| # taz.de -- Deutsche Bürokratie: Die 7-Cent-Katastrophe | |
| > Ich dachte, der Brief von den Stadtwerken mit der Jahresabrechnung wäre | |
| > nicht weiter wichtig. Aber da habe ich mich gründlich geirrt. | |
| Bild: Behörden sind so sensibel wie unerbittlich: Wehe, wenn Sand ins Getriebe… | |
| Meine Frau Eminanim wühlt im Papierkorb herum und fischt einen Zettel | |
| heraus. Dann schaut sie mich wütend an:„Osman, was ist das denn hier?“, | |
| zischt sie. | |
| „Das ist Abfall“, kann ich nicht sagen. Dann wird sie nämlich noch | |
| wütender. Ich versuche von Weitem herauszubekommen, was für einen Zettel | |
| sie da in der Hand hält. Habe ich etwa aus Versehen unsere Heiratsurkunde | |
| in den Müll geschmissen? Weil ich immer noch doof durch die Gegend gucke, | |
| beantwortet sie ihre Frage selber:„Das ist die Jahresabrechnung von den | |
| Stadtwerken, Osman. Hier steht, dass wir unser Guthaben vom letzten Jahr | |
| sofort abholen sollen.“ | |
| „Ach so, das meinst du“, rufe ich erleichtert. „Ich weiß, wir haben ganze | |
| sieben Cent Guthaben. Die Leute würden mich ja auslachen, wenn ich bei der | |
| Bank einen Scheck über sieben Cent einlösen will.“ | |
| „Es geht nicht um sieben Cent. Es geht ums Prinzip! Durch das Nichtabholen | |
| des Guthabens blockierst du die ganze deutsche Bürokratie. Du weißt doch, | |
| was mit Hasans Familie damals passiert ist? Die wurde wegen irgendeiner | |
| Geschichte von 14 Cent brutal ausgewiesen.“ | |
| Jetzt erst fange ich an, den Ernst der Lage zu kapieren. „Osman, wie kannst | |
| du nur mit der Zukunft meiner Kinder spielen? Was für ein Rabenvater bist | |
| du eigentlich?“ Ich sage nichts. Ich bin mir meiner Schuld bewusst! | |
| „Woher nimmst du dir eigentlich das Recht, das gesamte Computersystem der | |
| Bremer Stadtverwaltung zu blockieren? Die ganzen Verwaltungen hängen doch | |
| zusammen. Wenn du eine Stelle blockierst, bleiben die anderen auch stehen! | |
| In ganz Deutschland!“ | |
| „Das alles wegen meiner sieben Cent?“, frage ich zaghaft. | |
| „Klar! Hier steht, dass heute der letzte Tag für die Abholung ist. Also | |
| beeil’ dich! Los! Los!“ | |
| Ich renne sofort nach draußen und halte ein Taxi.„Fahren Sie so schnell Sie | |
| können zur Bank! Es geht um Leben und Tod!“, brülle ich außer Atem. | |
| So was werde ich nie wieder einem Taxifahrer sagen. Grün wie ein Frosch | |
| steige ich nach einer Kamikazefahrt aus dem Auto und schmeiße mich mit | |
| voller Kraft gegen die Tür der Bank – aber sie öffnet sich nicht. Ich bin | |
| genau zwei Minuten zu spät gekommen. Ich trommele mit beiden Fäusten auf | |
| der Tür rum und schreie wie wild: | |
| „Ich will meine sieben Cent! Bitte, bitte, ich will meine sieben Cent!“ | |
| Doch alles umsonst. Ich fahre total enttäuscht wieder zurück. Aus dem Taxi | |
| beobachte ich, wie Deutschland langsam aber sicher in Schutt und Asche | |
| fällt. Die sieben Cent zeigen ihre katastrophale Wirkung. Alle Ampeln | |
| spielen verrückt. Rechts und links sehe ich einen Unfall nach dem anderen. | |
| Der Himmel bewölkt sich. Die Häuser zerfallen, die Arbeitslosen werden | |
| immer mehr und Friedrich Merz wird zum Kanzler gewählt. Vermutlich sitzt | |
| Eminanim schon mit den Kindern im Abschiebe-Flugzeug nach Istanbul. | |
| Bei Allah, was habe ich nur getan? | |
| 26 Oct 2022 | |
| ## AUTOREN | |
| Osman Engin | |
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