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# taz.de -- Trauerfeier für Christian Ströbele: „Meine Rede ist eine Totenk…
> Mit einer Trauerfeier erinnern taz und Grüne an Christian Ströbele – hier
> im Videostream. Die taz dokumentiert die Rede, die Ulrich Preuß hielt.
Bild: Abschied von Christian Ströbele
Am Dienstagabend erinnern die taz und die Grünen in einer gemeinsam und
[1][öffentlichen Trauerfeier] an Christian Ströbele. Der Anwalt, Politiker
und taz-Mitgründer war am 29. August im Alter von 83 Jahren gestorben.
[2][Bei der Beerdigung Ströbeles in Berlin-Kreuzberg] hatte der Rechts- und
Politikwissenschaftler Ulrich K. Preuß an seinen Weggefährten erinnert, mit
dem er einst das sozialistische Anwaltkollektiv gegründet hatte. Die taz
dokumentiert hier seine Trauerrede.
Liebe Juliana, liebe Familie Ströbele, liebe Freundinnen und Freunde von
Christian,
dies ist ein sehr trauriger und schwerer Tag für uns alle.
Der traurigste Freundschaftsdienst ist die Rede auf den Tod des Freundes.
Und zugleich der schwerste, denn bei all den vielen, sich über mehr als
fünf Jahrzehnte hinziehenden Gesprächen, Diskussionen, gemeinsamen
Erlebnissen, bei denen doch so viel geredet und ausgetauscht wurde,
versagen im Angesicht der Endgültigkeit des Todes die Worte.
Uns allen hier Versammelten Christian noch einmal in seiner Lebendigkeit
gegenwärtig zu machen – das könnte bei diesem ereignisreichen Leben und
dieser Person eigentlich nur ein Dichter. Ich will zu den hier versammelten
Trauernden sprechen, aber vor allem will ich auch zu ihm sprechen, ihn
erwecken, vom Tode erlösen, obwohl ich doch weiß, dass der Tod ihn von dem
unerträglichen Leid am Ende seines Lebens erlöst hat.
Wie kann ich, wir können denn wir hier beides wollen – Erweckung aus dem
Tod und Erlösung aus den Leiden des Lebens? Wider alle Vernunft wollen wir
das – weil Du fehlst, weil wir Dich schon heute vermissen, weil wir
weiterleben, einstweilen, aber spüren, dass schon jetzt mit Dir ein Stück
unseres eigenen Lebens verloren gegangen ist.
Ich kann keine Trauerrede für ihn halten, ich kann nur klagen, meine Rede
ist eine Totenklage. Ich könnte weinen, ich weine – ich sehe Christian vor
mir, wir sind in lebhafter kleiner Gesellschaft, alle reden durcheinander,
und da sitzt Christian, still, lächelnd, zuhörend, ab und zu mit seiner
eher weichen, fast heiseren Stimme eine Bemerkung einwerfend, bescheiden,
nicht drängelnd, lächelnd, ja, immer noch lächelnd, geduldig zuhörend und
im Genuss der Anwesenheit der heftig und lärmend argumentierenden Freunde.
So höre doch auch zu, wie wir heute mit Dir, über Dich reden – klagen, uns
unserer Tränen nicht schämend.
In angloamerikanischer Sprechweise sagt man: „He is a character“ – und man
denkt, das sagt eigentlich alles, mehr kann man und mehr muss man nicht
sagen, wenn man kein Dichter ist. Der Spruch trifft zwar unzweifelhaft auf
Christian zu, aber er sagt nicht annähernd genug über ihn.
## Boubou, der gutmütige Begleiter
Man muss erzählen, über die kleinen und die großen Ereignisse seines
Lebens, so zum Beispiel über die gemeinsamen Spaziergänge mit Juliana und
Boubou im Grunewald – Ihr wisst nicht, wer Boubou war? Er war ein
schwarzer, ein wenig struppiger und äußerst lebendig-ungeduldiger, aber
gutmütiger Hund, jahrelanger Begleiter von Juliana und Christian –, oder
die gemeinsamen Fahrten von der Meierottosraße, dem Ort der Anwaltspraxis,
zum Kriminalgericht Moabit, die jedes Mal seinen Ehrgeiz anfachten, so nahe
wie möglich am Gerichtsgebäude einen Parkplatz zu finden – und, ich konnte
es niemals glauben, tatsächlich einen fand, wie grenzwertig diese
Trouvaille unter stadtökologischen ebenso wie juristischen Gesichtspunkten
auch gewesen sein mag.
Unter der gewiss nicht geringen Menge an polizeilichen, staatsanwaltlichen
oder gerichtlichen Postzustellungen waren solche prekären Parkereignisse
natürlich Lappalien, deren Erledigung man den Referendaren im
Anfangsstadium ihrer Stage überlassen konnte. Am Ende ihrer Ausbildung
allerdings hatten sie begriffen, dass sich die Kreativität ihres Ausbilders
keineswegs auf das Aufspüren eines versteckten Parkplatzes beschränkte.
Viele von ihnen spürten, dass hier jemand einen Beruf ausübte, den sie aus
ihrer bisherigen juristischen Ausbildung noch gar nicht kannten – den des
Rechtsanwaltes, der sich nicht als Organ der staatlichen Rechtspflege
verstand, sondern als Kämpfer für das Recht seiner Mandanten.
Ja, muss man denn in einem verfassungsrechtlich konstituierten, etablierten
und garantierten Rechtsstaat für das Recht kämpfen? Sorgt denn nicht der
Staat für das Recht?
Doch so einfach ist es nicht. In demokratischen Gesellschaften wie der
unsrigen ist das Recht eine fragile gesellschaftliche Einrichtung; es wird
zwar fast ausschließlich von staatlichen Organen erzeugt, aber es soll den
Geist der Gesellschaft atmen, in deren Namen der Staat handelt. Wieso aber
„fragil“, wie ich sagte? Nun, weil das Recht in einer lebendigen
Gesellschaft umkämpft ist. Recht ist nicht nur Ordnung, etwas Gegebenes,
sondern es verkörpert auch ein Versprechen, etwas noch nicht Eingelöstes:
das Versprechen der Gerechtigkeit. Wir sind nicht im Himmel, sondern auf
Erden, und hier ist dieses Versprechen des Uneingelösten seinem Wesen nach
umkämpft.
## Der Angeklagte als Subjekt des Verfahrens
Dies vorausgeschickt, um auf den Kämpfer für das Recht Christian Ströbele
zurückzukommen. Jahre nach der Phase der RAF-Prozesse wurde er in einem
Interview gebeten, den auch gerade von ihm verkörperten „neuen Typus“ des
Anwalts, insbesondere des Strafverteidigers vor Gericht zu
charakterisieren. Die Frage kam von einer Sozialwissenschaftlerin, die ein
Buch über die Wirkungen der 68er Bewegung auf die Rechtskultur und den
Gerichtssaal herausgeben wollte (das dann auch, unter anderem mit dem
Interview von Christian, einige Zeit später erschien).
Christian hat sich zeitlebens wenig bis gar nicht für theoretische Fragen
und Konstruktionen interessiert. Um so bemerkenswerter ist seine damalige
Antwort: „Uns ging es nicht um mildere Strafen oder Freisprüche, sondern
darum, den Angeklagten zum Subjekt des Verfahrens zu machen“ – wenn das
nicht ein Satz ist, der in jedes Lehrbuch der Rechtsphilosophie passen
würde!
So war Christian: Die kompliziertesten Dinge wurden bei ihm einfach,
selbst-verständlich – nicht simpel!
Die Angeklagten sollten die Hauptrolle im Strafprozess spielen können. Das
hört sich trivial an, war es aber keineswegs. Denn zwar gab es und gibt es
in unserem Lande die Garantien einer unabhängigen und unparteiischen
Strafjustiz und einer auf der Unschuldsvermutung der Angeklagten beruhenden
Strafverteidigung; aber es gab auch Richter, und es gab auch
Strafverteidiger.
Über die Richter schweige ich, über die Verteidiger ebenfalls, bis auf eine
kleine Seitenbemerkung: Nicht alle von ihnen waren fähig oder willens, den
Angeklagten die Hauptrolle zu überlassen – nicht so Christian. Selten, wenn
überhaupt je habe ich einen Strafverteidiger vor Gericht gesehen, der
einerseits so bescheiden und zugleich so gut vorbereitet in die Verhandlung
kam und so effektiv verteidigte wie Christian. Bescheiden heißt nicht
unterwürfig, gefügig, nachgiebig, kompromissbereit oder sonst wie
kämpferische Qualitäten vermissen lassend – es bedeutet Anstand und zivile
Umgangsformen, im Strafprozess aber vor allem: stets den Angeklagten als
Hauptperson betrachten und behandeln, ihm beziehungsweise ihr eine Stimme
geben, dabei als Verteidiger keiner konfrontativen Auseinandersetzung aus
dem Wege gehend, um dieses Recht der Angeklagten durchzusetzen. Denn das
Recht, ich sagte es, will und muss erkämpft werden – und das Vorbild eines
solchen Kämpfers war Christian.
## Ein sanfter Mensch
Als ein „sanfter Wüterich“ wurde Christian in einem Nachruf bezeichnet –
das war sicherlich nicht böse oder hämisch, vielleicht sogar anerkennend
gemeint. An dieser Benennung ist jedoch nur das Adjektiv zutreffend:
Christian war tatsächlich ein sanfter Mensch. Sanft, heiter, gelassen,
freundlich, unprätentiös.
Es gibt viele Menschen, die einige oder gar alle diese Eigenschaften
besitzen – kann ein solcher Mensch aber zugleich ein Wüterich sein? Unter
„Wüterich“ findet man in den Lexika Synonyme wie Berserker, Jähzorniger,
Rasender und Schlimmeres – so weit ab von Christian, dass weitere
Erläuterungen sich erübrigen. Ich spreche hier nur darüber, weil der
Erfinder des „sanften Wüterichs“ offenbar ein Paradox benennen wollte und
mit dieser missglückten Charakterisierung von Christian tatsächlich ein
Körnchen Wahrheit freilegte: die Verbindung widersprüchlicher, ja
gegensätzlicher Eigenschaften in einer Person.
Wie soll man sich denn wohl einen Wüterich vorstellen, der sanftmütig ist?
Das wäre so etwas wie ein schwarzer Schimmel. Christian war durchaus kein
schwarzer Schimmel – aber vielleicht war er doch ein grauer Schimmel – ein
sanfter Radikaler. Was meint das?
Es gibt Ideen, denen zufolge die Welt durch Sanftmut verbessert werden
kann. Christian hing keiner solchen Idee an. Er war ein Mann der Praxis –
Praxis verstanden als eine Haltung, die den Sinn menschlicher Tätigkeit
nicht in endlosem Reflektieren, Debattieren, Formulieren von Gedanken
sieht, sondern in der Umgestaltung der gesellschaftlichen Wirklichkeit für
und durch den Menschen – Christian war mit dieser Haltung stets näher bei
den Menschen (und vielleicht ja sogar auch bei Marx) als all die vielen
eifrigen Theoretiker, die mit ihren haarspalterischen Ableitungen des
„richtigen“ revolutionären Subjekts der Gesellschaft eher ein gutes
Beispiel für den Marx’schen Begriff der „unproduktiven Arbeit“ boten.
## Ein wahrer Sozialarbeiter
Christian war ein wahrer Sozialarbeiter – wenn dieser Begriff nicht bereits
für eine spezielle Berufstätigkeit im Sektor der gesellschaftlich eher
randständigen Bevölkerung vergeben wäre, dann würde Christian Ströbele als
hervorstechendes Beispiel für Sozialarbeit gelten, einer Sozialarbeit
eigener, eigensinniger Art – als die Tätigkeit der fantasievollen,
erfindungsreichen und damit auch experimentellen Gestaltung und
Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen auch in einer
etablierten demokratischen Ordnung die Selbstbestimmung und Würde jedes
Menschen täglich neu erkämpft werden muss.
Es geht hier nicht um Klassenkampf, um den Kampf einer Klasse gegen die
andere – aber es geht schon um Kampf, um den Kampf gegen die Trägheit, die
Arroganz, die Selbstgerechtigkeit, die Dummheit etablierter Macht. Eine
berühmte Definition von Macht lautet: Macht ist das Privileg, nicht lernen
zu müssen. Der Kampf gegen dieses Privileg war sein Kampf. Kein Wunder,
dass Christian nach den Erfahrungen als Anwalt, insbesondere als
Strafverteidiger, der Sphäre der Politik nicht mehr ausweichen konnte.
## Politische Macht um die Welt zu verändern
Und so begann er Ende der 1980er Jahre sich in die Politik einzumischen.
Als Anwalt hatte er seinen politisch engagierten, radikalen, häufig
irregeleiteten Mandanten ermöglicht, ihre politischen Ideen selbst
öffentlich zu verteidigen. In dem von ihm betretenen Feld der Politik, in
dem bekanntlich mit härtesten Bandagen gekämpft wird, will er nicht so sehr
selbst gehört werden, denn anders als seine radikalen Mandanten aus der
linken Szene oder als der eine oder andere Strafverteidiger-Kollege liegt
ihm nicht viel daran, durch rhetorischen Glanz aufzufallen. Ihm geht es um
Politik als die Sphäre, in der zunächst noch unterschwellige Möglichkeiten
gesellschaftlicher Veränderung durch fantasiereiches Eingreifen, durch
Praxis, in politische Macht überführt werden, mit deren Besitz man die Welt
verändern kann.
Die Teilnahme an der Verwaltung und Erhaltung der bestehenden Macht- und
Herrschaftsverhältnisse war seine Sache nie. Als Politiker verkörperte er
eine ungewöhnliche Verbindung von ziemlich unterschiedlichen Eigenschaften:
Er verband Eigensinn, der nicht mit Halsstarrigkeit oder Starrköpfigkeit
verwechselt werden darf, denn Eigensinn bedeutet die Fähigkeit, den eigenen
Erfahrungen einen neuen, ganz eigenen Sinn zu geben und sie dadurch zu
ändern – Eigensinn also, Freundlichkeit und Sanftheit, gepaart mit sozialer
Fantasie, Experimentierfreude, Beharrlichkeit, Unverzagtheit und der gar
nicht hoch genug einzuschätzenden Fähigkeit, für seine Projekte Verbündete
zu finden. Nur so viel hier zu der politischen Qualität seiner
Freundlichkeit. Und doch blieb und bleibt Christian ein Solitär. Er
verkörperte die Fähigkeit zu praktischer Solidarität, doch er machte sich
mit niemandem gemein.
## Er änderte die Dinge, die nicht zu ändern waren
In einem Nachruf auf Christian unter der Überschrift „Der Berufsrebell“
lese ich, dass er nie aufgehört habe „sich aufzubäumen gegen Dinge, die
nicht zu ändern waren“ – nein, er bäumte sich nicht auf, und schon gar
nicht war er ein „Berufsrebell“. Wenn man ihm schon eine Berufsbezeichnung
anheften will, dann, wie bereits erwähnt: ein Sozialarbeiter in den
Gefilden der Politik. Um es in einem erneuten Paradox auszudrücken: Er
änderte die Dinge, die nicht zu ändern waren – Dinge, die nicht zu ändern
sind, haben diese Eigenschaft zu einem großen Teil ja deswegen, weil alle
glauben, dass sie nicht zu ändern sind. Und Christians Eigensinn konnte
zwar keine Berge versetzen, aber doch Dinge ändern, die als unabänderlich
galten, zum Beispiel, indem er durch seine Aktivität
– im damaligen West-Berlin eine rot-grüne Koalition möglich machte, erst
die zweite ihrer Art zu jener Zeit;
– eine überregionale linke Tageszeitung aus der Taufe heben konnte, die
gegen alle Widrigkeiten nun schon über 40 Jahre existiert und die,
ebenfalls dank entscheidender Initiative von Christian, durch die Gründung
einer Genossenschaft aus Lesern und Mitarbeitern gegen allfällige Übernahme
durch kapitalkräftige Medienunternehmen immunisiert worden ist, und –
ebenso wichtig und ebenso nachhaltig, ja vielleicht sogar das wichtigste
seiner politischen Vermächtnisse, indem er
– dem Status eines deutschen Bundestagsabgeordneten eine neue Dimension
hinzufügte: Er war keineswegs der einzige Bundestagsabgeordnete mit
Direktmandat, auch nicht der einzige, der ein solches Mandat über insgesamt
vier Legislaturperioden bis zum endgültigen frei gewählten Ausstieg aus der
Parlamentspolitik erringen konnte. Nein, das Besondere, Einmalige,
Beispiellose, Beispielhafte ist der Charakter, den Christian seinem
Direktmandat eingeprägt hat.
Das Mandat, das die Partei ihm verweigert hatte, holte er sich nicht gegen,
aber ohne die Partei – als „direkt“, das heißt ohne Vermittlung der Part…
volksgewählter Abgeordneter. Und das in einer Partei, die zuvor nie ein
Direktmandat errungen hatte und in den folgenden fünf Wahlperioden auch
nicht erringen konnte – er war der erste und der einzige seiner Partei, der
Grünen, und er war der alleinige im Bundestag, der dieses Mandat – ohne,
fast möchte man sagen: gegen den Willen seiner Partei errungen hatte. Es
beruhte auf dem Charisma seiner Person, und diese Einmaligkeit prägte auch
den Charakter dieses Wahlkreises. Hier waren die Menschen nicht bloß
Bevölkerung, Wahlberechtigte – hier waren sie Volk im Sinne der Demokratie
– ein wenig kratzbürstig, aufmüpfig, kritisch, aber engagiert, solidarisch,
friedlich – all das verkörpert in der Person ihres Abgeordneten.
Welcher Abgeordnete außer ihm hätte, hat den Versuch gewagt, gegen die
überwältigende, zum Teil aggressiv gegen ihn gerichtete Stimmung im Plenum
des Bundestags als Einziger eine parlamentarische Debatte über Deutschlands
Beteiligung am Kosovo-Krieg zu erzwingen?
Es erfordert Mut, den Vielen eine Zumutung zu sein.
## Die genuin politische Aufgabe des Abgeordneten
Drei Mal ist er nach Afghanistan gereist, um sich persönlich ein Bild von
der Situation am Hindukusch zu machen, an dem nach der offiziellen Doktrin
auch die Sicherheit Deutschlands vereidigt wurde. Vielleicht war das ja
sogar so – aber die heutige Erkenntnis, dass man mit militärischen
Kampfmitteln kein Land in den Kreis demokratischer Staaten führen kann,
besaß Christian bereits seit Anbeginn des militärischen Engagements der
Nato Ende 2001.
Er tat, was in einem solchen Fall zu allererst die genuin politische
Aufgabe der Regierungen ist, aber gewiss auch der Parlamentsabgeordneten,
die das Handeln der Regierung legitimieren und kontrollieren sollen: Er
reiste in das Land und sprach dort durch Vermittlung in Deutschland
lebender Afghaninnen und Afghanen mit den unterschiedlichsten Personen
einschließlich Angehöriger der Taliban – ahnte das Desaster und erhob seine
Stimme des Zweifelns an den tapferen Gewissheiten der großen Mehrheit.
Und nun, da der Krieg Europa erreicht hat und die Ukraine sich gegen den
russischen Krieg verteidigt, reicht es der deutschen Regierung und der
Bundestagsmehrheit wiederum nicht, die Dinge in ihrer offen zutage
liegenden Wirklichkeit zu benennen, nämlich: einem angegriffenen Staat
Hilfe bei dessen Selbstverteidigung zu leisten – nein, dieses Mal wird
unsere Freiheit in der Ukraine verteidigt, obwohl wir weder angegriffen
worden sind noch der angegriffenen Ukraine als Bündnispartner beistehen
(können). Die politisch-moralische Überhöhung militärischer Aktionen soll
ja vielleicht die Destruktivität jeglichen militärischen Handelns in ein
sanfteres Licht rücken – tatsächlich ist sie ein Vehikel für die
Fortsetzung der Politik mit militärischen Mitteln.
## Die Stimme eines Skeptikers
Auch hier, lange nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag und bereits von
seiner Krankheit gezeichnet, erhebt Christian seine Stimme. Es ist nicht
die Stimme eines Pazifisten, sondern die eines Skeptikers, eines nüchternen
politischen Praktikers, der, um eine erhellende Formulierung von Artur
Schnitzler zu zitieren, sich weigert, Einsichten „aus dem Gebiet des
Problematischen in dasjenige indiskutabler Gewissheit“ zu rücken.
Worin sah Christian eigentlich seine politische Mission?
Auf die Frage eines Journalisten, ob er nicht auch gerne mitregieren würde,
antwortete er: „Nur wenn ich das, was ich wollte, hätte durchsetzen können�…
– er hatte politischen Ehrgeiz, keinen persönlichen. Obwohl er, wie
erwähnt, nicht weniger als vier Wahlperioden als direkt gewählter
Abgeordneter diesen Wahlkreis vertrat, war er kein Berufspolitiker. Vor
mehr als hundert Jahren hat Max Weber „Politik als Beruf“ als das Schicksal
der modernen Massendemokratie diagnostiziert – und er hat recht behalten.
Auf Christians parlamentarische Tätigkeit trifft diese Diagnose jedoch
nicht zu. Politik im und durch das Parlament war nicht sein Beruf – sie war
aber auch nicht seine Berufung im Sinne des Auftrags einer inneren Stimme.
Sie war nebst seiner anwaltlichen Tätigkeit die nächstliegende Gelegenheit,
etwas zu ändern, Produkt seiner Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen
Verhältnissen, mit denen er sich nicht abfinden wollte. Wenn ich vorhin
sagte, dass Christian im Grunde ein Sozialarbeiter war – einer, der
eingreift, wann und wo durch sein Handeln untragbare Verhältnisse geändert,
verbessert werden können –, so war er im Bundestag eine Art politischer
Freiberufler im Kollektiv der grünen Bundestagsfraktion.
Denken wir nur an jene Mischung aus Selbstverständlichkeit und Kühnheit,
die in seinem Moskauer Besuch von Edward Snowden zum Ausdruck kam: Es war
die selbstverständlichste Sache der Welt, einen aussagewilligen Zeugen für
schlimme Gesetzesbrüche zu laden und anzuhören – doch es bedurfte der
Kühnheit von Christian, diese Selbstverständlichkeit zu erkennen,
öffentlich auszusprechen und tatkräftig der Politik nahezubringen. Tatkraft
– dieses etwas altmodisch klingende und so schwer in andere Sprachen zu
übersetzende deutsche Wort hat in Christian seine lebendige Verkörperung
gefunden.
Wie nennt man einen Solchen, wenn er gestorben ist, nicht mehr lebendig
unter uns, mit uns ist? Er ist ein Großer – ja, ich sage ist. Denn jetzt,
wo er in unserer Erinnerung bei uns ist, wird uns klar, dass die uns
vertraute Selbstverständlichkeit von Christians Menschlichkeit, diese
außergewöhnliche Verbindung von tatkräftiger und erfindungsreicher Hingabe
an die Arbeit für gemeinsame Ziele, Wünsche, Hoffnungen – und seiner
persönlichen Bescheidenheit, Freundlichkeit, Leichtigkeit jetzt, da er
nicht mehr bei uns ist, als etwas wahrlich Seltenes und Großes erkennbar
wird.
Wir verneigen uns vor ihm in Schmerz und Trauer, aber auch im Stolz darauf,
dass wir ihm in seinem Leben nahe sein durften.
4 Oct 2022
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## AUTOREN
Ulrich Preuss
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