| # taz.de -- Flucht aus der Ukraine: Nächster Halt Wohnungssuche | |
| > Zhenya W. floh mit ihrem Sohn aus der Ukraine. Zuerst wollte sie gar | |
| > nicht im neuen Land ankommen – jetzt sucht sie nach einer eigenen Bleibe. | |
| Bild: Zhenya W. mit ihrem Sohn und einem weiteren Kind am Bahnsteig Panketal | |
| Es ist schwer, mit Zhenya Schritt zu halten. „Je mehr ich laufe, desto | |
| schneller werde ich auch“, lacht sie, während die Einfamilienhäuser nur so | |
| vorübersausen. „Mama“, mault es von weiter hinten. „Wir müssen uns | |
| beeilen“, fordert Zhenya ihren achtjährigen Sohn auf, der sich mit | |
| trotziger Miene immer weiter zurückfallen lässt. „Unsere S-Bahn geht in | |
| fünf Minuten“, sagt sie nachdrücklich und legt noch einen Zahn zu. | |
| Zhenya und Yeghor wollen nach Bernau, zum Schwimmkurs für ukrainische | |
| Kinder, der schon seit drei Wochen läuft. Die Sommerferien gehen zu Ende, | |
| in wenigen Tagen will Yeghor sein Seepferdchen machen. Nach den Ferien | |
| kommt er in die dritte Klasse und hat wie viele Brandenburger Kinder zum | |
| ersten Mal Schwimmunterricht. Da will er sich nicht als Nichtschwimmer | |
| blamieren. | |
| Ein halbes Jahr ist es nun her, dass ich Zhenya W. zum ersten Mal für diese | |
| Zeitung interviewt habe. Damals erzählte sie viel vom Beginn des russischen | |
| Angriffs auf die Ukraine und ihrer überstürzten Flucht Anfang März aus | |
| Mykolajiw im Süden der Ukraine zwischen Odessa und Cherson – und von ihrer | |
| Ankunft in Deutschland. | |
| ## Aufnahme in Panketal | |
| Aufgenommen wurde sie von einer Familie mit zwei Kindern in der | |
| Brandenburger Gemeinde Panketal bei Berlin, dort wohnt sie seitdem im | |
| kleinen Gästezimmer des großen Hauses mit Garten. Zhenya war dankbar, doch | |
| voller Zweifel, was sie in Deutschland anfangen soll. Sie dachte auch viel | |
| darüber nach, wie es mit Yeghor weitergehen soll – und machte mit ihm | |
| Deutschlektionen und gleichzeitig den Online-Schulunterricht aus der | |
| Ukraine. | |
| Zu Hause hat Zhenya als Englischlehrerin gearbeitet, aber ohne | |
| Deutschkenntnisse ist es trotz Lehrermangel in und um Berlin schwer, einen | |
| Job zu finden. Das weiß sie, und deswegen lernte sie auch selbst von Anfang | |
| an täglich mehrere Stunden Deutsch. Ihr Mann ist wie viele aus der | |
| Hafenstadt Mykolajiw Schiffbauer, er arbeitete schon lang vor dem Ausbruch | |
| des Kriegs auf einer Werft in Finnland und im Moment ist auf einer Werft in | |
| Frankreich. | |
| Die Flucht mit Kind hat sie allein geschafft. Zhenya ist es gewohnt, die | |
| Dinge selbst durchzufechten. In den ersten Wochen nach ihrer Ankunft in | |
| Deutschland nahm sie kein Blatt vor den Mund, wenn ihr das Warten auf den | |
| Aufenthaltstitel zu lang erschien, das deutsche Gesundheitssystem zu | |
| menschenfeindlich, die Kontogebühren zu hoch – auch dann nicht, wenn sie | |
| dafür manchmal komische Blicke einfing. | |
| Doch dann kam der Mai, Yeghor wurde eingeschult, in eine von zwei | |
| Willkommensklassen in der Grundschule Zepernick in Panketal. Er fand neue | |
| ukrainische und deutsche Freunde, lernte schneller Deutsch als die meisten | |
| Erwachsenen, fühlte sich immer wohler. Zhenya fand einen Platz in einem | |
| Integrationskurs, und sie sprach immer vorsichtiger von ihrem Wunsch, in | |
| die Ukraine zurückzukehren. | |
| Für die Fahrt zum Schwimmkurs haben sich Zhenya und Yeghor mit einem | |
| ukrainischen Vater samt Tochter auf dem Bahnsteig verabredet, zwei weitere | |
| Frauen mit Kindern im Alter von Yeghor begrüßt sie ihm ersten Waggon der | |
| S-Bahn nach Bernau. Sie wirkt weniger getrieben als noch vor ein paar | |
| Wochen, plaudert entspannt mit allen gleichzeitig, reicht zwischendurch | |
| ihrem Sohn ein Bonbon. Doch dann kommt sie auf ihre neueste Baustelle zu | |
| sprechen. Im Juli hat sie in der Ausländerbehörde in Eberswalde nach vier | |
| Monaten Wartezeit den Aufenthaltstitel erhalten, eine große Hürde. Voller | |
| Schwung hat sie sich in die Wohnungssuche gestürzt. | |
| Und während sie davon berichtet, ist sie plötzlich wieder die alte Zhenya, | |
| die ungeduldige, die konfliktstarke, die energische Zhenya. Sie mag die | |
| Familie, bei der sie wohnt, sie haben viel zusammen unternommen. Die | |
| Tochter der Gastgeber betrachtet Yeghor inzwischen fast als so etwas wie | |
| ihren zweiten Bruder, sagt sie. „Ich brauche trotzdem was Eigenes“, führt | |
| sie an. „Ich finde das Gefühl schlimm, jemandem zur Last zu fallen.“ | |
| Inzwischen hat Zhenya mithilfe ihrer deutschen Gastgeberin alle | |
| Wohnungsbaugesellschaften im Landkreis Barnim, zu dem Panketal gehört, | |
| angeschrieben, und überall ist sie persönlich aufgetaucht in der Hoffnung, | |
| den Vorgang zu beschleunigen – aber ohne Erfolg. Sie kann es nicht | |
| verstehen, warum es in einem reichen Land wie Deutschland so wenig | |
| bezahlbaren Wohnraum gibt. Dass niemand noch vor wenigen Jahren damit | |
| gerechnet habe, dass Deutschland so schnell wachsen würde? Nun ist es aber | |
| so! Dass viele Bauprojekte nicht vorankommen, weil die Baukosten explodiert | |
| sind? Dann muss es eben staatliche Unterstützung geben! | |
| „Wer in der Ukraine eine Wohnung will, der bekommt sie auch“, sagt Zhenya | |
| selbstbewusst. Und dann, nach kurzem Zögern: „Kann es sein, dass deutsche | |
| Vermieter grundsätzlich nicht an Ukrainer vermieten?“ Es ist, als seien die | |
| Hindernisse in den Wochen nach ihrer Ankunft in Deutschland ein Klacks | |
| gewesen im Vergleich zu jenen, die sie jetzt nehmen muss. Sie ist in einer | |
| neuen Wartehalle angelangt. | |
| ## Schwere Wohnungssuche | |
| Der Landkreis Barnim gehört zum Speckgürtel Berlins, hier eine Wohnung zu | |
| finden ist genauso schwer wie in Berlins Innenstadt. Und im angrenzenden | |
| Berliner Stadtteil Buch, wo es etwas mehr Sozialwohnungen gibt, darf Zhenya | |
| nicht suchen, weil sie vom Ausländeramt eine Wohnsitzzuweisung in | |
| Brandenburg hat. Und weiter raus? | |
| Viele Panketaler sind im März einfach zum Berliner Hauptbahnhof gefahren | |
| und haben sich Geflüchtete zu sich ins Haus geholt, die sie nie zuvor | |
| gesehen haben, sie organisieren seit März unermüdlich Familienfeste, | |
| Konzerte oder Sportevents für sie, tauschen über eine WhatsApp-Gruppe | |
| gebrauchte Fahrräder und Spielsachen, Möbel und Tipps für den Umgang mit | |
| den Ämtern für sie. Ohne Menschen wie diese Panketaler wäre die Stadt mit | |
| den vielen Geflüchteten nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine heillos | |
| überfordert gewesen. | |
| Andere Panketaler betrachten die Ankunft der Ukrainer*innen in ihrer | |
| kleinen Gemeinde allerdings auch skeptisch. Nicht wenige haben kleine | |
| Ostrenten und finden, dass den Geflohenen mehr geholfen wird als ihnen | |
| selbst. Oder sie glauben Russland und Putin besser zu verstehen als der | |
| Westen, weil sie Russisch gelernt haben. Auch deswegen möchte Zhenya nicht | |
| unbedingt noch weiter raus nach Brandenburg, wo es zwar mehr Wohnungen | |
| gibt, aber auch mehr Leute, die etwas gegen Ukrainer haben. | |
| Inzwischen sind Zhenya, Yeghor und die anderen ukrainischen Mitreisenden im | |
| Freibad Waldfrieden Bernau eingetrudelt, der Blick schweift über Kiefern | |
| und über die ehemalige Bundesschule des Allgemeinen Deutschen | |
| Gewerkschaftsbundes gegenüber, ein beeindruckend luftiges Bauhaus-Denkmal. | |
| Die Bademeister*innen haben den ukrainischen Eltern Stühle | |
| rausgestellt und Kaffee gekocht. „Das ist mehr als nett“, sagt Zhenya. „Je | |
| länger wir hier sind, desto mehr mögen wir es.“ | |
| „Vieles hier ist toll“, steigert sie sich noch und schwärmt vom deutschen | |
| Sommer, der nicht so schwül sei wie zu Hause in Mykolajiw, von der privaten | |
| Hilfsbereitschaft der Deutschen, der finanziellen Unterstützung durch die | |
| Regierung. Trotzdem. Zhenya hat in der Ukraine alles stehen und liegen | |
| lassen. Auf der Flucht wurden sie von einem russischen Militärfahrzeug | |
| verfolgt. Sie hat aus dem Autofenster zerfetzte Leichen auf der Straße | |
| gesehen. Wer so etwas erlebt hat, der sollte so schnell wie möglich | |
| irgendwo ankommen dürfen und nicht sofort wieder entwurzelt werden, findet | |
| sie und zeigt auf ihrem Handy ein paar Fotos von ihrem ukrainischen | |
| Zuhause. Auf allen ist mehr von Yeghor zu sehen als vom schicken Wohnzimmer | |
| dahinter und vom Garten um ihn herum. | |
| Vor wenigen Monaten hatte sie noch davon gesprochen, so schnell wie möglich | |
| zurück zu wollen in die Ukraine. Aber in Mykolajiw herrscht immer noch | |
| Krieg. Sie traut sich nicht einmal, ihre Mutter zu bitten nach dem Haus zu | |
| sehen, das leer steht seit ihrer Flucht. „Ich liebe mein Haus, ich habe es | |
| von meiner Großmutter geerbt und habe solche Angst, dass es bald ruiniert | |
| sein wird.“ Aber der Weg von der Wohnung der Mutter zum Haus sei zu | |
| gefährlich. Und das sei so jeden Tag, seit sieben Monaten, sagt sie. | |
| Zhenya braucht einfach eine Wohnung in Deutschland, in der sie sich | |
| einrichten und für die Yeghor nicht noch einmal alles stehen und liegen | |
| lassen muss. | |
| 10 Tage nach der Schwimmstunde in Bernau sitzt Zhenya mit einer | |
| befreundeten Familie aus der Nachbarschaft im Auto nach Bad Freienwalde, | |
| einem pittoresken Kurstädtchen 50 Autominuten nordöstlich von Panketal, das | |
| seit der Wende schrumpft. Mit der Bahn würde die Reise fast doppelt so lang | |
| dauern, die Anbindung ist schlecht. | |
| Die Wohnungen dort in ehemaligen Mannschaftsunterkünften der Wehrmacht aber | |
| gefallen Zhenya. Sie sind hell, ruhig, günstig, die Nachbarn wirken nett. | |
| Die Wohnungsverwaltung zeigt gleich drei Wohnungen, sie sucht händeringend | |
| nach Mieter*innen. Es gibt sogar einen Bus ins Stadtzentrum. Die | |
| Grundschulen im Ort wirken beschaulich, es gibt genug | |
| Einkaufsmöglichkeiten, auch nette Cafés und eine Kurklinik mit Park und | |
| Heilquelle. „Ich hab es mir ehrlich gesagt schlimmer vorgestellt“, sagt | |
| Zhenya. | |
| Aber was soll mit Yeghor werden? Was mit ihrem Integrationskurs, in dem sie | |
| nur mühevoll einen Platz ergattert hat? In Bad Freienwalde gibt es noch | |
| keine Integrationskurse. Zhenya weiß nicht, ob sie sich auf die Wohnung | |
| bewerben wird. | |
| 28 Sep 2022 | |
| ## AUTOREN | |
| Susanne Messmer | |
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