# taz.de -- Deutschland und der Krieg in der Ukraine: Angst vor dem K-Wort | |
> Sind wir im Krieg? Seit Monaten scheut die Bundesregierung ein | |
> eindeutiges Wording, nicht aber Waffenlieferungen. Ein Bluff. | |
Bild: 20. Juli 2022 in Grafenwöhr: multinationale Artillerie-Feuerübung | |
Wir sind im Krieg. Nein, sind wir nicht. Doch! Nein! Doch! Nein! Doch! | |
[1][Seit 7 Monaten herrscht Krieg in Europa] und die deutsche Regierung | |
benimmt sich als sei sie der britische Kellner [2][im Sketch „The Germans“ | |
von 1975], in dem der Monthy-Python-Gründer John Cleese seine Kollegin vor | |
den deutschen Gästen warnt: „Don’t mention the war.“ Sonst eskaliere die | |
Situation. | |
Seit dem 24. Februar heißt es seitens der Regierung: Bloß nicht eskalieren. | |
Kühlen Kopf bewahren und alles tun, damit es so aussieht, als seien wir | |
bloß unbeteiligte Passanten, die an dem Krieg in der Ukraine vorbeilaufen | |
wie an einem Obdachlosen in der Innenstadt – mal mit, mal ohne ihm ein paar | |
Cent in die Pappschachtel zu schmeißen. Also alles tun, damit [3][Putin] | |
sich nicht über uns ärgert und die Atombombe schmeißt. Dazu gehört, dass | |
die Bundesregierung nicht sagen darf, dass wir uns im Krieg mit Russland | |
befinden. Vergangene Woche aber ist es passiert. Gesundheitsminister Karl | |
Lauterbach hat „Krieg“ gesagt. Genauer: [4][„Wir sind im Krieg mit Putin | |
und nicht seine Psychotherapeuten.“] Und es gab ein Donnerwetter. Twitter | |
eskalierte. | |
## Ganz eindeutig | |
[5][Gaspipelines werden in die Luft gejagt] (Täter unklar), | |
[6][Atomkraftwerke werden beschossen] (Täter ziemlich klar), man rät uns, | |
sich an Worten zu wärmen statt an der Heizung (die Bundesregierung) – | |
natürlich sind wir, ist Europa, und damit auch Deutschland, im Krieg. Kaum | |
einem Bewohner dieses Kontinents, der regelmäßig seinen Briefkasten leert, | |
dürfte das entgangen sei. Die Post vom Gasversorger ist eindeutig. | |
Gut, immerhin, anders als in Russland wandert man in Deutschland nicht 15 | |
Jahre in den Knast, wenn man doch mal aus Versehen Krieg sagt. Lauterbach | |
wurde von Verteidigungsministerin Christine Lambrecht lediglich gerüffelt | |
und nahm seine Aussage zurück: „Wir sind nicht im Krieg.“ Die Ministerin | |
habe recht, korrigierte er sich: „Wir sind keine Kriegspartei.“ | |
Dass sich die Nato darauf geeinigt habe, nicht „Kriegspartei“ zu werden, | |
ist seit Beginn des Krieges der Carglass-Jingle der Bundesregierung. Mit | |
der ständigen Debatte darum, wann und wann nicht man „Kriegspartei“ sei und | |
es keinesfalls werden wolle, wird suggeriert, man halte sich an Gesetze. | |
Was genau aber unter diesem Rechtsbegriff aus dem Völkerrecht zu verstehen | |
ist, ist selbst unter Experten umstritten. | |
Unumstritten ist, dass nach dem Völkerrecht jeder Staat das Recht hat, | |
einen angegriffenen Staat zu unterstützen. Die Frage allerdings ist: Wo | |
endet Unterstützung, wo beginnt Angriff? Zwar ist nachvollziehbar, dass man | |
in einem Krieg keine unnötigen Fehler machen möchte. Doch abgesehen davon, | |
dass ein Krieg nie gerecht ist, jede Waffe auch gegen Unschuldige | |
eingesetzt werden kann und unkalkulierbare Dynamiken entstehen – das Zögern | |
Deutschlands konnte angesichts der Waffenlieferungen und Bekundungen | |
(„Putin muss verlieren“) anderer Nato-Staaten als russlandfreundlich | |
gedeutet werden. | |
## Flurschäden und Prüfungen | |
Wer als Deutsche in diesem Kriegssommer Urlaub in anderen Nato-Ländern von | |
Lettland bis Kroatien machte, konnte die Frage: „Na, wann knickt Scholz | |
gegenüber Putin ein?“ überall hören. Was allein dieses anfängliche deutsc… | |
Nichtparteiseinwollen an Flurschaden angerichtet hat, wird sich frühestens | |
nach dem Ende dieses Krieges beziffern lassen. | |
Wahrscheinlicher aber als die Russlandfreundschaft der deutschen Regierung | |
sind protestantischer Eifer und die schiere Angst, bloß nichts falsch zu | |
machen und deswegen anfangs sogar wochenlang prüfen zu lassen, ob die | |
Auslieferung von Helmen und Verbandskästen zu Problemen führen könnte. | |
Hinzu kam ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages, | |
das sich auf den Völkerrechtler Pierre Thielbörger bezog und konstatierte, | |
die Ausbildung der Konfliktpartei an Waffen mache Deutschland zur | |
Kriegspartei. | |
Das hingegen bestritt der Völkerrechtler Stefan Talmon und betonte, dass | |
selbst, wenn Deutschland dem Völkerrecht nach aus irgendwelchen Grünen als | |
„Kriegspartei“ eingestuft werden könnte, aus diesem Status noch lange kein | |
Recht auf Gewaltanwendung gegen Deutschland erwachse. Die Debatte um den | |
Status Kriegspartei führe in die Irre, sagte Talmon schon im Mai. Es sei | |
eine politische Entscheidung, ob und mit welchen Mitteln man die Ukraine | |
unterstütze. Das Völkerrecht solle dafür nicht „missbraucht“ werden. | |
## Angst vor dem Teufel | |
Sicher, auch Putin dürfte unterschiedliche Auslegungen des Völkerrechts | |
vorgelegt bekommen und sich die Interpretation raussuchen, auf die er Bock | |
hat. Ob er sich davon beeindrucken lässt, dass Herr Lauterbach öffentlich | |
widerrufen hat, im Krieg mit Putin zu sein? Eher nicht. Putin dürfte genau | |
wissen, dass so wie er selbst auch die Bundesregierung sowie die gesamte | |
Nato blufft. Natürlich weiß er, dass man ihn am liebsten zum Teufel | |
schicken würde. Allein aus Angst davor, er selbst könnte der Teufel sein, | |
macht man es nicht. | |
Mit dieser Angst spielt er. Und sie verfängt. Je näher die Ukraine ihrem | |
Ziel kommt, die Besatzer von ihrem Territorium zu vertreiben, umso heftiger | |
werden die Absetzbewegungen. Aus Panik vor der Reaktion Putins im Falle | |
einer Niederlage wird der Ruf nach Einfrieren des Krieges immer lauter. | |
Ausgerechnet jetzt. Das ist bei allem Risiko absurd. Zwar lässt inzwischen | |
auch US-Präsident Biden offen wissen, dass die Drohungen Putins ernst zu | |
nehmen seien und dass alles getan werde, um Putin Möglichkeiten zu | |
schaffen, gesichtswahrend aus der Scheiße zu kommen. Von einem Einfrieren | |
des Krieges aber spricht Biden keineswegs. | |
Im Gegenteil. Während man hierzulande Angst hat, dass der | |
Gesundheitsminister wegen eines Wortes den dritten Weltkrieg auslöst, lässt | |
das Weiße Haus den ehemaligen CIA-Chef David Petraeus unwidersprochen | |
sagen, dass die USA im Falle eines Einsatzes von atomaren Waffen die | |
russische Armee wohl in Schutt und Asche ballern würde. | |
Man kann es auch als Good-Cop-bad-Cop-Spiel interpretieren: In Deutschland | |
hält man sich nun mal an die Gesetze und spielt lieber Schiedsrichter als | |
Säbelrassler. Die öffentlichen Aussagen der Bundesregierung kann man aber | |
auch als Beweis dafür nehmen, dass von Zeitenwende trotz einiger | |
Waffenlieferungen nichts zu merken ist. Justizminister Marco Buschmann | |
erläuterte in einem Interview mit dem Westfalen-Blatt: „Wir dürfen keine | |
Zeit verlieren, denn bei Kriegsverbrechen sind die Menschen in der Regel | |
traumatisiert … Wichtige Informationen werden dann nicht mehr erinnert. | |
Deswegen drängt die Zeit bei der Sammlung und Sicherung von Beweisen.“ | |
Zeitenwende wäre, hätte der Minister gesagt: Wir dürfen keine Zeit | |
verlieren, Kriegsverbrechen zu verhindern. | |
Wir sind im Krieg. Dass die deutsche Bundesregierung da mittels Wording | |
bluffen will, fair enough. Neben der Kampfbereitschaft der Ukraine scheint | |
der Bluff zur kriegsentscheidenden Frage geworden zu sein. Wer den längeren | |
Atem beim Bluffen hat, gewinnt. | |
7 Oct 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150 | |
[2] https://www.youtube.com/watch?v=RyPj21jBl_0 | |
[3] /Wladimir-Putin-wird-70-Jahre-alt/!5886449 | |
[4] https://twitter.com/Karl_Lauterbach/status/1576185549227958273 | |
[5] /Pipeline-Lecks-in-der-Ostsee/!5885112 | |
[6] /Ukrainisches-AKW-unter-Beschuss/!5870581 | |
## AUTOREN | |
Doris Akrap | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Bundesregierung | |
Karl Lauterbach | |
Energiekrise | |
Kolumne Geraschel | |
Russland | |
Schlagloch | |
Ukraine | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Die allgemeine Bedrohungslage: Meine kritische Infrastruktur | |
Nun also doch noch Corona – die Infektion fühlte sich zunächst an wie ein | |
Luftangriff. Und dann doch eher wie Kernschmelze im AKW Isar 2. | |
Facebook-Konzern in Russland: Meta auf der Terrorliste | |
Seit März sind Facebook und Instagram in Russland verboten. Nun hat Moskau | |
den dazugehörigen Konzern als „terroristische Organisation“ eingestuft. | |
Vom Wert der Besonnenheit: Kraftmeier und Leisetreter | |
Empört euch nicht nur! Vom Vorteil des Linksliberalismus für das Leben – | |
vorgelebt vom Anführer der österreichischen Sozialisten im 19. Jahrhundert. | |
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++: Putin schweigt zur Brücken-Explosion | |
Teile des Bauwerks sind am Samstagmorgen eingestürzt, in der Ukraine wird | |
die Zerstörung bejubelt. In Cherson bereitet man Evakuierungen vor. |