| # taz.de -- Schule der Gefühle: Vom Zorn im Straßenverkehr | |
| > Was wäre ergiebiger für Studien zum Emotionshaushalt als eine abgedrängte | |
| > Radfahrerin? Das weiß auch der Ethikrat, der sich für nichts zu schade | |
| > ist. | |
| Bild: Von wegen Idylle: Tatsächlich ist der Radweg Heimat zahlreicher Wutbürg… | |
| Kürzlich radelte ich nach Hause, als mich von hinten ein [1][Lastenrad] | |
| abdrängte. „Geht’s noch“, schrie ich, wandte mich um und erkannte den | |
| Vorsitzenden des Ethikrats, der einen goldenen Fahrradhelm trug. Die beiden | |
| anderen Mitglieder saßen in der Transportbox. Der Ethikrat, das sind drei | |
| ältere Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Hinweise in Fragen | |
| praktischer Ethik geben. Eines der Mitglieder fotografierte mich mit einer | |
| Sofortbildkamera, das andere kramte einen Notizblock hervor. „Ach, Sie sind | |
| es Frau Gräff“, sagte der Ratsvorsitzende heiter. „Ja, ich bin es“, sagte | |
| ich unfroh. „Hat es einen tieferen Sinn, dass Sie mich abdrängen?“ | |
| „Natürlich“, sagte der Ratsvorsitzende. „Wir beschäftigen uns in einer | |
| Feldforschungsreihe mit dem Thema Zorn. Sicher sind Ihnen die Ideen | |
| [2][Aristoteles]’ und Senecas dazu bekannt. Und nun richten wir unsere | |
| bescheidenen Kräfte“ – er wies wohlwollend auf die beiden anderen | |
| Ratsmitglieder – „darauf, ihre Thesen im Kontext zeitgenössischen | |
| Straßenverkehrs zu prüfen.“ | |
| „In der Theorie heißt es ja heutzutage, der Zorn sei eine produktive | |
| Kraft“, sagte ich. „Aber was man so trifft, ist eher Gepöbel am Wegrand. | |
| Ein Wutbürgertum für alle Schichten, bei dem es unmöglich ist, vom Anlass | |
| zur eigentlichen Wurzel zu kommen.“ – „Tatsächlich“, murmelte der | |
| Ratsvorsitzende desinteressiert und betrachte das Polaroidfoto, das eines | |
| der Ratsmitglieder ihm reichte. Ich versuchte nicht hinzuschauen. Das | |
| andere Ratsmitglied klebte gelbe Zettel an die umstehenden Laternen. | |
| „Welche Erkenntnisse ziehen Sie aus dem Verkehr?“, fragte ich, während ich | |
| daran dachte, wie ich kürzlich einem sehr dicken Auto Bitteres | |
| hinterhergeschrien hatte, woraufhin das Auto hielt und ich mich fragte, ob | |
| ältere schreiende Frauen auf offener Straße niedergeschlagen werden oder ob | |
| es da so etwas wie Welpenschutz gibt, eben nur für sehr alte Hunde. Der | |
| Mann am Steuer kurbelte das Fenster herunter. „Sie sind viel zu nah an mir | |
| vorbeigefahren“, sagte ich. „Ich bin auf dem Weg in den Kreissaal zu meiner | |
| Frau“, sagte er. Ich wünschte ihm betreten alles Gute und erst sehr viel | |
| später fiel mir auf, dass die Straße schlecht gewählt war, um zu | |
| irgendeinem Kreissaal dieser Stadt zu gelangen. | |
| ## Philosophische Selbstschulung | |
| „Wir finden wenig Bereitschaft, die Ratio über den Affekt zu stellen“, | |
| sagte der Ratsvorsitzende und streute eine Handvoll Reißzwecken auf den | |
| Weg, die er mit Sand bedeckte, den ihm die Ratsmitglieder aus der | |
| Transportbox anreichten. „Dabei bietet sich gerade hier ein sehr | |
| produktiver Ausgangspunkt für eine philosophische Selbstschulung.“ Er hielt | |
| einen Zettel in die Höhe, mit einem Foto, auf dem der Rat freundlich in die | |
| Kamera winkte, darunter stand: „Dein Zorn über schlechte Handlungen anderer | |
| schadet dir selbst ungleich mehr als die Handlungen selbst“ (Marc Aurel) – | |
| nutzen Sie die Expertise erfahrener Philosophen, um Ihre Affekte zu | |
| zügeln.“ Und darunter: Drei Sitzungen für 500 Euro. | |
| Der Ethikrat war schamlos, aber das war selbst für seine Verhältnisse | |
| bodenlos. „Sie verbinden Forschung und finanzielle Interessen“, sagte ich, | |
| „ist das wissenschaftlich nicht indiskutabel?“– „Natürlich nicht“, s… | |
| der Ratsvorsitzende. „Wir verfolgen beides strikt getrennt.“ | |
| Da näherte sich einer dieser schnittigen Jungväter, die sehr unangenehm | |
| werden können, neben sich schob er ein Lastenrad der höheren Preisklasse. | |
| „Leider müssen wir aufbrechen“, sagte der Ratsvorsitzende, die beiden | |
| anderen Mitglieder waren bereits angeschnallt. „Das größte Gegenmittel | |
| gegen den Zorn ist der Aufschub“, rief er in Richtung Jungvater, aber dann | |
| sparte er seine Luft, um sehr rasch davonzufahren. | |
| 18 Oct 2022 | |
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| [2] https://www.projekt-gutenberg.org/aristote/nikomach/niko0411.html | |
| ## AUTOREN | |
| Friederike Gräff | |
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