum | |
des Bundestags als Einziger eine parlamentarische Debatte über Deutschlands | |
Beteiligung am Kosovo-Krieg zu erzwingen? | |
Es erfordert Mut, den Vielen eine Zumutung zu sein. | |
## Die genuin politische Aufgabe des Abgeordneten | |
Drei Mal ist er nach Afghanistan gereist, um sich persönlich ein Bild von | |
der Situation am Hindukusch zu machen, an dem nach der offiziellen Doktrin | |
auch die Sicherheit Deutschlands vereidigt wurde. Vielleicht war das ja | |
sogar so – aber die heutige Erkenntnis, dass man mit militärischen | |
Kampfmitteln kein Land in den Kreis demokratischer Staaten führen kann, | |
besaß Christian bereits seit Anbeginn des militärischen Engagements der | |
Nato Ende 2001. | |
Er tat, was in einem solchen Fall zu allererst die genuin politische | |
Aufgabe der Regierungen ist, aber gewiss auch der Parlamentsabgeordneten, | |
die das Handeln der Regierung legitimieren und kontrollieren sollen: Er | |
reiste in das Land und sprach dort durch Vermittlung in Deutschland | |
lebender Afghaninnen und Afghanen mit den unterschiedlichsten Personen | |
einschließlich Angehöriger der Taliban – ahnte das Desaster und erhob seine | |
Stimme des Zweifelns an den tapferen Gewissheiten der großen Mehrheit. | |
Und nun, da der Krieg Europa erreicht hat und die Ukraine sich gegen den | |
russischen Krieg verteidigt, reicht es der deutschen Regierung und der | |
Bundestagsmehrheit wiederum nicht, die Dinge in ihrer offen zutage | |
liegenden Wirklichkeit zu benennen, nämlich: einem angegriffenen Staat | |
Hilfe bei dessen Selbstverteidigung zu leisten – nein, dieses Mal wird | |
unsere Freiheit in der Ukraine verteidigt, obwohl wir weder angegriffen | |
worden sind noch der angegriffenen Ukraine als Bündnispartner beistehen | |
(können). Die politisch-moralische Überhöhung militärischer Aktionen soll | |
ja vielleicht die Destruktivität jeglichen militärischen Handelns in ein | |
sanfteres Licht rücken – tatsächlich ist sie ein Vehikel für die | |
Fortsetzung der Politik mit militärischen Mitteln. | |
## Die Stimme eines Skeptikers | |
Auch hier, lange nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag und bereits von | |
seiner Krankheit gezeichnet, erhebt Christian seine Stimme. Es ist nicht | |
die Stimme eines Pazifisten, sondern die eines Skeptikers, eines nüchternen | |
politischen Praktikers, der, um eine erhellende Formulierung von Artur | |
Schnitzler zu zitieren, sich weigert, Einsichten „aus dem Gebiet des | |
Problematischen in dasjenige indiskutabler Gewissheit“ zu rücken. | |
Worin sah Christian eigentlich seine politische Mission? | |
Auf die Frage eines Journalisten, ob er nicht auch gerne mitregieren würde, | |
antwortete er: „Nur wenn ich das, was ich wollte, hätte durchsetzen können�… | |
– er hatte politischen Ehrgeiz, keinen persönlichen. Obwohl er, wie | |
erwähnt, nicht weniger als vier Wahlperioden als direkt gewählter | |
Abgeordneter diesen Wahlkreis vertrat, war er kein Berufspolitiker. Vor | |
mehr als hundert Jahren hat Max Weber „Politik als Beruf“ als das Schicksal | |
der modernen Massendemokratie diagnostiziert – und er hat recht behalten. | |
Auf Christians parlamentarische Tätigkeit trifft diese Diagnose jedoch | |
nicht zu. Politik im und durch das Parlament war nicht sein Beruf – sie war | |
aber auch nicht seine Berufung im Sinne des Auftrags einer inneren Stimme. | |
Sie war nebst seiner anwaltlichen Tätigkeit die nächstliegende Gelegenheit, | |
etwas zu ändern, Produkt seiner Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen | |
Verhältnissen, mit denen er sich nicht abfinden wollte. Wenn ich vorhin | |
sagte, dass Christian im Grunde ein Sozialarbeiter war – einer, der | |
eingreift, wann und wo durch sein Handeln untragbare Verhältnisse geändert, | |
verbessert werden können –, so war er im Bundestag eine Art politischer | |
Freiberufler im Kollektiv der grünen Bundestagsfraktion. | |
Denken wir nur an jene Mischung aus Selbstverständlichkeit und Kühnheit, | |
die in seinem Moskauer Besuch von Edward Snowden zum Ausdruck kam: Es war | |
die selbstverständlichste Sache der Welt, einen aussagewilligen Zeugen für | |
schlimme Gesetzesbrüche zu laden und anzuhören – doch es bedurfte der | |
Kühnheit von Christian, diese Selbstverständlichkeit zu erkennen, | |
öffentlich auszusprechen und tatkräftig der Politik nahezubringen. Tatkraft | |
– dieses etwas altmodisch klingende und so schwer in andere Sprachen zu | |
übersetzende deutsche Wort hat in Christian seine lebendige Verkörperung | |
gefunden. | |
Wie nennt man einen Solchen, wenn er gestorben ist, nicht mehr lebendig | |
unter uns, mit uns ist? Er ist ein Großer – ja, ich sage ist. Denn jetzt, | |
wo er in unserer Erinnerung bei uns ist, wird uns klar, dass die uns | |
vertraute Selbstverständlichkeit von Christians Menschlichkeit, diese | |
außergewöhnliche Verbindung von tatkräftiger und erfindungsreicher Hingabe | |
an die Arbeit für gemeinsame Ziele, Wünsche, Hoffnungen – und seiner | |
persönlichen Bescheidenheit, Freundlichkeit, Leichtigkeit jetzt, da er | |
nicht mehr bei uns ist, als etwas wahrlich Seltenes und Großes erkennbar | |
wird. | |
Wir verneigen uns vor ihm in Schmerz und Trauer, aber auch im Stolz darauf, | |
dass wir ihm in seinem Leben nahe sein durften. | |
4 Oct 2022 | |
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