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# taz.de -- Lage in den Krankenhäusern: Arbeiten bis zur Erschöpfung
> Fehlendes Personal und immer mehr Coronapatient:innen – nicht nur
> in München arbeiten die Kliniken nach dem Oktoberfest am Limit.
Bild: München, Anfang des Monats: Das Oktoberfest war ein Brandbeschleuniger f…
Berlin taz | Es reicht ein einziger Tropfen“, sagt die Notfallmedizinerin
Viktoria Bogner-Flatz, „um das System Krankenhaus über die Belastungsgrenze
zu bringen.“ In München war es, um im Bild zu bleiben, gleich ein ganzer
Maßkrug voll. Jetzt, 10 Tage nach Ende des Oktoberfests, ist die
Überlastung in den Krankenhäusern so hoch, dass Bogner-Flatz von einem
„neuen Tiefpunkt in der gesamten Pandemie“ spricht.
„Das [1][Oktoberfest] war wie ein Brandbeschleuniger“, sagen sie und ihr
Kollege Dominik Hinzmann, beide sind ärztliche Leiter der Rettungsdienste
und Krankenhauskoordination in München. Aber das Phänomen ist in vielen
Kliniken in ganz Deutschland das gleiche: Mit dem frühen Beginn der
Herbst-Winter-Krankheitswelle sind sie schon jetzt, Anfang Oktober, am
Limit. Dazu kommt die existenzielle Bedrohung durch die Preissteigerungen
in fast allen Bereichen. Und so zeichnet auch der Präsident der Deutschen
Krankenhausgesellschaft, (DKG) Gerald Gaß, ein düsteres Bild: „Die Stimmung
in den Kliniken ist so schlimm wie noch nie.“
In München hat der Betriebsrat einer Klinik diese Woche in einem Brandbrief
von einem Sicherheitsrisiko für Patient:innen und
Mitarbeiter:innen gesprochen. Die Zahl der coronapositiven
Patient:innen hat sich dort binnen drei Wochen mehr als verdreifacht.
Ein Münchner-Oktoberfest-Phänomen werde das aber nicht bleiben, sagt auch
DKG-Präsident Gaß.
Jahreshöchstwert an Corona-Patient:innen
In ganz Deutschland gebe es Steigerungsraten bei der Bettenbelegung
zwischen 40 und 60 Prozent pro Woche. Es sei abzusehen, dass in der
kommenden Woche der bisherige Jahreshöchstwert an Covid-19-Patient:innen
überschritten werde. „Wir haben schon jetzt eine Vielzahl von Kliniken, die
sich wegen Überlastung zeitweise von der Notfallversorgung abmelden“, sagt
Gaß.
Was die hohen Infektionszahlen genau für die Kliniken bedeutet, erklären
Bogner-Flatz und Hinzmann. „Dank Impfung und milderen Varianten sehen wir
nicht mehr diese katastrophalen Verläufe, bei denen Menschen in wenigen
Stunden sterben.“ Sehr schwere Verläufe gebe es fast nur noch bei Menschen
mit multiplen Vorerkrankungen und Ungeimpften.
So sei die Angst vor Corona, die in den ersten Wellen den Umgang mit der
Infektion beherrschte, auch beim Personal gewichen. Es gibt eine
Corona-Normalität in den Krankenhäusern. Und trotzdem: Jede:r Patient:in,
die mit einer Covid-19-Infektion im Krankenhaus liegt, bedeutet: Isolation,
Arbeiten im Vollschutz, rund 90 Minuten zusätzlicher pflegerischer Aufwand
pro Tag und Patient:in. „Deshalb ist es auch egal, ob die Menschen mit oder
wegen Corona ins Krankenhaus kommen“, sagt Bogner-Flatz.
Dazu kommen enorme Ausfälle durch Corona- und andere Infektionen beim
Personal. „Wir sehen Abteilungen, in denen hundert Prozent des Personals
ausfällt“, erzählen Hinzmann und Bogner-Flatz. Wo in vergangenen Wellen
eine Personalverschiebung zwischen Abteilungen Engpässe recht gut auffangen
konnte, ist nach fast drei Jahren Pandemie und zahlreichen
[2][Überlastungskündigungen] auch das kaum mehr möglich.
Die, die noch da sind, arbeiten bis zur Erschöpfung. „Ich werde angerufen,
weil der Kollege im Dienst kollabiert ist“, sagt Bogner-Flatz, die auch
Chefin der Notaufnahme einer Klinik bei München ist. „Wir schauen jeden Tag
und jede Nacht in den Abgrund, dass Menschen Schaden nehmen könnten, weil
wir zu wenig Personal haben.“
In seinem Brandbrief forderte der Betriebsrat der Münchner Klinik, alle
verschiebbaren Behandlungen vorerst abzusagen. Eine Praxis der „stillen
Triage“, die die Kliniken schon durch weite Teile der Pandemie begleitet
hat. „Wir verschieben in eine Zeit, von der wir auch nicht wissen, ob es
besser sein wird und in der der verschobene Patient dann vielleicht selbst
zum Notfall wird“, so Hinzmann. Nicht noch einmal wollten sie so viele
Herzinfarkte und schwere Tumorverläufe sehen wie nach der Absage fast aller
Behandlungen und Untersuchungen in der 1. und 2. Corona-Welle.
Als wäre das alles nicht dramatisch genug, gibt es auch noch den Krieg in
der Ukraine und seine Folgen: Energiekrise, Inflation, Beschaffungskrise.
Sie spürten etwa in den Notfallaufnahmen, dass gewisse Medikamente und
Materialien nicht mehr verfügbar sind, sagt Mediziner Hinzmann. „Aber wir
sind froh, dass wir nicht auch noch den Taschenrechner rausholen müssen.“
Das ist dann wohl der Job von Gerald Gaß. Um 6 bis 8 Prozent seien die
laufenden Kosten der Krankenhäuser gestiegen, so der Präsident der
Deutschen Krankenhausgesellschaft. Nur ein Drittel davon betreffe Energie,
der Rest die allgemeinen Sachkosten – Lebensmittel, Medizinprodukte,
Dienstleistungen. In dem gesetzlich vorgegebenen Finanzierungssystem, bei
dem Fallpauschalen bereits vorab verhandelt werden, sind aber nur
Kostensteigerungen bis 2,3 Prozent gesichert. So entstünden bereits in
diesem Jahr 5 Milliarden Euro ungedeckte Kosten.
„Die Lage wird schon im November dramatisch, weil viele Kliniken nicht
wissen, wie sie das tarifvertraglich zugesicherte Weihnachtsgeld auszahlen
sollen“, sagt Gaß. Das würde bedeuten: Insolvenzantragspflicht. Viele
Krankenhäuser hätten schon im August Liquiditätsprobleme gemeldet, aktuell
schrieben bereits über 60 Prozent der Kliniken rote Zahlen.
Das 200-Milliarden-Euro-Hilfspaket der Bundesregierung soll Privatpersonen
und Unternehmen durch diese Krise helfen. Vergangenen Montag hatte die
Expert:innenkommission Gas und Wärme einen Vorschlag zur Verteilung
vorgelegt. Der darin vorgesehene Hilfsfonds für Krankenhäuser und andere
soziale Einrichtungen reiche überhaupt nicht aus, schließlich betreffe er
nur die Energiekosten, sagt Gaß.
Zu wenig Personal, zu wenig Geld
Alle Hoffnung ruht also auf einem Hilfspaket speziell für die
Krankenhäuser, das Gesundheitsminister Karl Lauterbach schon vor einem
Monat versprochen hat. Er sei dazu auch mit der Krankenhausgesellschaft und
deren Präsidenten in engem Austausch und es werde „rechtzeitig“ eine Lösu…
geben, sagte Lauterbach am Mittwoch bei einer Befragung im Bundestag.
In den letzten 14 Tagen habe es keine Rückmeldung und kein Gesprächsangebot
dazu vom Gesundheitsminister gegeben, sagt dagegen Gaß. „Im Moment sind die
Krankenhäuser auf sich allein gestellt.“ Als schnelle Lösung fordert die
Krankenhausgesellschaft einen Aufschlag von 4 Prozent auf alle Rechnungen,
die die Krankenhäuser an die Krankenkassen stellen. Wobei dann deren
bereits milliardenschwere Unterfinanzierung noch weiter anwächst.
Zu wenig Personal, zu wenig Geld – eine Hoffnung auf wirkliche Verbesserung
der desolaten Lage der Krankenhäuser geben nur grundlegende Reformen in der
Finanzierung und Struktur. Die waren schon vor der Pandemie geplant, jetzt
hat der Koalitionsvertrag wieder Hoffnung darauf gemacht, und Lauterbach
versprach am Mittwoch, schon bald Gesetzentwürfe dazu vorzulegen. Aber auch
da gebe es keinen Dialog zwischen Bundesgesundheitsministerium,
Krankenhäusern und [3][Bundesländern], mahnt Gaß.
Dabei könnten gute Lösungen nur im Konsens gefunden werden. „Das Ziel muss
es jetzt sein, wieder Leute zu gewinnen für einen der schönsten und
sinnstiftendesten Berufe überhaupt – auch wenn uns das erst in zwei, drei
Jahren entlasten wird, aber dann werden wir es umso mehr brauchen“, sagen
die Praktiker:innen aus der bayrischen Notfallmedizin.
Bis dahin werden Herbst und Winter noch lang, in Sachen Energiekrise und in
Sachen Corona. „Wir stehen gerade erst am Anfang einer Infektwelle“, so
Hinzmann und Bogner-Flatz in München. Wenn es noch schlimmer komme, müssten
die Behandlungsstandards noch weiter abgesenkt werden. „Es geht nur noch um
Schadensbegrenzung“, sagt Notfallmedizinerin Viktoria Bogner-Flatz.
13 Oct 2022
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## AUTOREN
Manuela Heim
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