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# taz.de -- Zukunft des urbanen Verkehrs: Die Stadt als Ort des Experiments
> Autos, Räder, Roller: Lange schon wird über das Miteinander im Verkehr
> diskutiert. Das Ergebnis sind Verbote. Was fehlt, ist eine urbane Vision.
Bild: Viele Berliner*innen wollen eine autofreie Zukunft – wäre das machbar?
Städte sind Orte der Zivilisation, der Freiheit, der Versöhnung. In Städten
bildet sich ein Gefühl für Verantwortung heraus, für die anderen, das
Gemeinsame – schon weil es notwendig ist, um auf engem Raum miteinander
auszukommen; Städte sind aber auch Orte des Konflikts, der Gegensätze, der
Zuspitzung von Entwicklungen und Bedrohungen, die an anderen Stellen der
Gesellschaft nicht ganz so offen zutage treten. Berlin zum Beispiel.
Ich wohne nicht weit von dem Ort, an dem am vergangenen Freitag ein
[1][Porsche Macan mit hoher Geschwindigkeit auf den Bürgersteig raste und
vier Menschen tötete], darunter ein Kleinkind. In den vergangenen Monaten
sind damit in meiner nächsten Umgebung fünf Menschen von Autos getötet
worden, und eine Fahrradfahrerin wurde, Minuten nachdem ich dort
vorbeigefahren war, von einem Lastwagen schwer verletzt, an der Kreuzung,
die meine Kinder Tag für Tag überqueren. Die Diskussionen begannen über
Sinn und Unsinn von SUVs in der Stadt: Braucht es 300 PS oder mehr und wenn
ja, wozu – vor allem, wenn man weiß, dass Unfälle mit SUVs doppelt so
tödlich sind?
Plausible Fragen, könnte man meinen; aber plausibel oder gar vernünftig ist
wenig in diesen Zeiten. Man solle diesen Unfall nicht instrumentalisieren,
sagten die, die sonst jede Meinung interessant finden, vor allem, wenn sie
von sehr weit rechts kommt – in ihrer Aufgeregtheit klangen sie wie
Lobbyisten der amerikanischen Waffenorganisation NRA, die noch jeden
Amoklauf dazu nutzen, um eine Diskussion über Waffenbesitz zu verhindern.
Aber vielleicht steckt etwas anderes hinter dieser allergischen Reaktion,
vernünftige Fragen zu stellen. Viele, auch das hat sich nach dem Unfall
gezeigt, [2][sehen Autos tatsächlich als Waffen]. Doch eigentlich geht es
in dem Streit wohl um etwas Grundsätzliches: um eine soziale und
ökonomische Gemengelage, in der Fragen von Differenz eine Rolle spielen,
von Abgrenzung gegen Veränderung, gegen das Gemeinsame, ein Morgen. PS als
politisches Statement. Benzinvernebelte Identitätspolitik.
Und weil wir in einem ideologischen Durcheinander leben, ist nicht immer
ganz klar, wie sich das alles parteipolitisch darstellt. Die Gelbwesten in
Frankreich waren ja nicht durchwegs rechts oder reaktionär, oft sogar im
Gegenteil, sie waren im Widerstand gegen eine Politik der Ungleichheit, der
Umverteilung von unten nach oben, der neoliberalen Ignoranz – trotzdem, der
Zukunft zugewandt waren sie auch nicht, genauso wenig wie die norwegischen
Wähler, die die Wahl diese Woche zu einer Abstimmung übers Autofahren
gemacht und damit auch dort die politische Landschaft verändert haben.
## BMW verkaufte so viele SUVs wie nie
Wenn er aber nicht klar politisch zuzuordnen ist – wofür steht dieser
Konflikt dann? Woher kommt diese Wut von Autofahrern auf die Radfahrer, von
Radfahrern auf Autofahrer, von Fußgängern auf alle – überhaupt von allen
auf alle?
Was klar ist: Der Konflikt der Pendler ist vom Land in die Stadt gekommen –
es zeigen sich hier die Bruchlinien zweier Zeiten. Auf der einen Seite das
komplett entgleiste Öl- und Automobilzeitalter des 20. Jahrhunderts,
vorangetrieben vor allem von den Reichen und Wohlhabenden, die viel fliegen
und schwere Autos fahren; und auf der anderen Seite das Zeitalter der
alternativen Energien, der Pedalkraft, der verantwortungsvollen Mobilität
des 21. Jahrhunderts. Diese chronopolitische Konfliktlinie, die die
Gesellschaft durchzieht, erklärt wohl auch die Angst und Aggression, mit
der diese Diskussion gerade von denen geführt wird, die keine Veränderung
wollen – oder das Gefühl haben, sich diese Veränderung nicht leisten zu
können.
Andererseits: BMW verkaufte im vergangenen Monat [3][so viele SUVs wie noch
nie] – der Verkauf von elektrischen Autos stockt dagegen. Das ist natürlich
absurd. Ich habe keine Lust, auf das Ende der deutschen Automobilindustrie
zu warten; ich habe aber auch keine Lust, ihnen dabei zuzusehen, wie sie
die Städte und den Planeten kurz und klein fahren. Was also ist zu tun? Ich
finde ja die Diskussion über Verbote nicht hilfreich. Erstens, weil es
keine Verbote sind, sondern Regelungen, wie sie im Straßenverkehr oft genug
vorkommen, oder wann sind Sie das letzte Mal betrunken gefahren, eine
Gefahr für sich und andere? Und zweitens, weil es das Lösungsspektrum
verengt; im Grunde ist Scham ja immer noch ein sehr starker menschlicher
Antrieb, die Veränderung gesellschaftlicher Normen ist sehr wirkungsvoll
und geht effektiver Gesetzgebung oft voraus. In Berlin zirkulieren schon
Aufkleber gegen SUVs, auf denen steht: Zu Fett.
## Das sind die Schlachten von gestern
Ich glaube, dass es gerade einen gesellschaftlichen Veränderungsprozess
gibt, die Panik der PS-Besitzstandswahrer würde das nahelegen. Aber das
sind die Schlachten von gestern. Was heute in einer Stadt wie Berlin zu
sehen ist, ist das Versagen einer Verwaltung, überhaupt das Richtige zu
tun. Die Stadt als Ort der Zukunft zu sehen und gestalten.
Die Konfliktlinien sind also da; was fehlt, sind die Antworten. Was fehlt,
ist eine Perspektive in Architektur und Städtebau, was fehlt, sind Pläne,
wie man etwa Parkplätze für Urban Farming verwenden könnte. Was fehlt, ist
eine urbane Vision, in der Autos einen untergeordneten Platz haben, weil es
ganz andere Möglichkeiten gibt, die Stadt als gemeinsamen Ort zu sehen und
zu behandeln. Die Diskussion über Verbote lenkt im Grunde nur von den
eigentlichen Herausforderungen ab. Auch die Verwaltung hängt im fossilen
Zeitalter fest. Das gilt in Berlin und darüber hinaus. Die Stadt als Ort
des Experiments muss sich auf der Ebene des Verkehrs erst noch definieren.
Eigentlich wäre das eine ganz klare progressive Agenda. Ein Green New Deal
für den Verkehr. [4][Sucht die SPD nicht gerade nach einem Programm]?
Suchen nicht fast alle Parteien gerade nach Ideen?
12 Sep 2019
## LINKS
[1] /SUV-Unfall-in-Berlin-Mitte/!5620953
[2] /Zeit-fuer-eine-echte-Verkehrswende/!5621054
[3] /SUV-Boom-in-Deutschland/!5624204
[4] /Autor-ueber-Zukunft-der-Sozialdemokratie/!5613908
## AUTOREN
Georg Diez
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